Die unten aufgeführten 29 Literaturkritikerinnen und -kritiker nennen monatlich – in freier Auswahl – vier Buch-Neuerscheinungen, denen sie „möglichst viele Leser und Leserinnen“ wünschen, und geben ihnen Punkte (15, 10, 6, 3). Die Addition ergab für den Dezember/Januar folgendes Resultat (in Klammern die Position der November-Bestenliste):

  1. REINER STACH: Kafka71

    Die frühen Jahre

    (2.-3.) S. Fischer Verlag, 608 Seiten, € 34,00** Punkte

    Die Verkäuferin von gegenüber, Schulnoten, eine Flugschau, Bordell- besuche und die Geschäfte des Vaters. Kafka schläft nicht, heißt es manchmal, und gemeint ist: Er duldete im Schreiben keine Fehler. Reiner Stach hätte sie aber sicher gefunden. Seine enzyklopädische Kafka- Biographie brauchte 18 Jahre, um fertig zu werden. Und ihr letzter Teil liefert den Anfang eines Lebens nach.

  2. BOTHO STRAUSS: Herkunft 69

    (1.) Carl Hanser Verlag, 96 Seiten, € 14,90** Punkte

    „Es ist ein kleines, ein schmales Buch, und es ist ein großes Buch, weil Botho Strauß darin nicht nur von seiner eigenen Kindheit erzählt, sondern das Erinnern schlechthin behandelt, indem er zeigt, dass es uns Menschen so nötig und unentbehrlich ist wie Nahrung, Liebe, Schlaf.“ (Hubert Spiegel)

  3. PATRICK MODIANO: Gräser der Nacht 46

    (-) Roman. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl.

    Carl Hanser Verlag, 176 Seiten, € 18,90**

    Punkte

    Der neue Roman des Nobelpreisträgers: Paris, als wäre es ein Film in Schwarz-Weiß, darin die Liebe zur rätselhaften Dannie.

    „Episoden eines geträumten, zeitlosen Lebens, die ich Seite um Seite dem trüben Alltagsleben entreiße, damit es ein bisschen Schatten und Licht bekommt.“

  4. SUSANNE KIPPENBERGER: Das rote Schaf der Familie

    (-) Jessica Mitford und ihre Schwestern Hanser Berlin Verlag, 624 Seiten, € 26,00**

    Punkte

    Sie war Kettenraucherin, Pünktlichkeitsfanatikerin, linke Enthüllungs- journalistin. Sie war mit Liz Taylor befreundet und überzeugte Kommunistin in den USA. Vor allem aber war sie eine von sechs Mitford-Schwestern, die mit Churchill und de Gaulle speisten und manchmal von Hitlers blauen Augen schwärmten. Damit war Jessica Mitford Teil einer Legende – eben das „rote Schaf“ ihrer Familie. „Dies ist bester, aufregender, manchmal auch witziger Lesestoff.“ (Verena Auffermann)

  5. JOHN BURNSIDE Haus der Stummen

    (-) Roman. Aus dem Englischen von Bernhard Robben.

    Knaus Verlag, 256 Seiten, € 19,99**

    Punkte

    „Niemand kann behaupten, es hätte mir freigestanden, die Zwillinge zu töten, so wenig wie es mir freistand, sie auf die Welt zu bringen. Jedes dieser Ereignisse war unvermeidlich, ein Faden im Gewebe dessen, was man mangels eines besseren Wortes Schicksal nennen mag — ein Faden, den weder ich noch sonst jemand hätte entfernen können, ohne das gesamte Bild zu entstellen.“

  6. HONORÉ DE BALZAC: Verlorene Illusionen

    (-) Roman. Übersetzt aus dem Französischen von Melanie Walz.

    Carl Hanser Verlag, 960 Seiten, € 39,90**

    Punkte

    „O Gott! Geld, koste es, was es wolle!“, dachte sich Lucien, „denn das Geld ist die einzige Macht, vor der diese Gesellschaft auf die Knie sinkt.“ – „Nein“, rief ihm sein Gewissen entgegen, „das ist der Ruhm, und der Ruhm ist die Arbeit! Die Arbeit!“

    Der bekannteste Roman aus Balzacs breit angelegter Comédie humaine ist immer noch ein Reißer.

  7. ULF ERDMANN ZIEGLER: Und jetzt du, Orlando!

(-) Roman. Suhrkamp Verlag, 219 Seiten, € 18,95** Punkte

Der eine krempelt im London vor der Jahrtausendwende einen Filmverleih um. Der andere arbeitet in der Plattenfirma nebenan. Sie haben sich was zu erzählen. Früher nannte man das „vom Hölzchen aufs Stöckchen kommen“, man kann aber auch sagen: Ein Konversationsroman für Männer. Es geht um Geld, um Wohnungen, um Frauen, um die Beweinung Christi und – vor allem – um die Filmgeschichte zwischen Billy Elliot und Lars von Trier – kurz und gut: Es geht um alles.

8.-9. MIRCEA CĂRTĂRESCU: Die Flügel

(-) Roman. Übersetzt aus dem Rumänischen von Ferdinand Leopold.

Zsolnay Verlag, 672 Seiten, € 26,00 ***

„Unlesbar hat Cărtărescu den Roman selbst genannt. Das stimmt. Mit Lesen hat das Erlebnis dieser Geisterbahnfahrt durchs Ende der Diktatur des Nicolae Ceaușescu nämlich nun wirklich nichts zu tun. Man wird hinein gesogen, mitgerissen in den Strudel der finsteren, fahlen Stadt, ins Bukarest Ende des Jahres 1989.“ (Elmar Krekeler)

„Die Flügel“ sind der dritte und letzte Teil der Orbitor-Trilogie.

(7.)

HANS MAGNUS ENZENSBERGER: Tumult

Suhrkamp Verlag, 287 Seiten, € 21,95* Punkte

„Hans Magnus Enzensberger hat sich immer getarnt. Er ist nie zu fassen gewesen. Alle seine Spuren – den Angry Young Man, den Revoluzzer, den intellektuellen Perlgeist – hat er immer sofort wieder verwischt. Wenn er

nun eine Autobiografie schreibt, muss man auf allerhand gefasst sein.“ (Helmut Böttiger)

10. THOMAS PYNCHON: Bleeding Edge

(-) Roman. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren.

Rowohlt Verlag, 608 Seiten, € 29,95**

Punkte

„Paranoia ist der Knoblauch in der Küche des Lebens. Man kann nie genug davon haben“, heißt es ziemlich am Anfang. Die erste Krise der Internet- Ökonomie, die Terroranschläge des 11. September, der Kampf der Gegenkultur gegen die Mächte der Finsternis – das Alterswerk eines Verschwörungsbeschwörers. „Pynchon beschreibt, was uns alle umtreibt, nämlich das Überwachtwerden, die Spuren, die wir im Netz hinterlassen, die Einschränkung der Freiheit in einem großen künstlerischen Zeitbild.“ (Denis Scheck in „lesenswert quartett“)

*Persönliche Empfehlung im Dezember/Januar von Lothar Müller (Berlin):

ALBERTO VIGEVANI: BELLE – ein Trugbild

Roman. Aus dem Italienischen von Marianne Schneider.

Friedenauer Presse, 128 Seiten, € 16,00

„Oft führen die Erzählungen und Romane von Alberto Vigevani, der 1918 in Mailand geboren wurde und 1999 dort starb, an Schwellen wie die von der Kindheit zur Jugend, von der Jugend ins Erwachsenendasein, oder an Orte des Übergangs, an das Ufer eines Sees oder die Peripherie einer Stadt. Der kleine Roman „Belle – ein Trugbild“ führt zwei Jungen zusammen, einen gesunden und einen kränklichen, einen, der dem Mailänder Bürgertum entstammt, und einen, der neu in der Stadt ist. Es sind die Jahre um 1933, in Deutschland kommt Hitler an die Macht, in Mailand ist es ein Thema, ob jemand eine „jüdische Nase“ hat. Die Jungen umstreifen einander wie misstrauische Hunde, sie träumen von Flirts, das wichtigste Mädchen, um das es geht, ist ein Geschöpf der Einbildungskraft. Darum heißt das Buch im Original „L’invenzione“, die Erfindung: es handelt nicht zuletzt von der Macht der Worte, von der Wirkung des Erzählens. Wer es liest, begibt sich in eine Schaukel, in der Erinnerung und Einbildungskraft auf und ab gehen.“ (Lothar Müller)

*** (vermutlich) schwierigere Lektüre

** (vermutlich) mittelschwere Lektüre

* (vermutlich) leichtere Lektüre

Literatur im SWR Fernsehen

Donnerstag, 4. Dezember um 23.15 Uhr

Sonntag, 7. Dezember um 8.45 Uhr „lesenswert“ mit Felicitas von Lovenberg Gäste: Michael Köhlmeier und Ulrich Raulff

Donnerstag, 11. Dezember um 23.15 Uhr

Sonntag, 14. Dezember um 08.45 Uhr „lesenswert sachbuch“ mit Walter Janson Gast: Thomas Kielinger

Sonntag, 21. Dezember um 10.15 Uhr (vorab in 3sat!) Donnerstag, 15. Januar 2015 um 23.15 Uhr

Sonntag, 18. Januar 2015 um 08.45 Uhr

„lesenswert quartett“ mit Felicitas von Lovenberg, Denis Scheck, Ijoma Mangold

Gast: Sibylle Lewitscharoff

Donnerstag, 29. Januar 2015 um 23.15 Uhr

Sonntag, 1. Februar 2015 um 08.45 Uhr „lesenswert“ mit Felicitas von Lovenberg Gäste: Nino Haratischwili u.a.

Literatur im Hörfunk

SWR2 Literatur

Dienstag, 2. Dezember um 22.03 Uhr

über die Bücher der Dezember/Januar-Bestenliste diskutieren

Eberhard Falcke und Hubert Spiegel, Moderation: Elmar Krekeler

http://www.SWR.de/bestenliste