Weil man sich hier gleich zuhause vorkommt: Bezauberndes aus dem Nachlass von Sarah Kirsch

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Wie jedesmal, klappt man ihre Tagebücher erwartungsvoll auf, kommt man auch in diesem Band sofort nach Hause. In ihrem verwunschenen Haus in Tielenhemme, diesen  gewissen, nur Ihr eigentümlichen Kosmos, ein bisschen erinnert es auch an einen Kokon, in den sie sich eingesponnen hat – aber dennoch sehr wachsam an dem, was in der Welt passiert, teilnimmt.

Das Tagebuch dieses Jahres ist dennoch anders, intensiver als die Vorgänger. Und man hofft im Stillen, dass noch einige solcher Tagebücher aus dem Nachlass veröffentlicht werden. Denn im Mai vergangenen Jahres ist Sarah Kirsch im Alter von 78 Jahren verstorben.

Dieses Tagebuch hat einen eigenen, ganz besonderen Glanz. Es hebt sich deutlich von den vorhergehenden ab, obwohl es zunächst so zufällig wirkt – und gerade deshalb ist es wie gefrorene Stunden, Tage, Monate.

Denn sie ist mitten drin in der Welt, wenn im fernen Washington seit einiger Zeit gezielt Menschen, auch Kinder erschossen werden, nicht verwunderlich, wenn jeder Waffen besitzen kann. In Moskau haben tschetschenische Rebellen ein Musical-Theater besetzt – ach, fällt uns auch wieder ein – Zuschauer haben sie als Geiseln genommen. Lakonisch stellt sie fest: Sie haben eine Seite im Internet. So macht man das heute.”Am 27. Oktober Uhren umgestellt.  “Wir stecken in einem Sturmtief., der gefingerte wilde Wein ist abgefallen. (…) In Moskau sind 119 Geiseln dem Reizgas erlegen

Es beginnt am 23.2.2002 – da ist sie 67 – und hat gerade einer G. ‘verklickert’, dass es, wenn sie ‘liest’, mindestens drei Lesungen sein müssen, damit es sich rentiert, sie sei schließlich keine achtzehn mehr – aber sie west im Haus herum, putzt, hört Radio und sieht auch viel fern, je nachdem sie interessante Sendungen ausgemacht hat. Sie lässt sich gegen ‘Influenza’ impfen und hat eine überaus fesselnde Lektüre:

Schon zu Lebzeiten galt Sarah Kirsch als Klassikerin, und sie hinterlässt ein umfangreiches, vielfach ausgezeichnetes Werk. In ihrer Lyrik schildert sie Seelenzustände voller hintergründiger Finesse und politischer Anspielungen. Trotz ihrer vordergründigen Einfachheit sind die Gedichte wie auch die Tagebuchaufzeichnungen alles andere als naiv.
Aus dem Nachlass der großen Dichterin vernehmen wir in „Juninovember“ diese unverkennbare Stimme in eigenwilligem Duktus und voll poetischer Kraft. In den Notaten aus den Jahren 2002/2003 blitzt die archaische Kraft der Natur auf, der Raureif und der dichte Nebel des Nordens, die Unterhaltungen der Rotkehlchen an der Futterstelle und »herrlich flimmerndes, flammendes Abendrot«.

Noch schöner als in den vorhergehenden Bänden sind  hier die Natur-Notate, mit denen sie diese Augenblicke bis zu uns ins Zimmer transportiert:

Nachts drängen sich
Blitze vor meiner Tür
Lärm breitet sich aus
Über die Ufer.

Da waren gefiederte
Eschenblätter feierlich
Ausgelegt

”Wir sind durch die herrlichen Köge gerauscht, der Sönke-Nissen-Koog schon mit gepflügten Feldern. Die Höfe mit ihren wunderbaren Scheunen und grünen Dächern sind ganz königlich.” (…)

Dichter Nebel m Morgen. Es ist ganz still unter dem weißen Zeug. … Entzückender Regen und flatternd Laub allenthalben.”

Die Möwen sind aus der
Stille entstanden die bis jetzt
Über den Koppeln hing

…Auf der Straße
Rennen die
Blätter wie
Mäuse.

  

Sie hatte es sehr gut da auf dem Land. Sie hatte einfach ein Stück Erde gefunden, was auch fruchtbar war die ganze Zeit für sie, im poetischen Sinne. Und so was ist ja toll, wenn man so einen Ort gefunden hat.

 

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Aus dem Nachlass der großen Dichterin vernehmen wir in „Juninovember“ diese unverkennbare Stimme in eigenwilligem Duktus und voll poetischer Kraft. In den Notaten aus den Jahren 2002/2003 blitzt die archaische Kraft der Natur auf, der Raureif und der dichte Nebel des Nordens, die Unterhaltungen der Rotkehlchen an der Futterstelle und „herrlich flimmerndes, flammendes Abendrot“. Immer wieder werden auch gesellschaftliche und politische Fragen wie die Geiselnahme in Tschetschenien oder das Vorgehen der Amerikaner im Irakkrieg kommentiert. Das unmittelbare Erleben und ihr eigenständiges Urteil hat sich die Dichterin bis zuletzt bewahrt.

 

 

 

Juninovember
von Kirsch, Sarah;
Gebunden
208 S. 20 cm 320g , in deutscher Sprache.
2014   DVA
ISBN 3-421-04636-0 ISBN 978-3-421-04636-9 19.99 EUR