Aus über 800 Titeln ausgewählt von Stiftung Buchkunst. – Mit Begründung der Jury: Damit auch Sie wissen, warum manche Bücher schöner sind als andere.

Im Folgenden die „25 schönsten deutschen Bücher“ 2014:

Allgemeine Literatur:
Marc Ritter und Tom Ising: „Das Allerletzte“. Riemann Verlag

Begründung der Jury: Der Tod ist das Allerletzte – und offensichtlich ein ergiebiger Stoff für dieses originelle Nachschlagewerk! Es animiert den Leser, die Grenzwertigkeit seiner Gedanken über den Tod zu überschreiten – ja, es sollte ein schönes Buch sein. Nicht, weil der Tod eine schöne Sache wäre, sondern um den eigenen Gedanken statt zur Verzweiflung zur Würde zu verhelfen. – Der feste Einband ist als Halbgewebedecke gefertigt, bei der aber etwas quer läuft; denn statt des dabei üblichen Geweberückens bezieht das Gewebe die gesamte Deckenbreite in Höhe des oberen Drittels, der Papierbezug wirkt wie eine festgeklebte Bauchbinde. Die Illustrationen in Punktiertechnik, der Manier wissenschaftlicher Zeichnung, bringen Lesers Erwartungen in einen Schwebezustand: Sachliches wie Erzählerisches mag nun kommen. So kommt es auch. Neben den funktionalen und gleichermaßen unterhaltsamen Zeichnungen sind Fotografien aus Kultur- u­­nd Alltagsgeschichte satt und tonwertreich auf das mattsaugende Buchpapier gedruckt; elementar typografierte Aufzählungen und Tabellen tragen weiterhin zur Auflockerung des dennoch als Lesebuch konzipierten Ganzen bei. Wenn man möchte, lässt sich die Schriftmischung so deuten: Eine völlig klassische, gut aufrecht stehende und wunderbar lesbare Serifenschrift, die an barocke Zeiten erinnert, in denen die Darstellung von Morbidität in höchsten Kunstformen verfeinert wurde, wird kombiniert mit einer halbfetten Grotesk für Überschriften und Auszeichnungen – in ihren hohen Oberlängen und bauchigen Versalien eine Reminiszenz an den Neuschöpfungswillen der 1920er und -30er Jahre. – Dies Buch gewährt vielleicht manchem einen vorweggenommenen Trost, da es doch so viel Interessantes auf solch elegante Weise über den Tod zu erfahren gibt, als dass mit ihm bloß alles vorbei sei. Es möge nicht unsere allerletzte Lektüre sein!

Allgemeine Literatur:
Paul Auster: „Winterjournal“. Rowohlt, 19,95 Euro

Begründung der Jury: Um einem Manuskript die Gestalt eines Buches zu geben, braucht es im herstellerischen Tagesgeschäft eigentlich nicht viel. Buchstaben einfließen lassen, zwischen Pappen pressen, Titel auf den Schutzumschlag, drumgelegt, fertig. So wird es zwar meistens gemacht, führt aber oft zu einem Ergebnis, vor dem man sich scheut, es als Buch zu bezeichnen. Die Autobiografie „Winterjournal“ stellt keine besonderen Ansprüche an die Gestaltung. Und die Buchgestalter wittern hier auch nicht die Chance, sich selbst zu verwirklichen. Dennoch führt bereits ein wenig Aufmerksamkeit zu einem attraktiven Buchkörper: Auf dem kratzfest mattcellophanierten Umschlag dominiert ein schwarzweißes Jugendfoto des Autors in besonders spannungsreichem Anschnitt. Das Schildchen simuliert eine Aussparung im Umschlag, das Graublau einzelner Buchstaben, der Rückseitenfläche und von Kapital- und Zeichenband wirkt wie verblasste Tinte, die 30er Jahre-Versalien klingen nach vergangener Moderne, das Lineament auf dem weißen Einband ist Schreibheftzitat. Wunderbar, wie zurückhaltend das Thema angedeutet wird: Reflektieren des Altwerdens. Satzspiegel und Schrift sind traditionell proportioniert, das heißt einfach: mühelos lesbar. Aber etwas ist eigenartig: Die sehr langen Absätze sind so lang, dass sie eigentlich Abschnitte sind. Sie werden mit Leerzeilen voneinander getrennt. Das führt zu einer ungemeinen Ruhe auf den Seiten, sogar zu Doppelseiten mit glatten Satzrändern. Und dass der Buchblock klebegebunden ist, tut dem unprätentiösen Buch keinen Abbruch. So wie es aussieht − ein ganz normales Buch.

Allgemeine Literatur:
Sebastian Löscher: „Making Friends in Bangalore. Mit dem Skizzenbuch in Indien“. Büchergilde Gutenberg, 19,95 Euro

Begründung der Jury: Mit dem Skizzenbuch unterm Arm im indischen Bangalore − das ist die gezeichnete Geschichte des Illustrators Sebastian Lörscher. Die Publikation besteht nun nicht aus dem ganzen faksimilierten Skizzenbuch. Lörscher schildert episodenhaft, was ihm alles widerfuhr, gerade weil das Zeichnen auf der Straße das bestimmende Medium zur Kontaktaufnahme in der fremden Welt war. Das rote Skizzenbuch spielt die Hauptrolle, daran erinnern das Format der klebegebundenen Broschur, der dreiseitig rote Farbschnitt und Innentitelvignette. Die Cartoons haben einen klassisch-filmischen Aufbau, sie wirken wie gezeichnete Clips. Die Doppelseiten sind klar und spannend komponiert, die Panels mal als Schnappschüsse, als Sequenz und mal als Wimmelbild konzipiert; und zwischendrin einzelne aus dem Skizzenbuch reproduzierte Seiten, so dass man hin und wieder dem Zeichner direkt über die Schulter schauen kann. Mit einem sehr reduzierten, flott-krakeligen Duktus hält sich die Farbigkeit vorwiegend an deutlichem Rot, Gelb, Blau und Grün, ohne einen Ton zu bevorzugen. Das ist ein schöner Kunstgriff, die indischen Farbexplosionen zu verarbeiten. Alle Texte sind handgelettert, das ist nicht nur im Medium der
Graphic Novel (hier der Graphic Journey) üblich, hier ist es auch eine Anspielung an die für uns fremdartigen indischen Schriften. Alles superb gedruckt auf dem kräftigen matten Werkdruckpapier,
und köstlich das Ganze besonders für den, der Indien schon einmal erlebt hat.

Allgemeine Literatur:
Octave Mirbeau: „628-E8“. Weidle Verlag

Begründung der Jury: Ein grau wirkender Papierklotz liegt auf dem Tisch. Ein Griff nach dem Kartonumschlag − und schon ist man magnetisiert. Unmittelbar ab der U2 verrätselt eine Folge von doppelseitigen Schwarzweißfotografien, Nah- und Detailaufnahmen altertümlichen technischen Gerätes, den Buchtitel „628-E8“ − als wenn dieser nicht schon kryptisch genug wäre. Aber gleichzeitig wird die Fährte gelegt: Es handelt sich um das Tagebuch einer Reise, die Octave Mirabeau mit seinem Automobil (Kennzeichen 628-E8) im Jahre 1902 unternahm. Ein extravagantes Unternehmen. Man stelle sich die Beschaffenheit der Straßen vor. Aber sofort möchte man ins Vehikel steigen, zumindest in die Lektüre einsteigen. Alles nimmt Fahrt auf. Toll ist gleich die erste Berührung des Rückens, wenn man die Fadenheftung durch die Broschur hindurch spürt. Dadurch lässt sich das dicke Buch wunderbar aufschlagen. Die Schrift ist mit Bedacht gewählt, sie hat etwas Journalartiges und passt wunderbar zur (19.) Jahrhundertwende. Mit der Einfassung des Anmerkungsapparates in weitere Folgen von Fotodoppelseiten − zusammen mit Umschlag und dem Bucheinstieg – ist man für die Beschäftigung mit dem beträchtlichen Textumfang bildlich ausreichend geimpft. – Eine Botschaft an die Buchwelt: Der Inhalt wird visuell trefflich umspielt, was dem Leser in Verbindung mit vielen feinen typografischen Details einen erlesenen Lektüregenuss verschafft. Eine Bemerkung für die Dogmatiker unter den Setzern: Schusterjungen werden akzeptiert und Trennungen am Kolumnenende in Kauf genommen. Das macht das Leben leichter.

Allgemeine Literatur:
Georg Klein: „Die Zukunft des Mars“. Rowohlt, 22,95 Euro

Begründung der Jury: Man merkt es schon auf den ersten Blick, das hier sollte das schönste Buch der Welt werden − und dieses Vorhaben ist wahrlich gelungen! In diesem Buch wird so meisterlich die ganze Klaviatur der Buchgestaltung abgespielt und dazu noch ein echtes Feuerwerk abgefackelt, dass es eine wahre Freude ist. Das gedämpft leuchtende Orange des dreiseitigen Farbschnitts nimmt genau den Ton des Gewebes auf, das grünlich dämmerige Dunkel vom Papierbezug des Halbleinenbandes umhüllt das wie ein Guckloch tiefer gelegte kreisrunde Schild, der Titel im Kreissatz glanzfoliengeprägt wie Reflexe aus einer fremden Welt. Der leicht außerirdische Eindruck trügt nicht: Der Roman spielt auf dem Mars. Petrolfarbenes Vor- und Nachsatz steigern den Kontrast zu dem regelrecht glühenden Farbschnitt. Weil zwei Farben immer zueinander passen, entscheidet ein Detail − das weinrote Kapital- und Zeichenband − die Klangfarbe. Im Innern ist die Schrift klassisch eingerichtet, mit bemerkenswert großen Einzügen. Unklassisch hingegen die Kapitel- und Abschnittsanfänge im Kreisbogensatz mit orangefarbenen Groteskversalien. Solche Sorgfalt, solchen
Charme in der Auswahl aller Ausstattungsmerkmale trauen wir eigentlich nur Marsianern zu. Selbst die sechs Vakatseiten am Schluss sind bedeutsam.

Wissenschaftliche Bücher, Schulbücher, Lehrbücher:
Hugh Raffles: „Insektopädie | Naturkunden“. Matthes und Seitz, 38 Euro

Begründung der Jury: Insektopädie, so der deutliche Titel. Als wenn sich in magischer Allianz von Autor und Gestalterin das Insektische der Insektenwelt mit einem Schnips in Buchform materialisiert hätte. − Die sehr flexible Buchdecke in zweifarbig schillerndem Einbandgewebe − violetter Faden auf grasgrünem Hintergrund −, die matte dunkelblaue Prägung von Schattenrissen der kleinen Tierchen und das leichte matte Buchpapier lassen den breiten Quartband zum Handschmeichler werden. Im Innern erleben wir einen ruhigen Satz mit breitem Außensteg als Marginalspalte, aus der sich im Wesentlichen kleinformatige Bilder in die Kolumne schieben. Diese illustrativen Fotos ohne separate Legende – die verweisenden Stichworte im fließenden Text fett gesetzt (tolle Sache) – sind zweifarbig angelegt, mit irisdruckartigem Übergang von einer hellgrünen in eine dunkelviolette Seite. Das sind die beiden Farben auch für den ganzen Text − eine gewagte Sache. Zauberhafte, schematische Insektenillustrationen als Kapitelvignetten, selbstredend zweifarbig, versöhnen den Insektenphobiker. Dieses Buch ist das Ergebnis eines aufwändig recherchierten anthropologischen Projekts und einer mutigen, empathischen und sorgfältigen Ausstattung.

Wissenschaftliche Bücher, Schulbücher, Lehrbücher:
Peter Krüll (Hrsg.): „WHO but“. Magazin der Fakultät Design der TH Nürnberg, 20 Euro

Begründung der Jury: Das Magazin der Fakultät Design an der TH Nürnberg bewältigt die selbstgewählte inhaltliche Komplexität durch die Mittel rationaler Typografie der 1960er Jahre. Es geht um Positionen über und im Design. Bereits der Umschlag trägt das redaktionelle Prinzip als Relief: Der Einspruch „but“ als Blindprägung. Sehr prägnant auch, wie sich die weißen Außenseiten mit dem schwarzen Farbschnitt verklammern. Das Schwarzweiß-Spiel als Darstellung der Meinungspole, und das Konzept der Gegenüberstellung konträrer Ansichten als produktiven Anreiz, darüber zu reflektieren, dass es immer ein „aber“, ein Auch-anders-sein-können gibt. Daher
erschließt sich das Material über drei verschiedene Inhaltsverzeichnisse, je nach Benutzerbedürfnis. Den Textsorten sind verschiedene Schrifttypen, verschiedene Grade, verschiedene Spaltenbreiten zugeordnet. Papierwechsel sorgt für weitere Differenzierung. Typografisch wird ein regelrechtes Musterbuch geboten über die Lesbarkeitssteuerung mittels Einzügen, Satzbreiten und Spaltenpositionierung. So kann man sich wunderbar durchs Dickicht der Argumente hangeln. Merke: Es könnte alles auch anders sein.

Wissenschaftliche Bücher, Schulbücher, Lehrbücher:
Silvio Borner: „Über Schulden und Überschuldung. Warum die Politik versagt“. Verlag Neue Züricher Zeitung, 30 Euro / Jens Lundsgaard-Hansen: „Energiestrategie 2050 − Das Eis ist dünn“. 33 Euro/ Hans J. Roth: „Die Krise des Westens“. 34 Euro

Begründung der Jury: Die Sachbuchreihe der Neuen Zürcher Zeitung sieht auch sachlich aus. Sachlich, jedoch nicht langweilig oder öde oder bloß pflichtbewusst dahingedruckt. Sachlich heißt hier, dem Fließtext eine angenehme Serifenschrift zu gönnen, sie gut lesbar zu setzen, das Seitenformat ökonomisch auszunutzen, ohne dem Horror vacui zu verfallen. Auffallend sind die breiten Bundstege; Pagina und Kolumnentitel sind undogmatisch, weil asymmetrisch auf die Doppelseite gesetzt, die Absatz- und Überschrifteneinzüge sind mit etwa drei Cicero üppig bemessen. Mehr braucht es eigentlich nicht, um sich zu moderner Seriosität zu bekennen. Die Idee für den Reihencharakter im Äußeren der Serie hat sachlichen Pfiff: Ein denkbar einfaches geometrisches Muster überlagert sich von Band zu Band in neuer Farbe, die auch den Ton auf dem umlaufenden Farbschnitt angibt − statt eines oft verzweifelten Versuches, komplexe, abstrakte Themen mit gegenständlichen Bildern zu visualisieren. Alles in allem macht sich damit auf den beladenen Tischen der politischen Redaktionen trotz aller zurückhaltenden Sachlichkeit diese elegante Publikation bemerkbar, als Einzelstück oder als Folge.

Wissenschaftliche Bücher, Schulbücher, Lehrbücher:
Christina Schmid: „Vom Punkt zur Kugel und zurück“. Prima. Publikationen, 25 Euro

Begründung der Jury: Oha − da kommt Arbeit auf uns zu. Das unter den Klarsicht-PVC-Umschlag geklemmte Geodreieck riecht nach Schule. Aber die Spiegelkartons? − Einmal zögernd den Inhalt als Daumenkino durchblätternd, sieht alles eher aus wie ein großen Spiel. Es ist als Geometriebuch für Kinder im Grundschulalter konzipiert. Auf die Idee einer kreativen Elementarlehre deutet nicht nur im Inhaltsverzeichnis die Anspielung auf Kandinskys „Punkt und Linie zu Fläche“, auch der Einsatz der drei Druckfarben − Blau, Rot und Grün − könnte die modernisierte Variante der Bauhaus-Testfarben sein. Modern, weil wir ja heute mit RGB auf dem Display sozialisiert werden; und dort gehört das Grün zu den Grundfarben. – Die enorme hohe didaktische Dichte des Werkes wird von den freien Seitengestaltungen überspielt. Die tuffig verteilten Grafiken, die kurzen, präzisen Texte, das quadratische Buchformat, das matte Papier, auf dem sich mit Stiften aller Art wunderbar zeichnen lässt, die Schutzhülle − sämtliche Teile sind so sinnvoll aufeinander bezogen, dass natürlich auch hier die Formel greift: form ever follows function. Die funktionalen Aspekte: Spaß, Neugier, Interaktion, Wissen. An vielen Stellen schlägt der in der Detailgestaltung der Humor der Autorin, und man freut sich über jede neue Seite. Dieses Buch beweist: Geometrie kann heiter, hell und sinnlich sein − und sie macht Spaß! − Auch wenn es den ein oder anderen Didaktiker irritieren mag, dass Funktionalität so irregulär erscheinen kann, werden die Pädagogen in Kultusministerien und Schulbuchverlagen bei diesem Buch aufmerken − zumal die Crowd dessen Finanzierung gesichert hatte. Was spricht dagegen, dass nicht auch offizielle Schulbücher so aussehen?

Wissenschaftliche Bücher, Schulbücher, Lehrbücher:
Paul Schatz u.a.: „Architektur und Umstülpung. Studien zum organisch-dynamischen Raumbewusstsein. Ein Schulungsweg für Architekten“. Verlag am Goetheaneum, 39,80 Euro

Begründung der Jury: Der in Gramm schwere Band erschließt die technisch-künstlerischen Studien in Text und Bild des Anthroposophen Paul Schatz. Sie sind eingebettet in umfangreiche Kommentare. Das große Format, das schwere, feine Papier, glasklarer Druck, sehr gute Aufschlagbarkeit lassen den Anspruch der Publikation an Wert und Zeitlosigkeit erkennen. Das hellblaue Einbandgewebe
zusammen mit dem strahlend blauen Kapital- und Zeichenband hebt den Band in Sphären der Luftigkeit. Pappendicke und Stehkanten des Einbandes sind so schön proportioniert, dass man
den Schutzumschlag abstreifen möchte (was man von einigen Bibliomanen hört, dass sie dies grundsätzlich tun), um die würdige blaue Rahmung zu genießen, die sich um das aufgeschlagene
Buch legt. Die Mischung von Grund- und Auszeichnungstype passt perfekt, denn die Wahl fiel auf eine Schrift, die in zweierlei Gestalten existiert − mit Serifen und als Serifenlose. Der gravitätische, aber lichte Satzspiegel wird sparsam aufgelockert durch verschiedene Bildformate; Bildtafeln mit Faksimilierungen, Fotografien und geometrischen Diagrammen wechseln sich ab. So liegt eine in allen Belangen wachsame Studienausgabe vor − wissenschaftlich, schöngeistig und repräsentativ.

Ratgeber, Sachbücher:
Mike Hofmaier: „Verfassung verstehen. Das Grundgesetz in Infografiken“. Verlag Hermann Schmidt Mainz, 39,80 Euro

Begründung der Jury: Die Begegnung mit diesem Werk könnte etwa so ablaufen: Neugier. Über die fein ausgestalteten, im Tonus homogenen Grafiken und Schaubilder, die ordnende, klare, animierende Typografie und die Konsequenz der Stilmittel. Geschmackvoller Einband, angenehme Farben, Zusammenspiel aller Materialien. Ein informativ-dekorativer Zahlenakt. Dann: Verdacht. Es beschleicht einen das Gefühl, der Inhalt von heiliger Bedeutung diene einem grafischen Virtuosen lediglich als Anlass zur Aufführung seiner Fertigkeiten. Man mag das Buch schon fast verärgert aus der Hand legen, weil es doch nur ornamentalen Selbstzweck habe, jene Aneinanderreihung von
sinnfreiem, wenn auch hübsch aufbereitetem Grafik-Gedöns. Doch nun: Magnetisierung! Die Mühe der Visualisierung abstrakter Information, also der Entschlüsselungsarbeit des Autor-Gestalters lohnt, wenn der Leser diese Arbeit würdigt, sich seinerseits in die Entschlüsselungsarbeit begibt und dann zu Würdigung und Dankbarkeit der Arbeit derer kommt, die unser Grundgesetzt zustande gebracht haben. Und: Dieser visuell-didaktische Kommentar regt auch die Frage an, ob es eine Schönheit des Rechts gäbe.

Ratgeber, Sachbücher:
Walter Rüegg, Roger Thiriet, Klaus Neumann-Braun (Hrsg.): „On Air. 30 Jahre Lokalradio in der Schweiz“. Christoph Merian Verlag, 32 Euro

Begründung der Jury: Eine reizvolle Aufgabe: Gestalten Sie den Jubiläumsband der Schweizerischen Privatradioszene. Da wird es schnell knifflig. 36 Radiostationen, heterogenes Material, verschiedene Textsorten stellen die Frage: Betont man die Eigenständigkeit der Sender oder passen sie unter ein Dach? Die sachliche Typografie, laut in den Überschriften, kommod im Text, entscheidet sich für einen großen Guss. Einführungen, Bildteil ein bisschen wie im Familienalbum, Interviews, Senderportraits, Anhänge erhalten ihr eigenes Gepräge. Die Abschnitte werden mit atmosphärischen Schwarzweißfotos und Schmuckseiten eröffnet. Ein abwechslungsreiches Innenleben mit feinen Details; die Schmuckfarbe wechselt für die knappen Senderportraits von Blau zu Grün. Dort visualisiert eine wunderbare Bildidee das Schweifen der Radiowellen über die Lande: der Blick mit der fotografischen Linse direkt über einer topografischen Landkarte, den Senderstandort mit einer Nadel markiert und diese mit einem QR-Code bekrönt. Dies ist der zweite Clou des Buches, die Verzahnung von Print und Digital, so dass man mit nur wenig Tupfen auf dem Handy zum passenden Hörgenuss kommt. Der erste Clou: Das Buch von außen. Der Einband in schwarzem
Kunstleder, der Titel mit Frequenzsuchübersicht, der verkürzte Umschlag in spiegelndem Karton mit Lochmuster, durch das in leuchtroten Versalien der eigentliche Titel durchschimmert − On Air. Ein sprechendes Objekt, ein Denkmal für die Schweizerische Radioszene.

Ratgeber, Sachbücher:
Kat Menschik: „Der goldene Grubber“. Galiani Berlin, 34,99 Euro

Begründung der Jury: Wenn Gartenzwerge und Verehrer des Jugendstils in der Jury säßen, die Prämierung dieses Unikums wäre keineswegs gewiss: Grüne Idylle, praktische Tipps und betörende Fin-de-Siècle-Anmutung werden empfindlich gestört durch fulminante Stilwechsel in der Illustration von Cartoon bis zu Anarchostyle. − Es ist eine Parodie aus Verzückung, sie wird auf die Spitze getrieben durch eine bunte Folge von aufwändig gemalten Lebensbildern. Ansonsten ist alles getunkt in dezent enervierendes Spinatgrün, ebenso der umlaufende Farbschnitt. Die opulente Umschlaggestaltung darf zusätzlich mit Goldprägung prunken. Auch die „Gartenlaube“ wird nie in einen prächtigeren Einband geheftet worden sein! − Dieses Erlebnisbuch mit großem Spaßfaktor nimmt den Floristen für sich ein. Es ist souverän illustriert und perfekt ausgestattet. Zusätzliche Freude bereitet das Beigabetütchen mit Akeleisamen aus dem Garten der Illustratorin. Die zweite Folge des Goldenen Grubbers ist angekündigt, vielleicht leider erst in zehn Jahren.

Ratgeber, Sachbücher:
Ernst Fischer, Stephanie Jacobs (Hrsg.): „Die Welt in Leipzig. BUGRA 1914“. Maximilian-Gesellschaft, 68 Euro

Begründung der Jury: Ein kleines knallgelbes Buch, ein auffälliger Klotz, 800 Seiten dick. Man greift sofort zu, weil es so griffig aussieht wie es ist. Diese Publikation erscheint zum 100. Jahrestag der Bugra. Das Ausmaß und die Bedeutung der Leipziger Weltausstellung für Buchgewerbe und Grafik im Jahre 1914 geriet bald in Vergessenheit, überschattet vom Beginn des Ersten Weltkrieges. Im Format wie der Baedeker-Reiseführer, in Einbandfarbe als Anspielung an die Elektrifizierung, in ähnlichem Umfang wie der damalige Katalog ist das Lesebuch mit zahlreichen Abbildungen
ein Führer durch die Kulturgeschichte dieser Leistungsschau. Der Inhalt beginnt wortlos mit einem Fotoessay über den heutigen Zustand des ehedem weitläufigen Ausstellungsgeländes. Die
zahlreichen Aufsätze sind so geschickt proportioniert, dass die im Vorderschnitt als ganz feine bunte Linien erscheinenden farbigen Kapiteltrennblätter einen rhythmischen Takt schlagen. Dunkelgraues
Vorsatz, dunkelgrauer Kopfschnitt lassen das ohnehin präsente Volumen noch plastischer erscheinen. Die mutige Wahl der Grundschrift, eine recht breit laufende Antiqua mit gering ausgeprägter Oberlänge, findet einen eleganten Partner in der in sehr kleinem Grad gesetzten feinnervigen Serifenlosen. Viele querformatige historische Bilder füllen gestürzt die Seiten. Ja, warum denn nicht? Sie sind Zitat historischer Gestaltungsmittel, die auch heute noch angemessen sein können. So gelingt dieser Buchgestaltung ein Kunststück, nämlich ein heutiges Buch ohne Retro-Allüren in Form zu bringen und zugleich mit historischem Bewusstsein anzureichern − damit das große Unternehmen der Bugra seine gehörige Erinnerung erfährt.

Ratgeber, Sachbücher:
Herbert Renz-Polster, Gerald Hüther: „Wie Kinder heute wachsen – Natur als Entwicklungsraum. Ein neuer Blick auf das kindliche Lernen, enken und Fühlen“. Beltz, 17,95 Euro

Begründung der Jury: Dieser pädagogische Ratgeber reflektiert die landläufigen wie die professionellen Einstellungen über Kindererziehung und unterzieht die Frage nach dem Gedeihen unserer Kinder einer Ausrichtung auf die Rolle, die die Natur dabei spielen sollte. Schon der Einband atmet so viel Raum, obwohl so viel draufsteht. − Die Feinfühligkeit in dem hohen Ansinnen und dem Vorgehen der beiden Autoren spiegelt sich in Gestaltung und Materialität dieses Buches. Sie teilen sich ihre Aufgabe. Die Kapitel erhalten am Ende eine Unterfütterung aus neurologischer Sicht. Sie werden mit dem Zahlwort durchnummeriert, nicht mit der Ziffer. Dies als geschmeidiger typografischer Hinweis darauf, dass das Ganze ordentlich, aber eben nicht dogmatisch strukturiert ist. Die warme und dabei sachliche Atmosphäre der Buchseiten ist zurückzuführen auf die von ruhiger Hand dosierten Gestaltungsmittel. Hervorragend − und brillant auf dem glatten Werkdruckpapier gedruckt − ist die Bebilderung mit intensiven und assoziationsreichen Fotografien, obwohl die Motive weitgehend herkömmlichen Bildarchiven entnommen wurden. − Dies Buch liest der Erwachsene doch gleich für sich selbst mit, um zu bedenken, wie es um ihn in seiner eigenen Heranreifung bestellt war.

Kunstbücher, Fotobücher, Ausstellungskataloge:
Trine Søndergaard: „Stasis“. Hatje Cantz, 45 Euro

Begründung der Jury: Der Einband ein dunkler Raum. In schwachem Lichtkegel eine leicht geöffnete Tür. Nirgendwo ist es richtig hell. Selbst der knappe kryptische Buchtitel liegt irgendwo im Graudurchschnitt des Bildes. Ewas Unheimlich ist es, aber die heimliche Neugierde danach fütternd, was sich wohl im Dunkel hinter dem Spalt verberge, bis man den Buchdeckel leise lüftet, als wenn ein Verbot gebrochen würde. − Dann klebt links auf dem Vorsatzspiegel ein großes dünnes Heft in leichtem Papier, rechts der grau gefälzelte Buchblock. Dort, in dem sehr stumpfen Hochformat, entwickelt sich rechtsseitig die Serie quadratischer Fotografien, die linken Seiten bleiben vakat. Verlassene Innenräume eines herrschaftlichen Hauses wechseln mit Brustbildern von Frauen in historischer und heutiger Gewandung. − In dem eigentlich stummen Konzept finden sich Worte und historische Bildbeispiele, die das Kunstobjekt ikonografisch lokalisieren, im genannten Heft, dieses sehr zurückhaltend und aufmerksam in grauer Schrift typografiert, mit grauem Faden geheftet wie auch der Buchblock. Papier, Druckqualität und sauberste Buchbindung tun ein Übriges, um die kontemplative Stimmung der Bilder zu übertragen, die den Betrachter einholen und dann alleine lassen. Geronnene Zeit. Zeitlosigkeit. Ein magisches Buch.

Kunstbücher, Fotobücher, Ausstellungskataloge:
Peter Granser: „J’ai perdu ma tête“. Edition Taube, 32 Euro

Begründung der Jury:Dieser blasse, hautfarbene Einband, dieses strukturierte, geradezu runzelige Bezugsmaterial, das Bildschild in aufgeklebter Klarsichthülle eingesteckt − was wird das wohl werden? Innen: Vorsatzpapier weiß, kein Innentitel, Fotos mit Details von Innenräumen, Fotos von Wänden, Gesichtern, manche doppelt, Tonköpfchen. Viel Weiß, geradezu überbordender Weißraum auf der Doppelseite, die Fotografien oben auf der Buchseite Halt suchend zum Bund hin orientiert. Dann fällt ein Zickzackfalz heraus, aus der leeren Doppelseite: Personengruppe auf Wiese. Später noch einer. Die vielen Vakatseiten am Schluss. Ist das Buch etwa nicht fertig geworden? Hat da jemand die Sprache verloren? Nein, jemand hat den Verstand verloren, eine Gedächtnislücke von zwei Jahren tut sich auf. Paratext und Impressum auf der beigelegten, übergroßen rosa Karteikarte klären auf: Das Fotoprojekt und die buchgestalterische Interpretation geben und verarbeiten den Einblick in die geschlossene Station einer psychiatrischen Klinik. Die gestalterischen Mittel − Fragmentierung, Ausschnitt, Isolierung − geben der Sprachlosigkeit Kontur. Die technischen Mittel – Reproduktion im frequenzmodulierten Raster − führen zu lupenreiner Brillanz.

Kunstbücher, Fotobücher, Ausstellungskataloge:
Hermann Recknagel: „Feuerwache 2“. kookboooks, 39 Euro

Begründung der Jury: Feuerwehrmann − die Abenteuerphantasien über einen Beruf, der vielleicht immer noch in den Träumen vieler Jungs eine Rolle spielt, werden durch dieses Projekt geerdet. In dem Portrait einer Feuerwache erfahren die Architektur, die Ausstattung von Räumen wie von Kleidung und die dort arbeitenden Männer gleichermaßen die Aufmerksamkeit des fotografischen Blicks. Dies wiederum gewährt uns den Einblick in eine völlig unspektakulär erscheinende, unbekannte Alltagswelt. Die Normalität der Alarmbereitschaft ist das Thema. Die offenkundige Abweichung von der Erwartung ist das Farbklima. Nix Feuerrot. Reflektorgelb ist die Leitfarbe. Titelzeilen, Rücken, Klappen, Einband, Kapital- und Zeichenband, selbst der Heftfaden: alles gelb. Der Essayteil ist mit Papierwechsel, blauer Schrift und blauen Monochromfotos auf gelbem Grund zwischen die sechs Bildfolgen gesetzt. Die jeweiligen Folgen unterscheiden sich im Seitenaufbau sehr subtil. Die Kleidung beispielsweise wird in quadratischen Bildern gezeigt, die Alarmsituation in
Schwarzweiß mit Bewegungsunschärfe. Eine besondere Stärke von Fotografie, Konzept und Buch liegt
darin, dass man die Klischees nicht wiederfindet. Das Buch verkörpert nicht nur eine fotografische Dokumentation und ein künstlerisches Fotoprojekt, sondern es zeigt das Potenzial künstlerisch
geschulter Augen für die Visuelle Anthropologie.

Kunstbücher, Fotobücher, Ausstellungskataloge:
Andres Lepik (Hrsg.): „Afritecture. Bauen mit Gemeinschaft“. Hatje Cantz, 38 Euro

Begründung der Jury: Was für ein raffiniertes, was für ein passendes Gewebe. Der grobe Faden in hellem, erdigen Ton ist geglättet, die feste Einbanddecke ist gar nicht so fest, sondern flexibel, der Titel ist in fetten Versalien poetisch frei gebrochen. Vor- und Nachsatz tintenblau − wenn das nicht die Zukunft verheißt. Auch diesen leisen tonigen Duft, der dem farbigen Druck auf solch geglättetes Werkdruckpapier eigen ist, strömt der Katalog zur Ausstellung zeitgenössischer Architektur in Afrika aus. Die 29 vorgestellten Projekte sind fein gegliedert. Warme, pastellige Texteinleitungsseiten mit deutlichem und kompromissbereitem Satzspiegel, der die Kantenverläufe auf den Bildseiten vorbereitet. Die Bildseiten wiederum so freimütig, dass die Formate sich auch an den gedachten Kanten vorbeischieben und sich als freies wie stringentes Tableau über die Doppelseiten ausbreiten.
Packende Fotografien der neu gebauten Architekturen, der Baustellen, der Menschen am Bau, der Menschen auf den Straßen und dem Gewimmel in den Städten. Luzide reproduziert und präzise aufs matte Papier gebracht, dass man vom Enthusiasmus infiziert und von der Ahnung eingeholt wird, dass das Gefälle, das der Blick von Norden nach Süden so mit sich bringt, die falsche Richtung hat. Ein betörendes Werk über visionäres Bauen in einem geplagten Kontinent.

Kunstbücher, Fotobücher, Ausstellungskataloge:
Christof Nüssli, Christoph Oeschger: „Miklós Klaus Rósza“. Spector Books / cpress, 42 Euro

Begründung der Jury: 624 DIN A4-Seiten. Na, dann mal schnell Daumenkino gemacht. Ein Bömbchen hier, eine Staubwolke da, viele Polizeihelme dort, und noch mehr faksimilierte Schreibmaschinenseiten. Alles schön schwarzweiß, danke, alles klar: Vergangenheitsbewältigung,
Stress mit dem Staat. BRD, 1968? DDR, Stasi? Moment mal: Stadtpolizei Zürich, Kantonspolizei Zürich, Bundespolizei? Stress in der Schweiz! Das als Quellenedition inszenierte Material, das der Schweizerische Staat von 1971 bis 1989 über den Fotografen und Politaktivisten Miklós Klaus Rózsa ansammelte, sowie das fotografische Werk von Rózsa selbst, ist in dieser Publikation zu einem
Kunstwerk der Zeitgeschichte komponiert worden. Eine der faszinierenden Fotografien: nächtliches Stacheldrahtgewölle im Blitzlicht. Wie angenehm es für die Menschen in Uniform gewesen sein mag, die Bürgerattacken zu beschwichtigen, sei dahingestellt.
Das gravierende, sublime Mittel der Buchgestaltung: Alle Dokumente der staatlichen Überwachung und der zeitgenössischen Berichterstattung sind mit einem kreidig-weißen Fond versehen; alle Fotografien von Rózsa und Paratexte sind Schwarz auf Papierweiß reproduziert. Dieser kaum wahrnehmbare, aber entscheidende Kontrast zieht den dritten Beobachter, also den Leser, in das Bespitzelungskarussel mit hinein. „Labile Elemente“: Das war wohl das Motto der Bundespolizei
wie der Buchgestaltung. Es waren wohl Freaks am Werk.

Kinder- und Jugendbücher:
Lemony Snicket, Jon Klassen: „Dunkel“. NordSüd, 14,95 Euro

Begründung der Jury: Einigen wird der Autor bekannt sein für seine schrägen und finster-makaberen Kinderbücher. Auch im vorliegenden Bilderbuch wird mit der Angst vor der Dunkelheit eindrucksvoll gespielt, denn dieses Unheimliche beschäftigt doch die meisten kindlichen Gemüter. − Der Einband verwandelt das sattsaugende Schwarz der Fläche in die nicht benennbare Bedeutung der Dunkelheit. Die Empathie des Betrachters ist sofort gesichert. Oh je, der arme Tropf. Er steht da zögernd am Rande des Abgangs in den Keller. Auf der Einbandrückseite schimmert schwach aus dem Dunkel eine Vignette heraus, das Ziel des nächtlichen Ausflugs: eine Kommode. Also auf geht’s: Vorsatz knackeschwarz. Schwarzer Schmutztitel plus Knabe, dessen Taschenlampe einen Lichtkegel aus dem Anschnitt wirft. Innentitel: Der Lichtkegel zieht sich cineastisch über die Doppelseite und den mittelachsigen Text auf. Und dann: Das Segment der untergehenden Sonne wirft ihren letzten Schein ins Kinderzimmer. Der kleine Kerl schaut besorgt von seinen Autos auf, die Taschenlampe in Griffnähe. – Auf der nächsten Seitenfolge werden die Räume im Haus vorgestellt in warmen, unbunten, klecksig strukturierten Farben auf dem schwarzen Lineament der Tintenzeichnung, das wie räumliche Koordinaten den Doppelseiten, freilich auch dem satten Schwarz, eine raffinierte Tiefe verleiht. Der Illustrator ist inspiriert vom Duktus der 1960er Jahre und als Trickfilmanimator geschult im Aufbau bewegter Dramaturgie. Im Buch aber hat der Betrachterleser die Tempogestaltung selbst in der Hand. Entweder folgt er zügig dem Schlaglicht der Taschenlampe, oder er schleicht sich zaudernd voran. Das unheimliche Dunkel kommt ihm regelrecht entgegen, fühlbar durch das samtige Papier, warm statt glatt, geschmeidig beim Berühren und Blättern. Der Text ist unprätentiös gesetzt und platziert, unaufdringlich wie eine Stimme aus dem Off. Wahrscheinlich hat dieses Buch auch therapeutische Wirkung − es wäre kein Wunder.

Kinder- und Jugendbücher:
Elisabeth Zöller: „Der Krieg ist ein Menschenfresser“. Hanser, 15,90 Euro

Begründung der Jury: Das Bild des Mädchens mit den geschlossenen Augen, die Hände versonnen die Zöpfe greifend, ist extrem an die Einbandkante gerückt. Ihr zartes Gesicht schwebt mit verstörender Wirkung direkt über den Titelzeilen: Der Krieg ist ein Menschenfresser. Der geöffnete Buchdeckel zeigt auf dem Vorsatzspiegel die Mädchenschulter als Fortsetzung des angeschnittenen Bildes. Im Hintergrund geknittertes Papier, oder ein faltiges Laken? Poststempel auf der Titelei, angeschnittene Feldpostkarte mit Fortsetzung verso. Nach Motto und kursiv gesetzter Einstimmung beginnt der Jugendroman über das Schicksal der Freundschaft junger Leute im Ersten Weltkrieg.
Die Bebilderung beschränkt sich auf die Kapitelanfänge nach dem gleichen Anschnitt- und Umlaufprinzip. Die Serifenschrift ist gezielt gewählt, mit gehörigem Durchschuss lesebereit gemacht.
In schmalfetter Grotesk sind einzelne Begriffe ausgezeichnet, die im schön gesetzten Glossar erläutert werden. In der Schriftmischung, den fetten Unterstreichungen der fetten Abschnittsziffern,
dem weinroten feingestreiften Buchrücken klingen sachte visuelle Töne aus der alten Zeit an. Auch die Zeittafel und ein übersichtliches Literaturverzeichnis sind hier didaktisch unaufdringliche Mittel, um die vierte oder fünfte Generation an das erste große Desaster im Europa des zwanzigsten Jahrhunderts heranzuführen.

Kinder- und Jugendbücher:
Eymard Toledo: „Bené, schneller als das schnellste Huhn. Eine Geschchte aus Brasilien“. Baobab Books, 15,90 Euro

Begründung der Jury: Den fetten Spaß an diesem Buch genießt man wie so manches Mal erst mit dem zweiten Blick. Mit großer Gelassenheit erzählt es von dem brasilianischen Jungen, der mit seiner Familie Fußbälle näht und sie testet. Wenn man so über die Bilder schweift, kann man sich vorstellen, mit welcher Seelenruhe wohl auch der Illustrator die Szenen akribisch, aber eben nicht pedantisch aus den verschiedensten Materialien komponiert hat. Die Collagen bauen nicht so sehr
auf Kontraste, eher auf Vermittlung. Vermittlung der pastelligen Farben, Abwägen der Strukturen, Ausbalancieren der Formen. Wirklich herzig ist es, wenn man jedes Fitzelchen beobachtet, das
punktierte Reliefmuster eines Serviettenrandes, die Platzierung von Risskanten, das Zitrusfrüchtenetz im Fußballtor, die Wellpappe der Dachdeckung, die ausgerupften Wolken. Die Figuren agieren wie zweidimensionale Gliederpüppchen. Wenn im reichhaltigen Fundus an Blümchenmustern und Papierstrukturen mal etwas fehlt, wird mit dem Stift einfach dazuimprovisiert.
Die hohe Druckqualität verhilft den Arrangements zu einer geradezu haptischen Präsenz, die dem visuellen Körpergefühl des Buchmachers geschuldet ist. Und der kleine Protagonist wird
dank seiner flinken Körperintelligenz schneller als das schnellste Huhn.

Kinder- und Jugendbücher:
Anke M. Leitzgen, Gesine Grotrian, tinkerbrain: „Forschen, Bauen, Staunen von A−Z“. Beltz & Gelberg, je 7,95 Euro

Begründung der Jury: Mal ehrlich: Wie viel von dem Schabernack, den Tricks und den Lernspielen aus den Freizeitvertreibbüchern von damals haben wir tatsächlich nachgemacht? Die 26 Forschen-Bauen-Staunen-Hefte mit Anleitungen zu Stichworten von A bis Z provozieren geradezu den Nachholbedarf bei Erwachsenen, auch wenn freilich die Kinder angesprochen sind. Eine enorme Palette an Themen reizen zum Mittun, Basteln und Gestalten. Das jeweilige Phänomen, das Bastel- oder Trickergebnis wird als Frage, Kommentar und großes Bild vorgestellt, gefolgt von Materialliste
und Schritt-für-Schritt-Anleitung. Die Attraktivität liegt in dem Unmittelbaren der Fotografien, der Fotosequenzen, weil die Fotos das direkte Geschehen zeigen. Es sieht alles so leicht und heiter aus und täuscht über die Komplexität der redaktionellen und fotografischen Konzeption und Durchführung hinweg. Eine für diese Reihe entworfene Schrift, eine Art handgeletterter Druckbuchstaben, hat eben beides: die improvisierte Anmutung des Handgeschriebenen und die prima Lesbarkeit einer Satzschrift. Das Projekt ist auch dem Spracherwerb selbst gewidmet. Die Texte trainieren Lesen und Rechtschreibung, ein Link zur Wörterfresser-App erweitert den Wortschatz. Womit fangen wir an? „Quatsch“ klingt sehr verlockend.

Kinder- und Jugendbücher:
Torben Kuhlmann: „Lindbergh. Die abenteuerliche Geschichte einer fliegenden Maus“. NordSüd, 17,95 Euro

Begründung der Jury: Eine Maus wandert nach Amerika aus, weil es in Hamburg recht gefährlich geworden ist, indem sie in einem selbstgebauten Flugzeug den Atlantik überquert. In einem warmen Farbklima, alle Nuancen von Umbra, Ocker und Siena abfeiernd, entwickelt sich die Geschichte auf großen Tableaus. Die ausgetüftelten Repoussoir-Kompositionen, die Luftperspektiven, die Mäuseperspektiven, die spannenden Großklein-Kontraste, die musterartigen
Verschachtelungen von Objekten − alles dient den Aquarellen dazu, den Betrachter am befreienden Gefühl teilhaben zu lassen, das die Maus in die Weite des Fliegens treibt und die dunkle Enge
ihres Habitats verlässt.
Bilderbuch oder Graphic Novel − der souveränen Verflechtung von Bild und Text sind Gattungen einerlei. Der Einband ist schon von eingebauter Patina gezeichnet, die Ecken sind verschrammelt
(gedruckt) und bürgen für die Historizität der Begebenheit. Vorsatz mit Konstruktionszeichnungen, Impressum und Anhang runden das Konzept so ab, dass das Buch quasi einen Platz in der
Geschichte der Fliegerei beansprucht. So selbstbewusst hat man noch keine Maus fliegen sehen.

Förderpreis für junge Buchgestaltung

In einem weiteren Wettbewerb wurde ein „Förderpreis für junge Buchgestaltung“ an drei Titel (dotiert mit je 2.000 Euro) vergeben − zur Auswahl standen der Jury 171 Einsendungen.

Die drei Gewinnertitel sind hier:

  • Vytautas V. Stanionis: Nuotraukos dokumentams / Photographs for Documents. Kaunas Photography Gallery, Kaunas (Litauen)
  • Charlotte Bräuer: Auf der Suche nach Zora. Ein Entdeckerbuch. Eigenverlag Charlotte Bräuer, Hamburg
  • Holger Bunk (Hrsg.): ZigZag. Harmonica Books. Verlag der Akademie der Bildenden Künste, Stuttgart