Ergreifender Bericht: Die Autorin, Urenkelin des Dichters Theodor Storm, über den Vater-Sohn-Konflikt mit seinem Sohn Hans Woldsen Storm

StormBereits, als die Autorin zweiundfünfig Jahre alt war, hat sie sich (1982) zum ersten Mal mit dem Vater-Sohn-Konflikt ihres Urgroßvaters Theodor Storm und dessen Sohn Woldsen auseinandergesetzt.

Jetzt ist sie dreiundachtzig und unternimmt diese abenteuerliche Reise in die Vergangenheit erneut.

Wie geprägt ist jemand von der Geschichte seiner Familie, seines Landes, wie versuchen Geschichte und Familie ihn zu formen und entzieht man sich selbst diesen mächtigen Einflüssen, indem man sich – wie  hier der Sohn – auf die Suche nach Wahlverwandten begibt?

 

Generationskonflikte sind  – bei aller prinzipiellen Ähnlichkeit – auch jeweils zeittypisch. Für Ingrid Bachér ist dieser insofern  besonders relevant, da es dabei nicht nur um ihre Vorfahren geht, sondern er auch literaturhistorisch von besonderer Bedeutung ist:

Zugrunde liegt eine besondere Episode in ihrer Familiengeschichte:
Es geht um die  Beziehung von Hans Woldsen Storm und seinem Vater, Theodor Storm, dem Urgroßvater der Autorin . [Hans Theodor Woldsen Storm (* 14. September 1817 in Husum; † 4. Juli 1888 in Hanerau-Hademarschen) war ein berühmter deutscher Schriftsteller, der als Lyriker und als Autor von Novellen und Prosa des deutschen Realismus mit norddeutscher Prägung bedeutend war. Im bürgerlichen Beruf war Storm Jurist]

Es ist das Jahr 1877.  Im Februar kommt Theodor Storm nach Würzburg, um durch seine Anwesenheit den Sohn zu zwingen, das Medizinstudium endlich zu Ende zu bringen.

Die Autorin schildert einen dramatischen Prozess, der sich in den zwei Wochen, während der Theodor Sterom in Würzburg ist, abläuft: Vater und Sohn sind die Protagonisten nicht nur verschiedener Generationen, sondern sie sind auch Menschen ganz unterschiedlichen Charakters und Temperaments, hineingeboren in je unterschiedliche Epochen.

Und so ist ein wesentlicher, weiterer  „Mitspieler“ dieses Romans das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts, das die Nachgeborenen oft bis in unsere Zeit, mitgeprägt hat.

Vater Theodor Storm ist nicht nur der Gegenspieler seines Sohnes, sondern auch die gesellschaftliche Omnipotenz: Der Vater als Patriarch der Familie und zugleich Repräsentant des Öffentlichen. Er hat „seinem guten Jungen“ die Angst vorm Versagen beigebracht, ohne es selbst erkennen zu können.

Der Vater muss die Autorität verkörpern, weil er an keine höhere mehr glaubt, so sieht es der Sohn. Beide „können sich nicht nähern und nicht entkommen „.

Der Sohn schätzt die Nähe der Armen und Trinker in den Würzburger Kneipen mehr als die Gesellschaft der Salons, und er liebt – nicht standesgemäß – die Tochter eines Streckenarbeiters. Woldsen will frei sein vom angeblich sichersten Halt: der Familie, und von der vom Vater in Aussicht gestellten bürgerlichen Existenz.

Woldsen sieht die sich anbahnenden neuen Veränderungen, die die Zeit mitbringt; er erkennt die „Mechanik, welche nur nach Profit und Verlust werten kann“.

Virtuos und kenntnisreich (auf authentisches Material zurückgreifend) erzählt Ingrid Bachér den Vater-Sohn-Konflikt als Epochenkonflikt, und wie Woldsen, obwohl durch den Zwang des Vaters fast in eine tragische Katastrophe getrieben, sich auf dem Weg zu sich selbst befindet, nicht flüchtet, sondern auf seine Weise standhält

Von besonderer Brisanz ist folgendes Kapitel: Es ist der Tag, an dem der Sohn seine entscheidende Prüfung abzulegen und der Vater den Sohn zuvor, wie erwartet, eben nicht angetroffen hat. Niemand weiß, was der Sohn an diesem Tag getan oder eben nicht getan hat; auch nicht, wo er jetzt ist.

Woldsen seinerseits trifft indessen nach abgelegter Prüfung auf Hansen, einen seiner Kommilitonen : “[D]Er erinnerte sich nur an zwei frühere  Spaziergange sehr früh am Morgen, noch in Gesellschaft von anderen, und an ein langes Gespräch, draußen in einer der Heckenwirtschaften. Woldsen hatte ihm plötzlich beredt auseinandergesetzt, was er von Kiriloff hielt und von dessen fanatischer Begeisterung für einen neuen Menschen… und wie wie er selber, wenn auch mit anderen Empfindungen, diese Entwicklung erwarte. …”

Damit ergänzt Ingrid Bachér  einen besonderen Charakterzug Woldsens, denn damit weist sie auf Dostjoewskis Roman, die „Dämonen“ hin, der Woldsen offensichtlich gerade stark beschäftigt hatte.  Insbesondere hatte er sich mit dem düsteren Ingenieur Kiriloff identifiziert, der mit einem großartigen Satz den Roman betritt: „Ich habe vier Jahre lang wenig Menschen gesehn. Vier Jahre habe ich wenige gesprochen und mich bemüht, mit keinem Menschen zusammenzukommen, wegen meiner Ziele, die weiter niemanden angehen …” Am Ende der Dämonen bringt sich Kiriloff aus philosophischen Gründen um – „ohne alle Ursache und nur um der Eigenmächtigkeit“.…

Aber auch Vater Storm, der, mit seinen Freunden zusammen, auf die Rückkehr des Sohnes und dessen Bericht wartet, fühlt düstere Ahnungen in sich aufsteigen, wie überhaupt alle Personen in dieser Geschichte von seltsamen Erwartungen und Plänen  erfüllt sind. Diese jeweils  so verschiedene, explosive Spannung, die über allem liegt, wird von Ingrid Bachér meisterhaft geschildert.

Jedoch scheint sich all das aufzulösen, als man klarere Auskünfte über den Sohn erhält – und Vater Storm sich abrupt, d.h. unverzüglich auf die Heimreise begibt.

Zuvor war er sich darüber klar geworden, “was ihm verlorenginge, wenn Hans sich ein Leid angetan hätte, wie er es nannte (…) Da berichtete er, sich und ihr [Wally] zum Trost, Geschichten aus der Zeit, da Hans klein gewesen war. Dabei konnte er in den Vergangenheitsform sprechen, ohne zugleich darauf hinzuweisen, dass es keine Gegenwart mehr geben werde. So wie ihm das aufgefallen war, als Semper zum Abschied gesagt hatte: Woldsen [der Sohn] war anders. Damit war etwas Abgeschlossenes gesagt und Woldsen für tot erklärt worden.
(…) es war eine Gier nach Unglück in dem alten Mann,  eine Gier nach Schicksal, das in seinem vollen Gewicht erst deutlich im Tragischen wurde und im höchsten Effekt die Trennung von Wirklichkeit und Wahn aufzuheben vermochte. (…).”

Der Sohn, das wird noch erwähnt, wurde erst Arzt in einer Praxis und dann Schiffsarzt. Er starb, erst neununddreißig, an der Schwindsucht.

Wenn sich das von ihm Hinterlassene noch finden ließe, gäbe dies – da bin ich mir sicher – nochmals eine sehr eindrückliche Geschichte, die man aber auch so für sich weiterdenken könnte.

Doch  Briefe und Gedichte aus dem Nachlass Hans Woldsen Storms sind nicht erhalten geblieben. Die Freunde aber errichteten ihm einen Grabstein mit der Inschrift „Dem Freund der Armen“.

Der Vater, Theodor Storm, starb 18 Monate später. Zum Gedenken schrieb er:

AUCH VON DEN TOTEN BLEIBT AUF ERDEN NOCH EIN SCHEIN ZURÜCK UND DIE NACHGELASSENEN SOLLEN NICHT VERGESSEN, DASS SIE IN SEINEM LICHTE STEHEN. “

Die Autorin:
Ingrid Bachér, geboren 1930 in Rostock, aufgewachsen in Berlin, lebt in Düsseldorf und Italien, arbeitete als Journalistin und für den Rundfunk, schrieb Hörspiele und Fernsehspiele, Erzählungen und Romane. 1958 veröffentlichte sie ihr erstes Buch, gehörte seitdem zur Gruppe 47, wurde später Mitglied des westdeutschen PEN-Zentrums und in den Jahren 1995/96 dessen Präsidentin. Zur Zeit Vorsitzende der Heinrich-Heine-Gesellschaft.

Theodor Storm fährt nach Würzburg und erreicht seinen Sohn nicht, obwohl er mit ihm spricht
von Bachér, Ingrid;
Gebunden Roman. 160 S. 210 mm 312g , in deutscher Sprache.
2013   Dittrich, Berlin
ISBN 3-943941-20-5
ISBN 978-3-943941-20-   17.80 EUR