Dichter und Literaturbetrieb als Nightmare

… und ein nicht unwichtiges PS

 

 

“Wenn man nur einmal von einer falschen Voraussetzung ausging, dann war man verloren. Dann war man blind für alles, was nicht zur Prämisse passte, und legte und bog sich alles in ihrem Sinne zurecht. Einmal die Zirkelspitze falsch gesetzt … “ (Die Betrogenen, S. 61)

 

Hören wir doch zuerst mal das, was der Verlag zu diesem Buch zu sagen hat:

“Stellen Sie sich vor, in Ihrer Sterbesekunde enthüllten sich Ihnen auf einen Schlag sämtliche Geheimnisse der Welt! Die Große Liste – sie ist eine Lieblingsvorstellung des alternden, aber charismatischen Schriftstellers Arthur Bittner, wie er sie seinem jüngeren Freund und designierten Biographen Karl Lorentz erzählt.

In Karls Verehrung des großen Mannes, der immer noch viel Erfolg in der Damenwelt hat, haben sich schon ein paar Risse aufgetan, da erwähnt Bittner eine Tochter aus einer früheren Beziehung. Karl sucht sie – es ist die Zeit nach der Wende und vor dem Euro – in der Berliner Galerie auf, die sie mit einer Freundin teilt.

 

Er verliebt sich, und als sie sich nach einer gemeinsam verbrachten Nacht nicht wieder meldet, beginnt ein Spiel der Scharaden und Verwechslungen. Jeder zweite führt ein verstecktes Doppelleben, Freunde und Kollegen verraten, beneiden und bewundern einander, und eigentlich geht es um das kleine Gelingen im großen Scheitern, um Liebe, Freundschaft und Tod.

Und Karl hat an entscheidender Stelle nicht richtig zugehört… In seinem glänzend geschriebenen literarischen Debut erzählt der Essayist und Kritiker Michael Maar von Kunst, Eitelkeit, Sehnsucht und Tod.”

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Soweit – so gut. Natürlich kann man Die Betrogenen auch dieser Inhaltsangabe folgend lesen. Und das vom Verlag so betonte ‚Sterbesekunde‘ soll jedoch wohl kaum darauf hinweisen, dass es vorwiegend um ‚letzte Dinge‘ geht. Es handelt sich vielmehr um das Roman-Debut des Literaturwissenschaftler und kritikers Michael Maar; als Roman bezeichnet es der Verlag wohl, weil Romane angeblich besser zu verkaufen sind als Erzählungen; eigentlich aber ist das egal, wichtig ist ja nur, was drinsteht.

Während Michael Maar in seinen Essaybänden in einzigartiger Weise und glänzend formuliert Hintergründe und meist völlig unbekannte Zusammenhänge aus Literatur und von deren Dichtern einzigartig ausgefeilt ans Tageslicht befördert und so ein völlig neues Verstehen von Literatur ermöglicht…  Tja, was setzt er uns hier mit seinem ersten erzählenden Text nun vor?

Hat schon ein ‘normaler’ Roman-Debutant es schwer, (wenn überhaupt) Leser zu finden und rezensiert zu werden, hat es Michael Maar besonders schwer; er hat bereits eine ‘Vergangenheit’, derzufolge er vielen aus dem Literaturbereich bereits bekannt ist. Alle lesen sie sein Buch, was bei 148 Seiten auch kein großes Kunststück ist. Vielleicht aber gerade deswegen lesen sie nicht besonders genau, was Michael Maar ja in seinen Büchern und Essays immer wieder von Lesern erwartet. Jetzt also hat man sich sozusagen dahingehend geeinigt, dass es sich irgendwie um Hintergründe des Literaturbetriebes handele – die kenne Maar ja.

 

Der einzige (strategische) Fehler des Autors, der sich hier erkennen lässt, ist der Titel des Buches, der jeden sofort an Thomas Manns letzte Erzählung erinnert – und in der Erwartung fängt man dann auch zu lesen an und reagiert irritiert und verstört. Schmerzlich vermisst man die penible Grundlagen-Information, die Thomas Mann zu eigen ist. Und am Schluss vermisst man den sogenannten ‘Höhepunkt’, auf den bei Thomas Mann immer alles zielstrebig hinausläuft. Also: Wenn man eine Erzählung von Thomas Mann gelesen hat, weiß man eindeutig, ‘was der Dichter damit sagen wollte’. Zumindest meint man das.

Jeder Delinquent (und als so etwas steht man ja seinen Rezensenten gegenüber), hat das Recht, hinsichtlich seiner Vergangenheit gehört zu werden; vielleicht ergibt sich ja daraus ein anderes Endurteil.  Versuchen wir es hier, um erst dann zum Wesentlichen zu gelangen.

 

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Im Jahre 1692, kann man in Ricarda Huchs glänzender Wallenstein-Untersuchung lesen, ließ sich dieser von Kepler, der damals in Dienste Kaiser Rudolfs stand, das Horoskop stellen. In seiner Einleitung betont Kepler (der Wallenstein nicht kannte) dass man in der Astrologie zwar eine allgemeine Beziehung zu Menschen annimmt, bezweifelt jedoch, ob diese sich im allgemeinen ausdeuten lasse, denn die unmittelbare Quelle eines menschlichen Schicksals sei doch die Beschaffenheit seines Körpers und seiner Seele.  Dennoch war Kepler eine sehr treffende Analyse Wallensteins gelungen, in der er aber auch zu einer  charakterlichen Besonderheit kam, die er als abträglich bezeichnete:  Er fasste es so zusammen: Wallenstein sei eine  Doppelheit, nämlich Mann und Weib zusammen – was sich in der tiefsinnigen mittelalterlichen Psychologie wohl so ausdrückte; Kepler erscheint diese Besonderheit als lähmend. Während es aber Ricarda Huch wichtig erscheint, auf die intellektuelle Bereicherung hinzuweisen, die Menschen mit dieser Konstellation oft zu eigen ist. 

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Seit der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts begannen sich die Gesetze zu mildern, mit denen jene, bei denen diese Doppelnatur erkennbar wurde, zu Bestrafung, oft vollständiger Vernichtung, immer aber zu Ablehnung, Diffamierung geführt hatten. In der Literaturwissenschaft aber führte es zu einem völlig neuen Forschungszweig,  in dem der Versuch unternommen wird, diese besonderen Quellen  großer Weltliteratur anhand von Briefen, Tagebüchern und Texten offenzulegen.   Das will ich hier nun nicht weiter ausführen, wenn es auch erstaunlich ist, dass sich bei immer mehr Personen aus Vergangenheit und Gegenwart diese Doppelnatur nachweisen lässt, bzw. nicht mehr verschwiegen wird. Bislang wird allerdings diese Doppelnatur, unzulänglich Homosexualität (Knabenliebe) genannt, nur bei Männern untersucht, wohl weil dort die ‘Indizien’ leichter auszumachen sind.

Warum ich hier darauf komme? Michael Maar hat sich nämlich jahrzehntelang mit diesen Themen beschäftigt und seine glänzende Dissertation, 1995 bei Hanser erschienen, “Geister und Kunst” – Neuigkeiten aus dem Zauberberg –  erregte allgrößte Aufmerksamkeit und – Bewunderung. Sie wurde denn auch 1995 mit dem Johann-Heinrich-Merck-Preis der deutsche Akademie für Sprache und Dichtung ausgezeichnet, der er seit 2002 selbst angehört. Wer nur dieses Werk Maars über Thomas Mann gelesen hat, kann ermessen, welche gewaltige Arbeit, allein am Leseaufwand gemessen, dahinter steckt. Es waren, um bei Thomas Mann zu bleiben, nicht nur dessen gesamte Werke, sondern auch Tagebücher und Briefe, Kommentare und was so alles dazugehört, zu lesen. Das ist schon allein textmäßig eine gewaltige Menge, die aber auch noch mehr als gründlich und immer wieder hinterfragend gelesen werden musste.

Nicht nur das: Bei über dreißig Märchen Hans Christian Andersens hat Michael Maar  untersucht und belegt, dass und wo man sie im Werk Thomas Manns immer wieder entdecken kann. (Hans Christian Andersen gehörte  auch zu denen,  die ihre Doppelheit ängstlich verbergen mussten, was er über den ‘Notbehelf’ mit seinen Märchen verwirklichte. Er hätte sich damals wohl auch nicht träumen lassen, dass sie nun zum größten Schatz in der Weltliteratur gehören.) Nicht nur den Spuren Thomas Mann ist Michael Maar in dieser Weise gefolgt: Er setzt sich mit unglaublicher Genauigkeit mit vielen Klassikern der Moderne auseinander: Vladimir Nabokov, Marcel Proust,  Borges, Canetti, Chesterton, Kafka, Musil …

Es ist Maar nicht zu verdenken, dass in ihm hin und wieder der Gedanke kam, das eine oder andere einmal selbst zu schreiben. Wenn ich mir aber nicht allein die Menge des Gelesenen, sondern auch die des von ihm Veröffentlichten anschaue, kann ich mir kaum vorstellen, wie da nun auch noch Zeit gewesen sein soll, in eigener Sache klaren Kopf  zu bekommen, Muße zum Nachdenken und Schreiben zu finden.  So ist er nun Zweiundfünfzig  geworden, für manchen ein Zeitpunkt zu Endzeitgedanken – und nach Verlagsauskunft hat er zwei Jahre an seinem ‘Roman-Debut’ gearbeitet; das Leben ist ja auch nicht unendlich dehnbar.

Nun kann man – vor allem, wenn man Michael Maar inzwischen zu kennen meint – seine Betrogenen auch anders lesen, als die bisherigen Rezensenten. Im Grunde stand man, schon bevor man das Buch in Händen hatte, etwas gespannt vor der Frage: Wie oder was wird Michael Maar schreiben, im Wissen, dass eigentlich alles schon mal irgendwo geschrieben wurde? Im Grunde erwartet man auch, dass bei ihm etwas völlig anders beschrieben wird – und richtet sich auf Fußangeln und Fallstricke ein. [Inzwischen wissen wir, dass der Autor unsere unten folgende Theorie für unrichtig hält; nun, es ist unsere Lesart – wir lassen es stehen!]

Nach einer wiederholten Lektüre fällt schließlich etwas auf: Das kleine Buch erscheint tatsächlich zweigeteilt:  Es fängt mit einem merkwürdigen Einstieg an – und endet auf Seite 77: “Wie bitte? Karl verstand nicht recht, aber spürte, wie sein Mund trocken wurde.” 

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Fast jeder kennt sie, diese seltsamen, unabweisbaren Träume, die sich, oft nur mit geringfügigen Änderungen, jedoch irgendwie aufeinander folgend, ein unangenehm aufdringlicher Film vorüberziehen; abstellen kann man sie aber nicht. Oft aber, man staunt es unwillkürlich an, sind sie in ihrer Konstruktionsvielfalt derart vollkommen, dass es bedauerlich ist, dass man sie meist nicht gleich aufschreiben kann. Sie verglimmen mit dem Hellerwerden – wenn auch nicht ganz. Etwas bleibt zurück.

Natürlich weiß niemand, ob die Geschichte, die Michael Maar hier erzählt, im Kern auch so einen merkwürdigen, immer wiederkehrenden Traum hat. Jedenfalls scheint es ihm zu gelingen, einen ‘Traum’ darzustellen: Wie ist das, wenn einem die Zeit wegläuft und man etwas Bestimmtes beispielsweise schreiben will – aber man kommt einfach nicht soweit.

Über die Gestalt der Träume hat sich ja C.G. Jung schließlich mit Freud verkracht. Mir liegt C.G.Jung näher. Für ihn ist, was ein Mensch träumt, untrennbar mit dessen Leben und dessen Situation verbunden. “Kein Traumsymbol kann von dem Menschen, der da träumt hat, abgetrennt werden; denn es gibt keine allgemeingültige Deutung für einen Traum. (…) meine intuitive Erkenntnis bestand in der plötzlichen und unerwarteten Einsicht, dass mein Traum mich meinte, mein Leben und meine Welt. … Aber, warum, fragt man sich, konnte der Traum nicht offen und direkt aussprechen, was er meinte? … Es mag seltsam sein, dass das Unbewusste sein Material so verschieden von der scheinbar übersichtlichen Anordnung aufreiht, die wir unseren Gedanken im wachen Leben auferlegen können. “

Das Bild von Chagall “Die Zeit ist ein Fluss ohne Ufer” zeigt eine Annäherung an die oft merkwürdigen “Bilder”, die uns, wenn wir schlafen, durch den Kopf gehen können. Wiederholen sie sich, in abgewandelter Form, immer wieder, wird man nachdenklich. C.G.Jung beschreibt auch, dass alles, was uns begegnet, irgendwo in unser Unbewusstes versinkt; nichts geht verloren. Es sammelt sich da an, aus allen möglichen Trieben, Impulsen und Absichten, Wahrnehmungen und Intuitionen, aus rationalen und irrationalen Gedanken. Im Bewusstsein ist kein Platz dafür, vieles verliert seine emotionale Energie.

Aber durch irgendeinen Gedankenkern, um den es sich kristallisiert, gewinnt es neue Energie, steigt es im Traum wieder in merkwürdigen Bildern auf – oft aus großer Entfernung und bringt gänzlich neue Gedanken, schöpferische Ideen aus unserem ‘Abgelegten’ hervor; manchmal ‘Offenbarungen’ ähnlich. So, wie es dem französischen Philosophen Descartes erging, der plötzlich “Die Ordnung aller Wissenschaften”  erkannte.

Vor allem aber: “Es ist mein Märchen‘, sagte die Feuerlilie “ (bei Hans Christian Andersen: Die Schneekönigin.)

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Demzufolge kann man auch auf die Idee kommen, dass Michael Maar auf sehr eigene Weise versucht, nachzuzeichnen, was seinem Helden Karl Lorentz passiert ist. Und ich meine, dass ihm das hervorragend gelungen ist, auch wenn seine Leser das erstmal (offensichtlich) nicht bemerken.

Denken Sie sich bei dem ersten Satz: “Es war die alte Geschichte.” erstmal nichts dabei, wenn es nun folgend um nichts als einen Bleistift geht, der sich (wie schon oft) von der Innentasche des Jacketts einen Weg in die Tiefe, nämlich bis zum unteren Jackensaum gefräst hat, von wo es  jedesmal ein Kunststück  ist, ihn wieder nach oben zu  prokeln. Das war Karl gerade rechtzeitig gelungen, als der Zug einfuhr und die Geschichte, in der wir schon  mittendrin sind, weitergeht, indem er eingestiegen ist..

An Personen begegnen uns nun ein vermutlich achtunddreißig-jähriger Karl Lorentz, Literaturkritiker und –agent, was immer auch das sein mag.  Und wir ärgern uns ein bisschen, dass wir keinerlei Informationen über ihn bekommen, wüssten eigentlich gern wenigstens wie er aussieht und was an ihm Besonderes sein soll. (Thomas Mann informiert einen immer genauestens!) Allerdings lag dessen Betrogener eine wahre Geschichte zugrunde, die ihm Frau Katia berichtet hatte.) Also, Karl Lorenz begegnet auf eben dieser Zugfahrt, die dem gerade noch rechtzeitig heraufgeprokelten Bleistift folgt,  ein Herr mit einem unglaublich verunstalteten Gesicht;  er trägt zu grauem Anzug eine gelbe Krawatte, und wird bald hinter seiner Zeitung unsichtbar, obwohl sich Karl Gedanken über ihn macht. 

Irgendwo muss Karl am Ziel angekommen sein, nun kommt die  nächste, sehr wichtige Person ins Spiel:   Der Alt-Schriftsteller Arthur Bittner. Bei der Gelegenheit erfährt man auch, dass Karl in Berlin ausgestiegen sein muss und wo ihr Treffpunkt ist – und mit ein bisschen Nachdenken meint man, herausgefunden zu haben, dass es das Jahr 2002 ist, denn Karl kommt von der Beerdigung des großen Verlegers Gabriel, an dessen ‘Kennzeichen’ Jaguar man unzweifelhaft den Verleger Siegfried Unseld erkennt, der übrigens jahrgangsgleich mit Bittner ist, nämlich Jahrgang 1924.

Aber der Autor bestreitet das Jahr 2002 auf Nachfrage nachdrücklich, es sei so um 1998 gewesen. Da   man von diesem Jahr allgemein nichts Umstürzlerisches entdecken kann, sieht man bei Michael  Maar selbst nach: Von 1997 bis 1998 war er Fellow des Wissenschaftskollegs zu Berlin, dieser Lebensabschnitt ist also abgeschlossen. Da war Michael Maar achtunddreißig. War es das eventuell – dieser Lebensab- oder -einschnitt, in dem der Bleistift, wenn man ihn sucht,  sich nur mühsam hervorprokeln ließ? Also, man weiß es nicht. Irgendwas war es natürlich.

Im Grunde ist der Tod des Verlegers allen irgendwie unbegreiflich: “Gabriel hatte hatte nicht zu den Menschen gezählt, von denen man sich vorstellen konnte, sie stürben wirklich.”  In der Vorstellung Karls gehört auch Bittner zu den ‘unsterbbaren’ Personen.  Bereits im Zug hatte Karl im Kopf überschlagen, ob wohl die Beerdigung als Gesprächsstoff ausreichen würde, um Bittner davon abzuhalten, Karl nach seiner Frau und vor allem nach der Biographie zu fragen, die Karl über Bittner schreiben sollte.  Noch hatte er keine Zeile geschrieben!

Karl erfährt: Vorletzte Woche hat Bittner sein Mozart-Manuskript an den Verlag geschickt. “Er war gespannt, in welche Fettnäpfe der Lektor dieses Mal tappen würde.”  Er fand seinen Lektor für alle Zeiten unmöglich wegen eines Apostroph, das dieser hineinkorrigiert hatte und damit bewies, dass er zwischen ‘Judas, dem Jesus-Verräter’ und ‘Juda, dem Bruder Josephs’  nicht unterscheiden konnte. “Er kannte nicht den Unterschied zwischen dem Neuem und dem Alten Testament. Er kannte überhaupt nichts und hatte nichts gelesen und strich auch sonst immer zielsicher die besten Pointen heraus.”

 

Nachdem wir immer noch nicht wissen, wo sich Karl und Bittner eigentlich getroffen haben, unvermittelt ein Hinweis im Text: “Neben ihnen zogen bunte Fische  ihre langsamen Runden in dem Aquarium, das bei keinem Chinesen fehlen durfte”, in dem ein hellroter Fisch aus seiner lethargischen Bahn witschte. Weiteres erfahren wir von Bittner, der sogar etwas über die tiefere Bedeutung von Anzahl  und Farbe der Fische in Chinarestaurants wusste.  Bei der Verleger-Beerdigung wurde übrigens ein langsamer Satz aus einem Streichquartett Debussys gespielt. Mit seinem rechtzeitig zurückeroberten Bleistift malt Karl Kringel auf seine Serviette, was ein Kürbisgesicht mit vielen Zähnen ergibt: “Die Trauergemeinde formte das Halbrund des grinsenden Munds.”

Es gibt noch einige Musikbeispiele in diesem Text, die ich aber nicht besondern auseinander klamüsern werde, obwohl sie nicht unwichtig sind.

Und so endet der erste Teil, dem noch fünf weitere folgen.

 

Im zweiten Teil begleiten wir Karl und Bittner bei einem Spaziergang in milder Frühlingssonne. Während des Gehens empfindet Karl höchst widersprüchliche Gefühle hinsichtlich Bittner. Irgendwie kitschig bewegt er sie in Gedanken hin und her, während Bittner in heiterer Plauderstimmung ist. Welch herrliche Stimme hatte ‘wer auch immer’ Bittner beschert, und seine vollendete Höflichkeit – am liebsten “hätte er sie aristokratisch genannt, gäbe es unterm Adel nicht so viele Rüpel.” Und wie kaum ein anderer konnte Bittner noch immer Anekdoten erzählen; aber es gab eben ein Früher und ein Jetzt, die sich in Karls Kopf, während sie voranschreiten,  mal so oder so überblenden. Dennoch überwiegt in Karls Kopf  das ‘Tempelgefühl’, wenn er jetzt Bittner durch den Stadtpark, zu einer Gartenwirtschaft am Flüsschen begleitet. Das alles wird angesichts Maars sonstiger Exaktheit nur so dahinerzählt, so, als erzählte er etwas nach.

Denn plötzlich erscheint ihm Bittner, in merkwürdigem Stop und Go sich redend  fortbewegend, wie das blühende Leben, braungebrannt und schlank … und im Hinterkopf fragt sich Karl, wann nun die heiklen Punkte zur Sprache kämen. Sie reden von schlechtem Namensgedächtnis (sie haben es beide), aber Bittner kommt dennoch sofort  auf ‘Malraux’, als Karl noch mit seinen Eselsbrücken deswegen beschäftigt ist. Natürlich wusste Bittner alles und jedes – und kommt eben auch auf die Biographie, die Karl schreiben soll.

Er [Bittner] hadere gewiss nicht damit, dass Karl noch nicht damit begonnen habe, er möge sich alle Zeit der Welt damit lassen…”

Und nun kommt Michael Maar hervor, wie wir ihn kennen und lieben: “… da sah man es wieder: Wurden die meisten Sätze nicht wahrer, wenn man sie stillschweigend verneinte, beziehungsweise ihnen die Verneinung  wieder entnahm? Wenn es im Lied hieß: ‘Ich grolle nicht’ , bedeutete es, dass der Dichter grollte – wie sonst wäre er auf die Zeile verfallen. (…) Wie kam Bittner wohl auf das Hadern? Die wichtigste Botschaft eines Satzes bestand nun einmal darin, welche Idee er behandelte – da gab es unendlich viele, das war ein Ozean, aus dem man sich ein kleines, glitzerndes Fischchen herausangelte (…) verräterisch war das Fischchen selbst…”

Noch haben sie die Gastwirtschaft am Flüsschen nicht erreicht .. aber irgendwie zögert man nun beim Lesen. Warum, so fragt man sich spätestens hier: Was ist hier eigentlich los? Warum kriegen wir nicht – wie das normal wäre – die Fakten, die zum näheren Verständnis notwendig sind,  ordentlich erklärt? Wie das ja bei Thomas Mann, an dessen letzte Erzählung und hier der Titel des Buches erinnert, jedesmal gewissenhaft und gründlich erfolgte – hat es (und warum?) über Karl keine Informationen zur Person gegeben?

Noch können wir uns eigentlich nur das, was in Karls Kopf vorgeht, vorstellen. Das bleibt auch so, als Bittner Karl fragt, ob der Verlag ihm sein letztes Buch geschickt habe. Wieder ein Moment, den Karl befürchtet hatte. Beim letzten Buch Bittners, das er natürlich bekommen hatte, waren ihm  ihm wieder dauernd das Früher / Jetzt durch den Kopf gegangen: Früher hatte Bittner diese Marotten nicht gehabt, immer dieselben Stilfiguren, geschraubt, voller Andeutungen die Allwissenheit des Autors, manirierte Interpunktion. Nein, sie reden nicht miteinander und Karl würde des Teufels tun und Tadelndes sagen. Wir werden uns wohl damit abfinden müssen: alles derzeit Erzählte bewegt sich nur in Karls Kopf.

Er [Karl] kannte die Künstler; er hatte es oft genug erlebt; das Sandkorn Kritik wog ihnen mehr als ganze Perlenschalen des Lobs. Keine Kritik von Verehrerseite – das war der stillschweigend geschlossene Pakt zwischen Bittner und ihm, und Pakte brach man nicht über Nacht. “

 

Mit seinem ‘Sie bringen mich in Verlegenheit’ mit dem sich Bittner absolut unverlegen für Karls nun lobende Worte zu ‘Cosi fan tutte’ bedankt, ist die nächste Lüge fällig.

Aber was war das mit der Wahrheit? War sie ein hochprozentiges Medium, das man verdünnen durfte, und war Takt der richtige Verdünnungsgrad? Schließlich würde man selbst nicht gerne nur Wahrheiten hören. Schon bei der Vorstellung musste Karl sich schütteln. Allein die Charakterschwächen, die man serviert bekäme, oder bei Ehekrächen manchmal serviert bekam. [Die im Übrigen Karl auch später immer wieder durch den Kopf gehen werden.] Diese Schwächen, man kannte sie ja, sie wehten einen gelegentlich an wie Schwaden aus dem Gulli nach einem Regenguss. Aber das waren sie nicht. sie waren wie schlechter Atem, den jeder bemerkte, außer man selbst.”  [In Kürze wird Karl das mit dem reinen Atem nochmals begegnen!]

Und Bittner [der offensichtlich immer weiß, was Karl gerade denkt] greift die eben unausgesprochenen Überlegungen Karls auf: Wenn er die Wahrheit sagen dürfe: seine Gesundheit sei nicht die prächtigste. Und wieder schieben sich in Karls Kopf die zwei Bittner-Bilder übereinander: In nichts sah man ihm sein Alter an: der sanft hypnotisierende Blick, der Erfolg bei Frauen, der einen aber bereits dann, wenn man ihn anrief, mit seiner hervorragend einstudierten Telefon-Annahme-Technik zu überwältigen verstand – unwillkürlich kam Karl ein kolumbianischer Kartenkünstler in den Sinn.

Auch im nächsten Kapitel – sie sind immer noch nicht beim Gasthaus angekommen – malt Bittner die grauenvollen Wahrheiten über das Alter in allen Farben aus.  Für Karl wie Nachrichten von einem fremden Kontinent: Schwarzer Schlamm und gelbe Quellen, die sich aushöhlende Persönlichkeit. Hier wirkt alles ein bisschen naiv: Aber Altersängste sind eben immer irgendwie kindlich, ganz gleich, wer sie schildert. “Das Jenseits wehe schon durch die Ritzen der Persönlichkeit – pfeift gegen Ende.” Aber so farbig kann eben nur Bittner sie schildern! Und die Väter der beiden: Am Ende im Rollstuhl. Und Karl erinnert sich an seine Mutter, die leise geschluchzt hatte, wenn sie meinte, er schliefe.

Und Bittner untermauert wieder eine seiner (vielen) Überzeugungen: dass man seinem Schicksal nicht entkommen kann, selbst wenn man es einer Prophezeiung wegen zu überlisten versucht – da sei ja schon seit Ödipus bewiesen: dessen Tod sollte ja, einer der vielen Sagen nach, aus dem Meer kommen. Und tatsächlich tötet ihn sein Sohn mit einem Speer, an dessen Spitze der Stachel eines Rochen (aus dem Meer!) war.  Und dann die von Karl noch immer nicht entschlüsselte Büttnersche Gestik: “Das sparsam Elegante und Zwingende daran deutete auf ein verborgenes Gesetz wie in der Natur, wenn sie in Millionen Jahren aus möglichst wenig Material die einzig vernünftige Feder- oder Eiform entwarf.”

Der Weg geht ‘an einem Flüsschen’ entlang, von der Natur rundherum bemerkt Karl wenig. Dann aber kommt es: “Sie passierten eine Holzbrücke am Stauwerk, wo das Wasser reißender wurde. In der Flußböschung wuchsen Butterblumen in grellem Gelb; nicht gar so schlimm wie die Forsytien, die schon verblüht waren und denen Karl eine um so grimmigere Verachtung entgegentrug, als er mit ihr alleine stand. Forsytien und Goldregen und Sonnenblumen, wer die am liebsten entfernt hätte, wenn er einen Garten besäße, der hatte es in der Welt nicht leicht. Schon als Kind hatte Karl nur Pastellfarben gemocht.”  Da kann man sich bei Michael Maar alles Mögliche dabei denken. Auch das ‘ihr’ bleibt rätelhaft.

Noch ein ‘Naturgesetz’ ekelt Karl geradezu an: Am Saum des Weges unter einem von ihm umgewendeten Stein: dicht gedrängt Feuerwanzen in emsiger Bewegung – die es den ganzen Tag feuerrot ‘trieben’ – niemals traf man eine allein.

Von der Sucht [die vermutlich alle Viel-Leser an sich beobachten], die Bittner erwähnt und Karl ebenso kennt, nämlich dass, wenn man unterwegs Lesende antrifft, man unbedingt herausfinden möchte, was für ein Buch das ist, kommt Bittner, als Karl eine dazu benötigte Brille erwähnt, wieder auf sein Lieblingsthema: Sterben und Tod. “Nach Bittners Lieblingsvorstellung wären am Jüngsten Tag keinerlei Brillen mehr nötig. Denn dann würde das große Buch aufgeklappt und dem Publikum zugänglich gemacht. Die Große Liste würde enthüllt, nach der es kein Geheimnis mehr gab.”

Bittner fragt Karl – damit sich dieser etwas vorzustellen beginnt – ob er schon etwas von der universellen Turingmaschine gehört habe. Bittner würde ihm das jetzt nicht erklären – vermutlich hat er da selbst etwas missverstanden, da er für theoretische Physik hält, was zur theoretischen Informatik gehört; er hat aber insofern recht, als es sich um ein mathematisches Konzept handelt, mit dem man die erstaunlichsten Dinge berechnen kann – wenn auch oft das Ergebnis ist, dass etwas sich eben nicht berechnen lässt. Jedoch ist ja auch das eine Erkenntnis.

Bittner erklärt es bildlich: “Alles, was passierte, hinterließ im Feinstaub des Kosmos einen Abdruck, und auf diese ‘Abdrücke‘ hätte man ungehinderten Zugriff. Er stelle sich eine Art kosmischer Black-Box vor.” Genau genommen, erklärt Bittner weiter:   “Genau genommen wäre es nicht der Jüngste Tag – in seiner Vorstellung wäre es die Sterbesekunde. Einige Physiker wollten, dass sie sich aufblähe in einer Zeitblase, die nie platze… Alles würde offenbar, wie sich das wohl anfühlen würde?” Karl hatte insgeheim die Vermutung, dass ihm diese Ideen zur eventuellen Aufnahme in Bittners Biographie dargeboten würde, eben als große Gedanken ..

Endlich ist auch die Gaststätte am Fluß erreicht. Das passiert auf  Seite 37, (also etwa um die Hälfte des von mir angenommen ersten Teil,) und Karl wundert sich überhaupt nicht, dass Bittner seinen ansonsten verfochtenen Vegetarismus verleugnete und Würstchen, braungebratenen Speck und Rührei bestellte; er war eben so. Und wie grazil und mit welch natürlicher Anmut das dann verzehrt wurde!

Und auf Seite 39 muss Bittner Karl ein Geständnis machen. “Auf Sätze, die mit ‘Ich gestehe …’ begannen, folgten nie echte oder gar peinliche Geständnisse, im Gegenteil, oft folgte sogar Selbstschmeichlerisches” . Karl, das bedenkend, sollte sich wohl getäuscht haben. Bittner sah sich genötigt, ihm auseinanderzusetzen, dass er für seine Tochter [aus einer früheren Beziehung aus den USA gekommen] nichts mehr empfinde, was anfangs anders gewesen sei. Schon allein ihr schreckliches, mit fremden Vokabeln radebrechendes ‘Deutsch’ [Karl wird ihm später begegnen, ohne dass ihm etwas auffällt.] entnervt Bittner.

Und von einer Bittner-Tochter hatte Karl noch nie etwas gehört! Soll mit einer Freundin eine Galerie in Berlin haben. Aber zärtlich mit der eigenen Tochter? Intimste Details für seine Biografie? Nur ein altes Foto seiner Tochter, gerade siebzehn Jahre alt, konnte Bittner hervorkramen. Karl würde sie ja  wohl nie kennenlernen.  

Schließlich verlangte Bittner die Rechnung ‘Getrennt bitte’ – der berühmte Verleger Gabriel hätte ihn bestimmt eingeladen, denkt Karl. Und überlegt auch, was man eigentlich an Cosi an tutte finden konnte = die Musik, na ja, alles andere Unsinn: “Ein Turban, ein Bärtchen, und schon erkannten die Damen ihre Galane nichts mehr.”

Auf Seite 49 zieht der Traum andere Seiten auf: Karl hatte es geschafft! Unter allerlei Vorwänden hatte er den Kontakt (eine Männerstimme am Telefon!) mit der Galerie hergestellt, wurde erwartet und freundlich begrüßt: Eine blonde Frau begrüßt ihn: “Da hat es doch noch geklappt!”, sagt, sie sei Nora.

Karl inspiziert sie sofort auf seine Weise: die Statur grazil und knapp unterhalb der Mittelgröße, ein Hauch eines Damenbärtchens, schmale Brüste (keinerlei Körbchen) leicht vorgewölbter Bauch, wie bei Statuen ägyptischer Prinzessinnen,  [Bedeutung dieses Bauches für den Rezensenten nicht herauszufinden]. Die Herfahrt hatte sich verzögert, das Taxi hatte umkehren müssen, weil Karl die Straße vergessen hatte.

Nora führt ihn ins Wohnzimmer, in Rottönen Kelims, ein Jugenstilleuchter, nicht Kirsche die Bibliothek, sondern Lärche und selbst gemacht mit Hilfe von Woytek, dessen Name hier erstmals fällt. Nora bestätigt, es stehe alles mit Bittner voll. Ein abstraktes Bild an  der Stirnseite des Raums. Eine Katze streicht um ihre Beine, auch um die von Karl. [Davon wird viel später nochmals die Rede sein.]  Im großen Spiegel mit abblätterndem Goldlack bemerkt Karl: Seine Hemdkragen sind nicht in Ordnung, als er das berichtigt, springt einer der Knöpfe auch noch ab.

Nora kommt wieder zurück mit einer betauten Flasche Weißwein; Karl bemerkt ihren ungewöhnlich wohlduftenden Atem [Den hatten wir vorher schon mal.] In der Galerie war Karl übrigens noch nicht; er wird auch nicht hineinkommen. Er lädt aber Nora zum Abendessen ein, sie erklärt ihm, sie fürchte, er müsse mit ihr allein vorliebnehmen, was Karl natürlich im Stillen begrüßt.

Karl soll sich solange noch ein bisschen im Flur umschauen. An den Wänden nämlich Arbeiten ihrer Lieblingskünstlerin. Karl denkt im Stillen: “Natürlich, in der Welt der Kunst musste jeder ‘Wisch’ eine ‘Arbeit’ sein. Je weniger zu erkennen war, was der Konzeptionsquark sollte, desto zwingender war es, dass er Arbeit hieß. “ Der Titel einer Zeichnung war ‘Kippfigur’, eine Hügellandschaft, auf der man nach längerem Hinsehen eine liegende Frau entdeckte. Karl fand das nicht unelegant.

                                                            ***

Doch das mit der Kippfigur, die sich hier warnend im Traum manifestiert,  sollten wir uns einmal näher, an einem Beispiel, ansehen:

 

 

Nebenstehend ein Wandbild in Lima (Peru), das sowohl ein Nilpferd, zwei Personen an einem Kaffeetisch als auch einen Totenkopf darstellt.

Wittgenstein, der uns wie kein anderer über die Logik des Daseins und der Sprache informiert, sagt einerseits: Die Welt ist durch die Tatsachen bestimmt und dadurch, dass es alle Tatsachen sind. Er stellt aber auch fest: Alles was wir sehen, könnte auch anders sein. Alles, was wir überhaupt beschreiben können, könnte auch anders sein.”

Genau das könnte auch hier für Karls Traum zutreffen: Sehr vieles entgeht ihm einfach; so kommt er zu ‘falschen Zirkelschlüssen’.

***

Gerade als Nora sich zum Ausgehen fertig macht, taucht ihre Kollegin schwarzhaarig, mit randloser Brille auf; Nora hatte sie als Bea bezeichnet. Karl, schon befürchtend, mit seinem Nora-Rendezvous zu zweit würde nichts, bemerkt nichts Besonderes an Beas Mitteilung: “Sie habe überhört, was die beide  gerade geredet hätten. sie sollten ruhig ohne sie Dinner haben, ein bisschen extra Zeit könne sie gut gebrauchen. War das okay für sie?” Sie verabschiedete sich obendrein mit dem typischen Achselzucken, das Karl auch bei Bittner kannte.

Immerhin wundert sich Karl, dass der Taxifahrer, der zuvor ihn zu Galerie gefahren hatte, unwahrscheinlicherweise derselbe ist, mit dem er nun mit Nora zu dem neben seiner Wohnung gelegenen Lokal, zu Paolo ährt.

Schon die Überschrift dieses Kapitels – sie muss den eifrigen Maar-Leser  stoppen:Puttanesca bei Paolo’. [Puttanesca heißt übersetzt Spaghetti nach Hurenart!!] Nora findet, Paolo sehe Mussolini etwas ähnlich – sie sieht sich auch sonst amüsiert um:  Auf das Bild einer rauchenden Frau im Halbprofil [deren Sinn sich nicht erkennen ließ] deutend die Frage, ob das eine gute Kundin sei, die Malerin, und Karl findet bei Nora eine gewisse Ähnlichkeit mit der bezaubernden Jeannie, [was dem widerspricht, wie ich mir Nora inzwischen vorgestellt habe, nämlich eindeutig androgyner … außerdem hat Jeannie niemals die Ellenbogen verschränkt, was selbst bei ihr nicht geht, wohl aber ihre Hände um die Ellenbogen gelegt – ich hab sie ja auch geliebt! Pling!]

Nun aber erklärt Karl Nora, Paolo sei sein Stammitaliener; er frage ihn um Rat in allem. Und fährt dann fort, aber er habe kürzlich die Wahrheit über Paolo erfahren – der sei in Wirklichkeit Albaner. Nora erinnert das an Woytek, den Polen, der ein Spieler sei. … Und dann kam auch noch der pakistanische Rosenmann an den Tisch mit ausgerechnet gelben!! Rosen.

Als aber Nora sich zu rauchenden Dame hinwendet, bewundert Karl ihren schlanken Hals und die hohe Stirn, was ihn an die Frau des warzigen Montefeltro in seinem Schlafzimmer erinnert.[Womit wir auch wissen, wer der Herr war, der am Anfang   des Traums ins Zugabteil zustieg.] Sogar mit den Bildern der beiden können wir hier dienen:

Porträt Federico da Montefeltros von
Piero della Francesca

 

Von dem gibt es eine  verhängnisvolle Geschichte, als er bei einem Turnier mit geöffnetem Helm kämpfte, um einer Frau, die er umwarb, zu imponieren. Wegen dieser Leichtfertigkeit konnte ihm der Gegner das Nasenbein zerschmettern und das rechte Auge ausstechen.

Darunter dann das Bild seiner Ehefrau Battista Sforza, Herzogin von Urbino. Porträt von Piero della Francesca, das sich eigentlich eher eine sich um Emanzipation bemühende Frau als Vorbild übers Bett hängen sollte, so hochgebildet und auch noch tatkräftig die war.   

   

Datei:Battista sforza.jpgWie sie aber hier in diesem Traum gelangen bleibt im Dunkel. Wie wohl Karl zu seinem Glück kommt, dass Nora ihm vorschlägt, seine Wohnung (gleich nebenan) wegen möglicher Bildeinkäufe zu inspizieren?

Nun ja, es kommt, wie’s kommen musste – oder eben auch nicht. Nora küsst ihn, er registriert ihre rasierte Achselhöhle (ist in USA wohl so üblich) … ja und dann – : “Mitten in ihren Zärtlichkeiten, sie hatte zweimal gekichert dabei, hatte sich Nora zusammengerollt, von plötzlicher Müdigkeit wie vom Blitz gefällt. Sie war an seiner Schulter eingeschlafen.” Karl hatte ihr noch zugeschaut dabei, wie sie leise schnarchte, und am nächsten Morgen war sie sehr früh aufgebrochen. 

Drei Tage Warten, in der Galerie geht niemand ans Telefon.

Und zum letzten mal krallt sich nun ein Traumrest an ihn, der in die Gegenwart zielt: Karl findet sich wieder in einer Saunaanlage auf einem Frotteebadetuch, an den von ihm herabrieselnden Schweißtropfen versucht er zu orakeln, ob Nora anruft; ein korpulenter Mann erinnert ihn an den Reisenden mit der Tumorknolle; auf anderen Handtüchern Frauen in immer kühneren Positionen. Dann, später, hinter einem Vorhang ein schmales Kabuff, eine weißbezogene Liege wie beim Arzt, eine Professionelle, die bei ihrem einseitigen Liebesspiel plötzlich loslacht. Karl, restlos verwirrt, verheddert sich beim Anziehen seiner Weste.

Der Heimweg: Vorbei an einem Lokal ‘nur für gute Freunde’ trifft er unversehens auf Bittner. Der ist mit der Galeristin hier, der jungen Freundin seiner Tochter, die abgeflogen sei – sie hatte ihm [Karl] keine Silbe gesagt! Außerdem hat Bittner eine starker werdende Katzenallergie. [Ich hatte ja versprochen, dass die Katze nochmal vorkommt, also auch vorne Sinn macht.]

Zuhause holte er sich ein Budweiser aus dem Kühlschrank und setzte sich.

 

                                                                          ***

Und damit sind wir auf Seite 77. Ein Traum ist aus. Hier wurde versucht, ihn in Michael Maars Erzählung  nachzuzeichnen und zu verstehen. Sollte man zusammenfassen, was das Wichtigste ist … aber das eben geht bei Träumen nicht. Eins aber weiß Karl  nun: Nora hatte nichts mit einer Meerjungfrau zu tun,  sie würde nicht unter Schmerzen nur für ihn tanzen, weil sie ihn liebt.

Bleibt allerdings eine stille Frage hinsichtlich Woytek. Haben sich da im Traum Nora und Woytek womöglich zu einer Person verschmolzen? Man könnte es annehmen.

 

Auf den zurückliegenden 78 Seiten ist es Michael Maar in diffiziler Kleinarbeit wahrhaft meisterhaft gelungen, etwas von den komplexen Träumen, die einen im Literaturbetrieb überfallen können, herauszuarbeiten. Es sind da mehr Angst, Schrecken, Sehnsucht und Verluste auszuhalten und aufzuarbeiten, als gar mancher es sich vorstellen kann; auch wird sie kaum jemand eingestehen.

 

Mit (lt. Autor) Teil IV, auf Seite 81, beginnt meiner Ansicht nach nun der 2. Teil. Karl ist in die Wirklichkeit und den Lärm des Miethauses, in dem seine Wohnung ist, zurückgekehrt. Neben ihm die Wohnung wird renoviert, in die ausgerechnet der Schriftsteller Manteuffel einzieht, der mit Bittner gerade tief verfeindet ist; ein weiteres Kuriosum ist, dass ausgerechnet Woytek dort werkelt, [eine mir noch immer rätselhafte Figur, die nun bei den merkwürdigsten Anlässen auftauchen wird.] Woytek, immer mit gelbem T-Shirt, eine ähnlich androgyne Gestalt wie zuvor Nora, bei Aufregung stotternd und die Augen verdrehend. Auch bei Karl wird er einige Aufgaben übernehmen, wenn sie jeweils anfallen. Eigentlich ist Woytek ein guter Geist.:immer da, wofür er auch gebraucht wird, Karl fühlt sich zu ihm hingezogen, weil er ihn an Nora erinnert.

Im folgenden muss ich nicht alles so diffizil erläutern und fange daher mal gleich mit den Personen und besonderen Stichworten an, die uns hier begegnen. Manteuffel (Schriftsteller  Erzfeind von Bittner, diesjähriger Preisträger); Bittner (immer mit ‘Betthäschen’, seine Krankheiten und schließlich sein Tod) Cornelius (fast achtzig, aus dem Vorstand der Grabbegesellschaft); die Wiedenkopf( Literaturagentin, Spitzname ‘Medea – Manteuffel nennt sie eine Krampfhenne); Brutus & Co – Kulturgeschichte des Verrats (neuestes Buch von Karl); Die Masken des Todes (neuestes Buch von Bittner); ein weißhaariger Lyriker (mit alkoholschwerer Zunge);  der Preisträger des vergangenen Jahres (ein stotternder Sachse); Seyfried (Quelle für Auskünfte aller Art, vielleicht auch ein bisschen schwul); ein Aquarium (und dessen tiefere Bedeutung für Karl); Alexander (vorlesender Star-Autor, bei Verleger Gabriel = großartige Förderung);

Allerlei wird nun genüsslich geschildert und ist zügig zu lesen: Etwas vom Leben im Mietshaus, wo Karl wohnt, und der Schriftsteller Manteuffel einzieht, der mit Bittner gerade verfeindet ist. Woytek hilft ihm beim Einzug; hämmern, pochen, Schwingschleifer. Auch Karl hilft Woytek in dessen Wohnung,in der Winzigkeiten sprossen wie Unkraut, dessen man nie Herr werden konnte, wenn man nicht regelmäßig jätete.”.

Vor allem wird fortan stimmig und genüsslich geschildert, wie das hinter den Kulissen der ‘Dichter und Denker’ so zugeht. Jeder, der das selbst kennt, meint in den Räumen den Tabakqualm und das Geräusch, wenn viele murmelnd reden, plötzlich zu spüren.  Das Tagungs-Hotel, bei dem üblicherweise das Frühstücksbuffet großartig, sonstiges Essen aber ungenießbar ist. Wo Klatsch und Intrigen wie stille Post weitergeleitet werden: sehr gerecht = keiner wird verschont! 

Hin und wieder allerdings denkt Karl noch an Nora zurück, aber auch an seine eigene Scheidung. “Das glich dem Umwenden eines einseitig durchscheinenden Briefes; aus irgendeinem Grunde wirkte die Handschrift, von der Rückseite des durchscheinenden Blattes aus, immer deutlich schöner als auf der Vorderseite, vielleicht, weil sie ein reines funktionsloses Ornament geworden war. Mit der Erinnerung war es ähnlich, da war das beschriebene Blatt schon umgewendet und wirkte im Verso üppiger, als es beim Niederkrakeln gewesen sein mochte.”.

Cornelius ist etwas wie eine Lichtgestalt. Achtzig Jahre alt und so gerade, als hätte er seinen Spazierstock verschluckt. Auch hatte er Karls neue Studie mit Gewinn gelesen; wenn Caesar meinte, er liebe den Verrat aber hasse den Verräter, scheine es ja bei Karl in seinem Brutus & Co wohl anders zu sein. Karl bewundert Cornelius: “Für die meisten Kollegen [und hier war Cornelius eben eine Ausnahme unter den Gelehrten] war ja Sprache ein Feuerstein, den sie lange schlagen mussten, bis ein Fünkchen sprühte.

Karl, der für sein Buch ausgezeichnet worden war, befürchtet eine Attacke von Manteuffel, der sich gerne mit Preisträgern anlegt. Statt dessen schenkt ihm Manteuffel sein letztes Buch: Watsons letzter Fall sogar mit Widmung: “Dem neuen Nachbarn und geschätztem agent litéraire”. Karls Freude dauert nur so lange, bis ihm klar wurde, dass er sich selbst in diesem Buch als komische Figur wiederfand! “Dieser alerte Stoffel sollte er sein? “ Erstmals besah der den Pavillon seines ICH, samt Augenzucken, abgewetzten Hemdkragen und ausgebeulten Taschen…. [Na, endlich, wenigstens eine Angabe zur Person!]

Es ist Herbst. Bewegend Bittner, der gesundheitlich immer weniger wird: verstärkte Schwermut, er stürze zuckend in den Schlaf wie ein verwundetes Tier; ein inneres Sibirien. und der eine neue, sehr grässliche Variante des Altwerdens schildert. Er hat auch einen Herzinfarkt hinter sich, verstopfte Herzkanäle und raucht nicht mehr. Schreiben fällt ihm immer schwerer. (Eigentlich müsste er das aber tun; seine Rente 628 Mark!) Immer noch ist er ein schöner Mann. Was aber das Schlimmste war. “Er hatte den Glauben an sein Werk verloren. Nichts würde von ihm übrigbleiben, DIE MASKEN DES TODES würden schon in wenigen Jahren im Modernen Antiquariat verramscht, die signierten Exemplare für ein paar Mark mehr. Obwohl er äußerlich oft Fortune gehabt habe, sei der innere Zweifel in ihm beständig gewachsen. Jetzt fülle dieser Zweifel ihn vollständig aus.”

 

Aber damit war er noch nicht am Ende, Bittners grausigster Monolog sollte noch kommen:. „Was wurde den Menschen einst verheißen, was hatte Moses seinem Volk prophezeit? Ein Land, in dem Milch und Honig floß.
Bittner legte den Artikel auf den Bistrotisch und strich ihn glatt.

 

Aber das war falsch. Es war anders gekommen. Milch und Honig? Ja, Milch und Honig waren durchaus im Spiel.

 

Hier stand es, der Artikel war von der letzten Woche. Orientalisten hatten auf Tontafeln eine bislang unbekannte Hinrichtungsart der Perser entschlüsselt. Die zum Tode Verurteilten wurden in einen Trog gesteckt, aus dem nur noch ihr Kopf herausragte. Und jetzt flossen Milch und Honig; denn damit strich man sie ein. Den Rest besorgten die dadurch angezogenen Würmchen und Fliegen.

 

Bittner goss etwas Wasser in sein Whiskyglas nach.

 

Konnte man sich das aber genau vorstellen, wobei die Wirklichkeit alle Vorstellung übertreffen mußte, und danach noch ruhig weiterleben? Er meinte: genau vorstellen? Wie es zuerst nur überall juckte und kribbelte und man sich nicht kratzen konnte? Wie die Fliegen ihre Eier in alle Mulden ablegten, wie das Gewürm in die Ohrmuscheln und Nasenlöcher kroch und sich allmählich in die Augäpfel fraß? Wie der unschuldig wimmelnde Pelz anwuchs und schließlich – aber Bitter brach ab; seine Augen blitzten. Seine Adlerphysiognomie, fand Karl, trat mit den Jahren immer stärker hervor.

 

Wer sich vorm Ausmalen dieser Polyphonie der Qualen nicht drücke und dann die Menschheit oder den Schöpfer nicht verfluche, der sei selber verflucht.

 

Bittner starrte in die Ferne. Er wirkte, als säße er selbst im Trog und wartete auf die ersten Fliegen. Nach einem weiteren Schluck sagte er:

 

„Man hatte die Verurteilten gefüttert. Sie verwesten bei lebendigem Leib. Zweieinhalb Wochen hat es sich hinziehen können, bis der Tod endlich eintrat. Der dann allerdings dem Paradies gleichgekommen sein muß.“

 

Arthur Bittner erhob sich, gab dem Marokkaner seine Zimmernummer, damit er für ihn bonieren konnte, entschuldigte sich für seinen Monolog und verschwand im wachsgelben Licht des Fahrstuhls, dessen Tür sich langsam und leicht ruckelnd hinter ihm schloß“.

 

Und dann kommt am nächsten Tag die Matinée, Bittner wird vortragen. Er braucht kein Mikrophon. “Bittner verwandelte sich, wenn er las oder blieb derselbe, aber warf die Lumpen, in die er gehüllt war, alles Äußere ab. Wie er modulierte, wann er die dunkle, fast heisere Stimme senken und wann er sie anheben würde, war nie vorherzusehen (…) Gäbe man ihm fünf Brote und zwei Fische, dachte Karl, er teilte sie aus und niemand hätte gedarbt! Das war die Kunst, die alle Kunst abgeschüttelt hatte und wie ein Laubbaum im Herbst ein ragendes Gerippe enthüllte, kahl, vernarbt und für den Winter bereit.”

Niemand wagte danach zu applaudieren, als wären sie in einer Kapelle. “Die Stille hatte den Saal vollständig ausgefüllt.”

Im Epilog folgt nun Bittners Beerdigung. Karl hofft auf Nora, die aber verständlicherweise nicht kommt, auch auf der Traueranzeige fehlt ihr Name. Aber unten den verschiedenen Bittners findet sich eine BEATRICE; was Karl nicht registiert. Verwunderlicherweise ist aber Woytek da, in zu großem dunkeln Anzug. Natürlich sind alle die oben aufgeführten Personen gekommen und der Geistliche, der ein altes chinesisches Märchen erzählt, in dem es um einen Gerechten geht.

Ach ja, als alles vorbei ist, sitzt Karl im Zug, und wieder ist ihm sein Bleistift ins Futter gerutscht ….   Karl ist ein trauriger Held – aber nicht nur er …

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Hier möchte ich etwas (es kommt in diesem Buch nicht vor!) aus dem Tagebuch des jungen Hebbel einfügen, 1837 hat er notiert: “Die erste Bitte, mit der ich in diesem angefangenen neuen Jahr vor den Thron der ewigen Macht zu treten wage, ist die Bitte um einen Stoff in einer größeren Darstellung. Für so mancherlei, das sich in mir regt, bedarf ich eines Gefäßes, wenn nicht alles, was sich mir aus dem Innersten losgerissen hat, zurücktreten und mich zerstören soll.”

PS : Es muss der Ehrlichkeit wegen gesagt werden: Michael Maar war mit unserer Interpretation seiner ‚Betrogenen‘ nicht einverstanden; wohl aber fand er das von uns unten ergänzte Hebbel-Zitat eine Trouvaille.

Aber wir haben gewissenhaft und gründlich gelesen und waren froh, die von uns gefühlte Zweiteilung des Textes in Traum und Realität meinten gefunden zu haben.

Nun gut, der Autor weiß, was er dargestellt hat und der Leser, was er verstanden hat. Es ist aber, auch der Gedanke sei uns erlaubt, unglaublich schade, dass Maar seinen Bittner bereits sterben ließ.

Der hätte – und das für lange Zeit – der Star seines Autors Michael Maar werden können. Er hat sich so stark in ihn hineinversetzt und ihn so wunderbar geschildert . .. ach, was hätte der noch alles erleben können, und jeder hätte sich auf und über eine Fortsetzung gefreut.

So leb denn wohl, Arthur Bittner — dir hätte ein längeres Leben vergönnt sein sollen!

 

Zum Autor:

 

Michael Maar, geboren 1960 in Stuttgart, lebt in Berlin. Für seine Dissertation über den Zauberberg Auszeichnung 1995 mit dem Merck-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (der er seit 2002 angehört) und 2000 mit dem Lessing-Förderpreis für Kritik. 2002 war er Gastprofessor an der Universität Stanford. Buchveröffentlichungen finden Sie alle, wenn Sie links bei KOHLIBRI nachsehen!