„‚Kronhardt‘ gehört zu den außergewöhnlichsten und aufregendsten Veröffentlichungen des Jahres.“, Die Rheinpfalz, Frank Pommer.omzwkd32

Obwohl ich  – wie nahezu alle seiner Leser – nichts von diesem Autor wusste, mir diesen Autor aber jetzt merken werde,  dessen Kurzbiographie so aussieht:

Ralph Dohrmann, 1963 in Bederkesa geboren, wuchs in Bremen auf. 1998 veröffentlichte er unter dem Titel Perros/Hunde. Erzählungen aus Mexiko und einer unglaublichen Wirklichkeit seinen ersten Band mit Erzählungen. Für das vorliegende Romanprojekt erhielt er ein Stipendium des Deutschen Literaturfonds e.V.wuchs in Bremen auf. Er arbeitete u.a. als Reiseführer in Mexiko und Guatemala. Er lebt in der Nähe von Bremen.

Obwohl ich, wenn es ich um einen ‘Roman’ handelt, immer ein bisschen zurückhaltend bin, ob es sich lohnt, ihn zu lesen …  bin ich diesmal das Risiko eingegangen, und als das Buch Ostersamstag ankam, auch sofort mal kurz auf Seite Eins  hineingeschaut – und vor der letzten Seite nicht mehr mit Lesen aufgehört … – da war Ostern vorüber.

Denn das Lesen hat sich gelohnt! Auf fast magische Weise hält er uns fest, dieser bis dato unbekannte Autor. Mehr als zehn Jahre hat er an diesem Buch gearbeitet, und obwohl es eine erfundene Geschichte ist, werden einem die Personen bald wie Nachbarskinder ungemein vertraut werden  schade, dass auf Seite 920 Schluss ist.

Die Hauptperson ist Willem Kronhardt,  er ist vaterloser, eher verträumter  Erbe einer Bremer Stickerei-Manufaktur, dessen Kindheit und Jugend in die Zeit zwischen Trümmern und Wirtschaftwunder fällt, die dann sozusagen unterschwellig auch eines der Themen dieses Buches ist. Willem lebt bei seiner sehr dominierenden Mutter – sehr gut geschilderte harte Nachkriegs-Unternehmerfrau – und seinem Stiefvater, dem Bruder seines früh verstorbenen Vaters. Dessen Tod scheint zwar irgendwie dubios zu sein, aber er passiert beim letzten gemeinsamen Ausflug, einer Hafenrundfahrt von Vater und Sohn – zwischen denen wegen ihres so ähnlichen Charakters – eine tiefe Zuneigung und Verbundenheit besteht.

Willem und seine Mutter bleiben sich eher fremd, wenn Willem wohl auch eine gewisse, zielgerichtete, zähe Durchsetzungsgabe von ihr geerbt hat – dank derer er ihr ausweichen und entweichen kann, um sich in seine Gedankenwelt zurückzuziehen, die der ihren absolut unverständlich bleiben wird, denn ihre Gegenwart ist das amerikafreundliche Wirtschaftwunder, und der tiefsitzende Anti-Kommunismus.

Während In der Maschinenstickerei Kronhardt & Sohn die Maschinen  nach dem Krieg rattern, als wäre nichts gewesen, ziehen mehr als sechzig Jahre Bremer Geschichte, Deutscher Bundesrepublik an uns vorbei, aber dieser rasante Strom scheint aufgehalten und jenseits von Grenzen, wenn Willem und sein Freund Schlosser ihre ureigene Welt vor den Toren Bremens durchstreifen.

Einmal gilt es – natürlich durchziehen sie verbotenes Gelände – den Wächtern von Deutschmeisters Wächtern zu entgehen: Diesen Kerlen, die meist zu vorausberechenbaren Zeiten auftauchten, mit Hunden bewaffnet und das Emblem MSD auf den Uniformen.

“Willem hatte natürlich längst erkannt, dass diese Dinger bei Kronhardt & Sohn gefertigt wurden und er, der Sohn, wusste auch, in welcher Lade die Lochbandrolle für den Sicherheitsdienst lagerte. Er wusste, dass sich auf so einer Rolle gut fünfzehn Minuten Information befanden, die von einem Ende der Maschine zum anderen gesaugt wurden; achttausend Mal das Auf und Ab der Nadeln, achttausend Mal Vierkopf oder Achtkopf synchron geschaltet…. .

So zottelten die Jungs [Willem und sein Freund Schlosser] den Grubenrand hoch, die hellgebänderten Sedimente der Jahrtausende, vorbei an an Disteln und Ginster – “Dalli und faule Bande!” riefen die Männer. Über ihnen lachten die Dohlen, voran blitzte ein Eidechse … So ging es gegen den dünenhaften Rand, die nackten Füße im weißen Sand, im Treibgut der Eiszeit, und manchmal brachen Placken aus und rutschten abwärts. Der Wind langte in die Kolonien von Strandhafer, die Rispen zerstreuten das Licht; eine Lerche flog empor und ließ sich singend wieder fallen, und gegen die Wölkchen zogen Libellen ihre Linien. Es waren seltsame Bilder, und die Jungs stiegen voran wie Gefangene. … So stiegen sie den Grubenrand hoch, und hinter ihnen das Gebell wurde leiser. Bald sahen die Jungs eine Libelle; die mathematische Anmut ihrer Geraden, und sie spürten diesen Augenblick in sich, diesen Blick, wenn man frei ist.“

Dohrmann erzählt mehr als ein halbes Jahrhundert deutscher Geschichte. Und Geschichten von Menschen auf der Suche nach sich selbst. Aber jetzt  musste Willem lernen, diese Uniformen, die sein Emblem trugen, berechenbar zu machen. Diese faulen Säcke, die am Ende selber [wie ihre Hunde] schnappend und kurzgehalten an der Deutschmeister-Leine hingen.

Deutschmeister also. Ein solider Kunde, der solide Arbeit schätzte und offen war für gegenseitige Gefälligkeiten.   Wer hier auf Distanz gehen will, muss sich was einfallen lassen. Die innere Rebellion des Antihelden findet auf kleinstem Raum statt. Freiheit sucht er in Freundschaften und auf seinen Ausflügen in die Natur. Das Fernglas – immer dabei – wird zum Symbol. Die Blase, in der Wilhelm gefangen bleibt, kann es nicht wirklich durchdringen. Viele unerforschte Möglichkeiten des Lebens und der Natur blitzen in der Ferne auf, bleiben aber unerreichbar.

Aber nichts gerät weinerlich, Dohrmann holt noch viele andere Personen in dies Boot, andere Lebensumstände, Schicksale, Persönlichkeiten und sie geraten ihm auf geradezu perfekte Weise – was man doch alles mit diesen paar Buchstaben herbeizaubern kann! – wenn man es kann. Und das kann er – malen mit Worten, alles steigt um einen auf, Szene um Szene, Jahr um Jahr. Auch wenn es nicht immer gefällige Schilderungen sind – Wahrheit ist oft hart – bleibt man beim Lesen beglückt und zufrieden, denn so große Genauigkeit und diese perfekte Sprache findet man selten.

Willem rettet seinen inneren Kern vor den Zumutungen der ihn umgebenden Welt. Er nimmt sich Zeit für die schönen Dinge des Lebens. Für Literatur, Kunst und Wissenschaft. Für das, was Romantiker Herzensbildung nennen. All das gelingt ihm nur mit Mühe, letztlich aber vor allem mithilfe einer ebenso geschäftstüchtigen wie verständnisvollen Frau an seiner Seite, die ihm mit viel Empathie diese Freiräume lässt.

Es ergibt sich eine Ehe, in der jeder gerade von den Schwächen des anderen lebt – und Willem erinnert uns ein bissel  an den Taugenichts – was man nur zu gern liest. Wenn Willem zum Müßiggang tendiert – so zumindest empfindet die Umwelt einen, der sich hinter Büchern verschanzt oder bloß daliegt, um nachzudenken – kann seine Frau sich bei Kronhardt & Sohn selbst verwirklichen.

“Vor allem der Kopf!” hatte der Doktor gerufen. “Da  entsteht, was später als Welt erscheint, da keimt etwas, da wachsen im Grunde phantastische Möglichkeiten. Und doch verfestigen sich die jungen Köpfe ganz nach dem Muster der alten, erstarren innerlich und werden selber alt, sobald sie die nächste Generation auf die Welt werfen. Und dann geht das ganze Gezeter wieder von vorne los.”

Und hier ist in einem Kopf ein Stück wirkliche Literatur entstanden, ein Buch, das die Bestseller-Wellen überragt und überdauern wird. Freuen Sie sich darauf, es selbst zu lesen!

 

Kronhardt
von Dohrmann, Ralph;
Gebunden
Roman. 2. Aufl. 920 S. 22 cm 946g Mit Lesebändchen , in deutscher Sprache.
2012   Ullstein HC ISBN 3-550-08878-7  ISBN 978-3-550-08878-0  24.99 EUR