Für viele eine überraschende Preisvergabe – aber die Beschäftigung mit diesem Autor lohnt sich –  Reinhard Jirgls Bücher natürlich bei literaturkurier.net

Für so manchen, der einmal ein Buch von Reinhard Jirgls enttäuscht aus der Hand gelegt hat, vor allem aber für jene, die schön früh die unglaublichen sprachlichen Fähigkeiten dieses Autor bewundert hat – für beide Gruppen ist dieser Preis ein Signal zum Wiederlesen; aber auch für jene für die Reinhard Jirgl etwas wie ein weißer Fleck auf der Landkarte ist.

Mit seinen jetzt 57 Jahren ist er ein „Kind“ beider deutscher Staaten. Aber wenn man seine Bücher liest, merkt man bald, dass seine Sprache seismographisch ganz andere Schwerpunkte festhält, als die der OST/West Problematik.

Bereits 1971-1975 (also noch in der „DDR“) gab es für seine schriftstellerische Entwicklung entscheidende Impulse im Köpenicker Lyrikseminar. Hier trafen sich Autoren, die ihre Manuskripte vorstellten und unter Beratung des Dichterpaars Ulrich Grasnick und Charlotte Grasnick mit großer Intensität an ihren Texten arbeiteten. Zu diesem Lyrikkreis gehörten u. a. Benjamin Stein, Monika Helmecke, Fritz Leverenz, Elisabeth Hackel, Andreas Diehl, Michael Eric, Klaus Rahn. Reinhard Jirgl gehörte nie zu jener jüngeren Autorengeneration in der DDR, die während der 1980er Jahre vermehrt experimentelle Formen aufgriff;  auch wenn er lange Zeit nur für die Schublade schrieb.

Bei Reinhard Jirgl gilt, was für viel mehr junge Autoren gelten sollte. Sprache muss mit dem Leben wachsen! Heute gilt Jirgl als einer der wichtigsten und avanciertesten deutschen Autoren.

Aber zum Schreiben gehört auch das Lesen! Jirgl wurde nicht nur durch Heiner Müller maßgeblich gefördert. Im Gespräch benannte Jirgl u. a. Michel Foucault, Georges Bataille, Ernst Jünger und Carl Schmitt als wichtige Einflussgrößen einer „intellektuellen Gegenexistenz“ in der DDR, die sich in seiner Literatur niederschlug.

Nun folgt die heutige Mitteilung des Fachmagazins „Börsenblatt“:

“ Reinhard Jirgl erhält den Georg-Büchner-Preis 2010

Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung verleiht den mit 40.000 Euro dotierten Georg-Büchner-Preis 2010 an den Schriftsteller Reinhard Jirgl.

Reinhard Jirgl wurde am 16. Januar 1953 in Berlin (DDR) geboren. Er machte eine Lehre als Elektromechaniker und studierte danach ab 1971 Elektronik an der Berliner Humboldt-Universität. Noch während des Studiums begann er mit ersten Prosatexten. Ab 1975 arbeitete er als Ingenieur, gab seinen Beruf 1978 jedoch auf, um sich mehr dem Schreiben widmen zu können.

Seinen Unterhalt verdiente er als Beleuchtungs- und Servicetechniker an der Berliner Volksbühne. Als er 1985 sein erstes, umfangreiches Manuskript „Mutter Vater Roman“ beim Aufbau-Verlag Berlin einreichte, wurde ihm eine „nichtmarxistische Geschichtsauffassung“ vorgeworfen und die Veröffentlichung des Romans verweigert. Jirgl jedoch setzte das Schreiben in aller Heimlichkeit fort. Bis zur Wende 1989 lagen sechs fertige Manuskripte vor – ohne dass ein einziges Buch von ihm veröffentlicht worden wäre.

In der unmittelbaren Nachwende-Zeit 1990 konnte sein erstes Buch „Mutter Vater Roman“ in einem von Gerhard Wolf edierten Literaturprogramm beim Aufbau-Verlag erscheinen. Die entscheidende Änderung in der öffentlichen Wahrnehmung, auch seine persönliche Wende, wie Jirgl es beschreibt, kam schließlich 1993, als er für seinen Roman „Abschied von den Feinden“ mit dem Alfred-Döblin-Preis ausgezeichnet und Autor des Carl Hanser Verlags wurde, wo seitdem seine Bücher erscheinen.

1996 gab Jirgl die Tätigkeit als Techniker an der Berliner Volksbühne auf und arbeitet seitdem als freier Schriftsteller in Berlin.

Der Georg-Büchner-Preis wird Reinhard Jirgl auf der Herbsttagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung am 23. Oktober 2010 in Darmstadt verliehen.“


Grundsätzlich gilt Reinhard Jirgls Interesse in seinen sprachmächtigen Texten zuvorderst der Offenlegung jenes „homo homini lupus“, das sich hinter Sätzen, Wörtern und Zeichen verbirgt: den Machtverhältnissen, die etwa psychiatrische Befunde erlauben und hervorbringen. Die radikale Skepsis des Autors lässt Ausflüchte nicht zu, sie wendet sich fast solipsistisch einer kreatürlichen Leiblichkeit als ontologisch letzter Instanz zu und attackiert allfällige kollektivistische oder individualistische Sinn- bzw. Erlösungsversprechen. (Desen letzten Satz entnahm ich dem Jirgl-Text in der „Wikipedia“, als ich nach einer annähernd treffenden Beschreibung  von Reinhard Jirgls Sprache suchte.)


Übrigens: Der Georg-Büchner-Preis, auch Büchnerpreis genannt, ist der bedeutendste bundesdeutsche Literaturpreis.

Er wurde 1923, zu Zeiten der Weimarer Republik, vom Landtag des Volksstaates Hessen in Erinnerung an Georg Büchner gestiftet. Es ist also eine ganz besondere, höchste Ehre, die einem Autor verliehen werden kann.  Ich zähle hier nur mal die Preisträger seit 1980 auf:

# 1980: Christa Wolf (