Von Lesern & Kritikern gleicherweise geliebt: Unvergessliche, reale Geschichten voller Sehnsucht, voller Humor und Empathie.

 „Verglichen mit den Sorgen und Nöten seiner finsteren Gestalten sind wir eigentlich nur Hühner, oder? Shakespeares Hühner. Wir machen ein unglaubliches Gegacker um lauter Kram – Prüfungen, Lockenstäbe, Handymarken, Geld – und wissen insgeheim doch alle, dass es nicht das Wahre ist. Dass nichts das Wahre sein kann hinterm Hühnerdraht.“

so denkt Fritzi, eine junge Gitarristin, über William Shakespeare nach.

Dramatische oder auch beglückende Wendepunkte im Leben schildert dieses Buch, dessen Sprache durch eine magische Genauigkeit besticht. Dieser magischen Genauigkeit begegnet man in allen Geschichten (auch den Romanen) Ralf Rothmanns, es fällt auf, sobald man anfängt irgendetwas von ihm zu lesen.

Am Beispiel einer der Erzählungen möchte ich hier das ganz Besondere dieses Autors, seine Kunst, oft ganz Gegensätzliches,  Unerwartetes zu verbinden,  erläutern; er gehört heute zu den Selteneren, deren Erzählweise unverwechselbar ist.

Genauigkeit = Das Kennzeichen von Dichtung

Woher das bei Ralf Rothmann kommt, sieht man an seinem Lebenslauf – und der war wohl gelinde gesagt gelegentlich etwas verzwickt: Am 10.5. 1953 in Schleswig geboren, wuchs er im Ruhrgebiet bei Oberhausen auf. Er machte eine Maurerlehre, arbeitete mehrere Jahre auf dem Bau sowie als Drucker, Krankenpfleger und Koch. Reisen durch Mexiko und Südamerika, endlich dann Schriftsteller in Berlin; jetzt hatte er dafür genug gelernt.

Ralf Rothmann sagt von sich selbst, er könne nur über das schreiben, was er kenne. Das merkt man in jeder Geschichte, sowohl was Gefühle anbelangt, als auch an präzise geschilderten Einzelheiten von Milieu oder Tätigkeiten.

‘Onkel Gabi’, in der Geschichte ‘Sterne tief unten’, es ist eine der schönsten, heißt in Wahrheit   Oswald Gabriel, ist keineswegs homosexuell; in den Büchern des Klinikums am Westkreuz wurde er als ‘Hilfskraft’ geführt.

 Poesie selbst aus der alten Pathologie ,

dorthin wird Onkel Gabriel aushilfsweise versetzt. “Man legte sie [die Leichen] in alte Zinkblechwannen. und schob die in rostige, aus alten Schienen zusammengeschweißte Regale, und öffnete jemand zum ersten Mal die Kühlkammern – es gab eine für männliche und eine für weibliche Leichen – mochte er einen Lidschlag lang denken, in Schlafräume voller Etagenbetten zu blicken.”  Und draußen:” In glasierten Töpfen schossen Rosmarin und Petersilie ins Kraut, und vor einem Jägerzaun, an dem hier und da Latten fehlten, stand ein rostiger Grill. Als der kleine Junge von gegenüber (dort Gesang. Klavierspiel und Cello) kommt, erklärt ihm Onkel Gabi, dies sei kein Operationsaal sondern nur ein Lager. Der Kleine heißt Vincent und erklärt, er sei ein Dichter, Schriftsteller wie sein Vater und seine Mutter singt.  Gerad ist ihm ein Gedicht eingefallen – und Oswald soll ihm helfen. Es ist ihm bei den toten Mäusen eingefallen, die die Katze verstümmelt ins Haus trägt; es sei noch nicht fertig, die Überschrift fehlt und auch der Schluss. Das sei aber normal ergänzt Vinzenz, man kann nicht immer inspiriert sein… Es sei eine Art Gespräch mit der toten Maus, in Reimen: Ich frag was, und die Maus antwortet. – ‘Maus, wo ist dein Schwanz?   — Ich verlor ihn wohl beim Tanz. usw.

Oswald kauft sich ein Reimlexikon

und kehrt in die Pathologie zurück. “Die Blässe des Gesichts [des kleinen Mädchens um die sieben, am Herz operiert, wie es schien] dagegen schien auf eine geheimnisvolle Weise über seine Konturen hinauszureichen (…) und als er sie anhob,fiel ihr langes Haar über seinen Unterarm. Da schloss er einen Moment lang die Augen.  (…)  ‘Was hat sie?’, ‘Ist sie ohnmächtig?’  fragte Vincent, der plötzlich in der offenen Hoftür stand. (…)  Nein, sie schläft, sie muss sich erholen, geh schon mal raus‘, erklärt Oswald, und Vinzent findet, es rieche komisch, so als wenn seine Katze gähnt.  “ Etwas später hockt der Junge auf einem der Plastikstühle – und blickte über die dämmrige Wiese. ‚”’ Wir reisen schon früher’, murmelte der Junge, als Oswald sich setzte. ‘Mama hat Krach mit eurer Oper’ (…) ‘Na freu dich doch’. sagte Oswald und kramte nach einer Zigarette, ‘andere Kinder würden gern so viel in der Welt herumgondeln.’ “  Dann fragt der Junge den riesigen Oswald, den er seinen Riesen nennt, er sei doch sein bester Freund? und Oswald erklärt dem Jungen, dem die Tränen herunterlaufen: Er sei sein Freund, sein Blutsbruder. Und als Oswald erfährt, dass der Junge nach Australien soll, erklärt er ihm tröstend, dass das da ist, wo die Sterne tief unter den Füßen leuchten.

Der Leichenträger Oswald hat das Gedicht  fertig                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                     .,

Er sagt, er hat es erst mal Maus-Blues genannt und liest es dem Jungen vor:  Die Frage mit gespielt dunkler Stimme, bei der Antwort ist seine Stimme so hoch wie möglich: ‘Maus wo ist dein Schwanz / Ich verlor ihn wohl beim Tanz / Maus wo hast Du deine Krallen / Ach, die sind mir abgefallen / Und die Ohren? / Auch verloren / und es endet: Und wer hat dein graues Fell /  Man verliert es schnell so schnell / Plötzlich spürt man eine Tatze / wird verschluckt und ist schon Katze. “ Und drüben beim Haus des Jungen fahren Wagen ab – aber der Junge findet das Gedicht prima, echt cool, wenn er auch den letzten Vers nicht ganz versteht.  Dann setzt er sich auf sein Rad; er muss jetzt nach Australien.  Etwas später war die Einfahrt dann leer, es wurde kühl und die ersten Sterne funkelten. Und Oswald meinte ihn in seiner leeren Hand  zu spüren, den warmen Hinterkopf des Jungen.

Kunstvoll das Geflecht eigentlich unvereinbarer Welten

Das ist die große Kunst Ralf Rothmanns. Er, der die genaue Kenntnis von Abläufen, wie beispielsweise die hier im Leichenkeller hat, dem jeder Handgriff, jeder Geruch hier vertraut ist, der dem großen, ungeschlachten, wortkargen und so feinfühligen Leichenträger eine einzigartige Gestalt gibt – wie auch dem absoluten Gegensatz dazu: der kleine  Junge, der Dichter ist und dauernd mit den Eltern umziehen muss – wie ein helles Gegenlicht dazu setzt, so lange, bis sie beide ganz hell aussehen … das muss man erstmal können! Und man liest diese Geschichte, in der gar nichts Mörderisches passiert, mit angehaltenem Atem.

 „Es ist ja nicht dieser oder jener Zustand, der das Leben ausmacht“, sagt Fritzi.
„Es sind die Übergänge, wie in der Musik. Manchmal denke ich, sogar der Tod ist nur ein Akkordwechsel.“

…heißt es in einer Geschichte. Das gilt immer, wenn Ralf  Rothmann zu erzählen beginnt: Er ist der unangefochtene Meister der langen wie der kurzen Prosa, hat Erzählungen geschrieben, deren Realismus von der Sehnsucht nach dem Unvermuteten befeuert wird, voller Humor und Empathie. Und deren Nachhall verändert. Man nimmt sich vor, mehr solcher Geschichten zu lesen, und die schon gelesenen nochmals. Sie werden auch von jenen gelesen, die gar nicht wissen, dass er ein metaphernreicher Lyriker von musikalischer  Alltagssprache sei; ein präzise beschreibender, selbstironischer Romancier mit meist  autobiographischen Stoffen aus seiner Jugend im Ruhrgebiet; dass es Teenager- und Bildungsromane sind über die Schönheit des Alltäglichen und erste Liebeserfahrungen mit ironisch-warmen�
Untertönen.

 

Über den Autor:

Ralf Rothmann, geb. 1953 in Schleswig, wuchs im Ruhrgebiet bei Oberhausen auf. Er machte eine Maurerlehre, arbeitete mehrere Jahre auf dem Bau sowie als Drucker, Krankenpfleger und Koch. Reisen durch Mexiko und Südamerika, Schriftsteller in Berlin. 

… und darum hat er so viel zu erzählen – und darum erzählt er so wunderbar …

Rothmann lebt seit 1976 in Berlin, wo er 1984 sein Debüt veröffentlichte, und wurde mit zahlreichen Literaturpreisen und Stipendien ausgezeichnet, u.a.  1992 Stadtschreiber von Bergen-Enkheim, Kranichsteiner Literaturpreis 2002, Evangelischer Buchpreis 2003, Wilhelm-Raabe-Literaturpreis 2004, Heinrich-Böll-Preis 2005, Max-Frisch-Preis 2006, Hans-Fallada-Preis 2008, Walter-Hasenclever-Literaturpreis 2010.

 

Erzählungen. 211 S. 20,5 cm 360g , in deutscher Sprache. �
2012   Suhrkamp  ISBN 3-518-42248-0