Warum Märchen unsterblich sind

Wieso lesen wir Märchen so gern als Kind und später genau so gern auch als Erwachsene? Außerdem ist es auffallend, dass wir als Erwachsene erstens erstaunt sind, wie kurz ein Märchentext ist, den wir als Kind als großes, buntes Panorama erlebt haben. Und zweitens verstehen wir als Erwachsene den Text völlig anders, neu. ´

Aber warum veralten Märchen eigentlich nicht? Michael Maar hat eine wunderbare, gelegentlich augenzwinkernde Art, Rätselhaftes aus der Literatur begreifbar zu machen. In diesem Fall führt die Spur nur scheinbar zuerst  zu  Grimms Märchen, die nahezu in jedem Haushalt sind: Aber deren eigentliche Quelle findet in sich Frankreich: Dort hat 1697 Charles Perrault Zaubermärchen gesammelt und herausgegeben, die damals im Umlauf waren.

Dann jedoch erfahren wir: “Was Märchen eigentlich sind, weiß keiner genau. Die Herkunft der Märchen verliert sich im Frühnebel der Zeiten. Märchen-Motive finden sich schon im ältesten literarischen Dokument der Menschheit, dem babylonischen Epos um den König Gilgamesch. Es ist auf Tontafeln überliefert und soll aus dem zwölften Jahrhundert v. Chr. stammen.”

Etwa hundert Jahre später als Perrault war es in Deutschland so weit: Man interessierte sich für alles Volkstümliche und Verschollene. Erst waren die Lieder dran, dann jedoch wurden die Brüder Grimm damit beauftragt, sich die Märchen und Geschichten anzuschauen, die so im Umlauf waren.

Die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm machten sich mit ungeheurem Fleiß ans Werk (alles handschriftlich zu notieren und in unzählige Zettelkästen zu sortíeren). Weihnachten 1812 erschienen die Kinder- und Hausmärchen, 475 Seiten stark. Warum auch immer, der sofortige Erfolg blieb aus, aber die dritte Auflage, an der die Brüder noch intensiv gearbeitet, gefeilt und verbessert hatten, wurde dann erfolgreich. Heute sind Grimms Märchen die erfolgreichste Märchensammlung der Welt.

Betrachtet man aber Märchen mit dem wachsamen Auge Michael Maars, gibt es doch tatsächlich allerlei Merkwürdiges, Erstaunliches und Kurioses rund um unsere altvertrauten Märchen, worauf man eigentlich nicht gekommen wäre.

Eigentlich, meint er, hat beispielsweise Dornröschen dumme Eltern: Hätten die besser aufgepasst, hätte sich das lange und exakt vorhergesagte Unglück leicht verhindern lassen. Überhaupt: Dass es an einem Königshof nur zwölf Teller gegeben haben soll und so eine Fee nicht eingeladen wurde? Wohl deswegen, meint er, weil man damals im besseren Haushalt eben von jeder Sorte zwölf Teller hatte.

Woher weiß Eisenhans (Märchen heißt auch so), im Keller schmachtend, vom Schlüssel zu seinem Verließ unter dem Kopfkissen der Königin ? Ganz verrückt die Geschichte von den einträchtig lebenden Mäuschen, Vögelchen und Bratwurst, bei denen der Rollentausch prompt schiefgehen muss.  Es ist auch eine recht unlogische Aufteilung bei den vier kunstreichen Brüdern passiert: Sie haben die Prinzessin gerettet, können sich nicht einigen, wer sie zur Braut bekommt: Da macht ihnen der König ein Ersatzangebot: Jeder von ihnen bekommt ein halbes Königreich. Jeder!! Aber, wenn das vorgelesen wird, hören die Kinder andächtig zu und der jeweilige Vorleser kommt gar nicht auf die Idee, mal etwas nachzurechnen und sich zu wundern. Vielleicht, weil alles ganz wunderbar ist.

Bei sehr vielen Märchen, stellt Michael Maar  fest, fehlt eine bestimmte Fee überhaupt auffallend oft: Das ist die Fee mit dem ‘Gesunden Menschenverstand’ – und so geht es in den Märchen oft erstaunlich unlogisch zu: Schneewittchen fällt immer wieder auf die verkleidete böse Königin herein, – hätte sie nicht ziemlich schnell aus Schaden klug werden müssen?   

Sind Hänsel und Gretel – so grausam, weil sich darin eine  Geschichte aus dem dreißigjährigen Krieg verbirgt – eine Zeit des riesigen Hungers, in der Unvorstellbares normal war? Der Entdeckungskünstler Michael Maar hat der Weltliteratur schon manche Geheimnisse abgelauscht, die nur er kennt. Sein dankbares Opfer sind hier die Märchen, bei denen er dem Leser klarmacht, dass es archaische, aus tiefen, vorzeitlichen Quellen schöpfende Gebilde sind,  denen die Gebrüder Grimm ihre wohlanständig bürgerliche Fassade verpasst haben. Michael Maar zeigt, wo es bei Rotkäppchen und Dornröschen anzüglich wird, warum es unter dem Machandelboom so grausam zugeht, aber,  – und da erklärt er auch den Unterschied zu den Kunstmärchen, und was der große Hans Christian Andersen in seine Meerjungfrau hinein geheimnist hat.

Jedoch enthalten Märchen eine seltsame Grammatik. Was versteckt sich eigentlich im Märchen  Rotkäppchen, die durch einen gefahrvollen Wald geschickt wird, was ist damit gemeint, dass sie sich vorm (Herrn) Wolf hüten soll, wenn sie zur Großmutter geht? Und trotz Warnung vom rechten Weg abkommt? Hier haben auch die braven Grimm-Brüder das, was bei Perrault erzählt wird, ein bissel ‘verfeinert’: Bei Perrault muss Rotkäppchen nackt mit dem Wolf ins Bett. So rum gesehen versteht man es: Vermutlich, seit es Menschen gibt, muss man die Jüngeren über Undinge des Lebens aufklären und davor warnen. So sagt man heute: Ich bring dich in die Disco – und fahr unbedingt dann mit dem Taxi heim.

Und auch die Frösche, der Schlamm aus dem sie kommen oder das Wasser – in all dem steckt eine überall gleiche, tiefere Bedeutung, sei es bei den Kelten, den Azteken, den Ägyptern bis zu den Indianern.

Maar berichtet aber auch von neueren Ergebnissen, die die Märchenforschung hervorgebracht hat. Bei Rotkäppchen beispielsweise vermutet man, die Wurzeln dieses Märchens reichten bis in die menschliche Vorzeit hinein, dass sich darin Erfahrungen aus der Bronzezeit festgehalten haben, vielleicht Reste von Druidenzauber oder grausigen Initiationsriten.

Denn lange Zeit wurde ja alles mündlich überliefert. Man hatte ja keine Bücher, kein Fernsehen: Man saß zusammen, wie es heute noch bei Naturvölkern zu beobachten ist, und erzählte sich was. Und mit den Erzählern änderten sich auch die Geschichten, und was aus sehr, sehr ferner Zeit stammte, wurde den gegenwärtigen Gegebenheiten eben angepasst. Aber der Kern, der blieb.  Und damit auch das Grausame, Unlogische und wohl auch die jeweiligen Happy-Ends – all das war das Salz in der Suppe. Und das ist es auch heute noch.

Mit seinen nur 76 Seiten ist das Buch angenehm schnell gelesen. Nicht zuletzt auch, weil der Autor ungemein fesselnd zu erzählen weiß – weil er ja selbst fasziniert ist von dem, was es hinter der Fassade der Märchen alles zu entdecken gilt. Nie ist er langatmig oder besserwisserisch dozierend. Nach diesen 76 Seiten jedoch sind Sie mit einem kompakten Wissensfundus über ein besonderes literarisches Gebiet endlich einmal so umfassend informiert, dass Sie in der Lage sind, die vertrauten, aber auch ganz unbekannte Märchen selbst deuten und verstehen zu können. Sie müssen es unbedingt lesen!

2012   Berenberg –Verlag ISBN 3-937834-53-2 ISBN 978-3-937834-53-5 |