Aphorismen und Notizen, Zitate zu Leben, Kunst, Literatur

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Solch ein Titel könnte auch auf einen Krimi hinweisen – und gewissermaßen ist es auch einer. Denn Harald Hartung lässt uns auch an seiner Gedankenreise von 1998 bis 2012 teilnehmen.

Aber da ist er auch erst sechsundsechzig Jahre alt! Sechsundsechzig Jahre sind doch noch kein Grund zum Klagen. Er beginnt dann auch mit Gedankensplittern, zunächst in Wien im März geschrieben..

Seine – gelegentlich scharfen – Gedankensplitter kann ich gut nachvollziehen: “Literaturhaus. Wieder einmal hat sich ein Kollege dafür bedankt, , dass man zu seiner Lesung kam. Noch sind die Autoren nicht dazu übergegangen, in ihre Bücher in gewissen Abständen einen Dank fürs Lesen einzufügen. Er müsste von Kapitel zu Kapitel länger und inniger werden.

[Ich wage dem hinzuzufügen, dass man sie womöglich fürs Lesen wird bezahlen müssen, um ihren Geisteszustand auf ein gewisses Level zu bringen. Aber ich bin ja auch schon siebenundsiebzig.]

Nein, in dieses Büchlein muss der Autor nicht seitenweise seinen Lese-Dank einfügen. Man folgt ihm gern durch die Monate und Jahre. Jedoch schon im nächsten Jahr notiert er etwas, was viele seiner Leser nachvollziehen können:

“Die ungeheure Verschwendung der Natur, die Gehirne wachsen und sterben lässt und sich nicht darum kümmert, was mit dem Erworbenen und Gespeicherten geschieht.  Fürchterlich die Vorstellung, man könnte irgendwann einmal unsere Gehirnhälften konservieren oder gar umkopieren.”

Harald Hartung hat das Erworbene seiner Gehirnhälften ja nun unveränderbar gespeichert. Aber wohl auch, dass man zu manchem Gehirn (vielleicht dem eigenen?) zu der Erkenntnis kommt: Nie war es besser als heute!  Eigentlich schade, dass es einfach so weg soll. Man muss es, solange irgend möglich, nach allen Kräften benutzen. Das Ergebnis ist dieses Büchlein.

Der Tag vor dem Abend  das meint die Jahre, in denen das Alter unwiderruflich voranschreitet, eine Rechenschaft fällig wird. In seinem achtzigsten Jahr legt Harald Hartung sein persönlichstes Buch vor: Aufzeichnungen aus den Jahren 1998 bis 2012.

Sie verbinden die Sensibilität des Poeten mit der Gedankenklarheit des Kritikers. Sie mischen Denkstücke und Reflexionen, Momentaufnahmen und Rückblicke, in denen die Dinge der Welt aufleuchten.

Neben luziden Reisebildern finden sich Überlegungen zu Kunst und Dichtung (auch der eigenen), Aphorismen über Alter und Produktivität, sowie Erinnerungen an eine Kindheit im Dritten Reich.

Aus vielen Komponenten entstand ein skeptisch-heiteres Merkbuch des Handwerks, ein Brevier des Lebens und der Kunst. Wer’s liest, wird seine Freude daran haben, und es zu den Büchern ‘Wieder mal lesen’ stellen.

Harald Hartung, geboren 1932 im westfälischen Herne, lebt seit den sechziger Jahren als Lyriker, Essayist und Kritiker in Berlin. Veröffentlichungen vielbeachteter Lyrik-Anthologien (1991 und 1998) sowie von Gedicht- und Essay-Bänden. Auszeichnungen: 1987 Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis, 1999 Premio Antico Fattore und 2003 Würth-Preis für Europäische Literatur.

Der Tag vor dem Abend
von Hartung, Harald;
Gebunden
Aufzeichnungen. 160 S. 20,5 cm 260g , in deutscher Sprache.
2012   Wallstein
ISBN 3-8353-1110-7
ISBN 978-3-8353-1110-7 |19.90 EUR –