Rote Kapelle, kommunistische Gruppen, Weiße Rose, Kreisauer Kreis, 20. Juli: Nur wenige können heute noch genau sagen, um was es sich da handelt – zeigten mir stichprobenartige Umfragen – Wer dieses Buch liest, dem werden die Menschen dahinter  lebendig und unvergesslich – sie begegnen uns nahezu persönlich, und wir lernen sie kennen

Kann man mehr verlangen? Zugegeben: Dieses Buch hat 2025 Seiten; wäre es nicht auf Dünndruckpapier gedruckt, wäre es noch dicker. Dennoch: Wer mit dem Lesen erst einmal angefangen hat (wozu ich hier nachdrücklich ermuntere!) – der wird nicht aufhören können. Es ist, wie ein Kritiker es beschreibt: “Und der Sog, mehr erfahren zu wollen, nimmt zu”.

Mit diesem ‘Roman’ hat Sabine Friedrich etwas Neues gewagt, oder besser: ist sie in etwas hineingeraten, was sie eigentlich so gar nicht vorhatte. Sie schreibt selbst dazu:

“Ohne die Bücher anderer Autoren, ohne die von ihnen herausgegebenen Briefsammlungen, die Erinnerungsbücher, Biografien und historischen Werke hätte ich meinen Roman ›Wer wir sind‹ niemals schreiben können. Ich habe ja keine bislang unbekannten Tatsachen aus irgendwelchen Archiven zutage gefördert, sondern mich ebenso dankbar wie freizügig aus bereits Vorhandenem bedient, das heißt, ich habe aus den Werken anderer gelernt, ihnen Fakten entnommen, aus Briefen und Tagebüchern zitiert, diese Zitate kollagenartig gegeneinander gesetzt oder Zitate verschiedener Quellen ineinander verschränkt, manchmal in einen einzelnen Satz hineingezoomt, so dass aus einer lapidaren Mitteilung (»gestern mit Freunden zum Baden gewesen«) eine lange Szene wurde, dann wieder ein halbes Buch zu einer einzelnen Szene verdichtet usw.

 

“In späteren Schritten habe ich dann an diesen Entwürfen weiter gefeilt, sie umgeschrieben, umgestellt, sie vielleicht um ein paar neue Zitate ergänzt oder gekürzt und dann monatelang ignoriert, um schließlich ein weiteres Mal zu ihnen zurückzukehren, sie umzuschreiben, in einen neuen Entwurf einzugliedern …
Ich weiß nicht mehr, wie viele Versionen dieser Roman durchlaufen hat, bevor ich ihn im März 2010 zum ersten Mal losgelassen und meinem Agenten geschickt habe, in einer Fassung, die von Anfang an nur als Etappensieg gedacht war. Seitdem sind sieben weitere Fassungen entstanden. Tatsächlich korrigiere ich jetzt, während ich dies schreibe, noch immer in den Fahnen herum, wie ein Maler, der mit Pinsel und Farben bewaffnet in der Nacht vor der Vernissage in die Galerie eindringt.
Das ist natürlich eine andere Arbeitsweise als die eines Wissenschaftlers, der üblicherweise von Anfang an und parallel zu seiner Arbeit einen exakten Textapparat anlegt. Um diesen Roman schreiben zu können, musste ich mir dagegen den Stoff so zu eigen machen, dass ich zuletzt kaum oder gar nicht mehr auseinanderhalten konnte, was Eigenes war, was ich mir angeeignet hatte und was mir an Eigenem aus dem intellektuellen Eigentum anderer erwachsen war
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Rote Kapelle, kommunistische Gruppen, Weiße Rose, Kreisauer Kreis, 20. Juli: Dieser Roman vereint sie miteinander, die Frauen und Männer, die sich dem Nationalsozialismus widersetzten. Er erzählt von ihrem Sterben, vor allem aber von ihrem Leben. Dabei entrollt sich vor dem Leser ein gewaltiges Panorama.

Teil eins des Romans über den deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus führt vom Kaiserreich bis in die Vorkriegszeit. Er erzählt von den vielfach miteinander verwobenen Grunewalder Professorenfamilien der Harnacks, Bonhoeffers, Dohnanyis und Delbrücks und dem künstlerisch und literarisch geprägten Freundeskreis um Harro und Libertas Schulze-Boysen.

Erwartungsgemäß haben auch einige Rezensenten die  Nase gerümpft über dieses Buch. Das tun viele besonders gern dann, wenn auf Grund diffiziler Kleinarbeit ein Werk entstanden ist, das so erzählt ist, dass es sich mit einem Krimi oder Science Fiction absolut messen kann. Dann sagen sie (die Rezensenten): Das ist unwissenschaftlich, sozusagen unter unserer Würde..

 Was Sabine Friedrich aber mit diesem Buch bezweckte, ist ihr rundherum gelungen. Sie wollte die Menschen, die versuchten, dem Hitlerreich ein Ende zu bereiten, aus den Sachbüchern und den trockenen Lexikonabschnitten herausholen, und zeigen: Das waren lebendige Menschen, mit allen Licht- und Schattenseiten, die Menschen nun mal ausmachen. Da war die blutjunge Weiße Rose, da waren die des Kreisauer Kreises, etwas älter – aber sie alle hätten viel länger leben können, wären ihnen nicht ihre wachsende Überzeugung und nicht zu letzt auch ihr Gewissen dazwischen gekommen.. Neu war mir die Verbindung einiger zu Stefan George, was ein ganz besonderes Licht auf deren Motivation lenkt. Und da waren auch großartige Frauen.Und, was nicht in diesem Buch steht: Nach dem bitteren Ende surften einige davon, wie auch ihre Kinder, sich als ‘Verräter’ beschimpfen lassen..

Aber nicht nur, weil bis dahin für viele blutleere Personen aus der Vergangenheit hervorzaubert werden, ist das Buch außerordentlich lesenswert. Wichtig sind bis heute auch die vielen Überlegungen des Kreisauer Kreises, wie man eine Gesellschaft nach Hitler gestalten solle. Da sind viele, bis heute bedenkenswerte Gesichtspunkte.Dafür wurden sie entweder enthauptet, erschossen, gehenkt …

Mit einem ganz besonderen, stilistischen Hilfsmittel meißelt Sabine Friedrichs jede ihrer Figuren geradezu plastisch: In dem Augenblick, wo sie in Erscheinung  tritt, wird alles im Präsens geschildert; aber wir erfahren direkt danach – in der Vergangenheit – welchen Hintergrund dieser Moment hat und welche Zukunft (in Futur) – sich daraus ergeben wird.

Rote Kapelle, kommunistische Gruppen, Weiße Rose, Kreisauer Kreis, 20. Juli: So wie hier sind sie uns noch nie begegnet, die Moltkes und die Stauffenberg-Brüder, die Bonhoeffers, Harnacks und Dohnanyis, die Schulze-Boysens, Schumachers, Coppis und alle anderen miteinander verbundenen Männer und Frauen der deutschen Opposition gegen Hitler.
Friedrich entrollt vor uns ein gewaltiges Panorama: Sie spannt den Bogen vom Kaiserreich bis in die Nachkriegszeit, von den Schlössern Ostelbiens zu den Seen in Wisconsin, von Künstlerateliers zu den großbürgerlichen Villen des Berliner Westens und von Londoner Ministerien bis an die Ostfront und den Schuppen von Plötzensee.
Dabei thematisiert der Roman die grundsätzlichen und zeitübergreifenden Fragen nach den Bedingungen menschlicher Existenz, denen keine Generation ausweichen kann.

Einen kleinen Schönheitsfehler hat das Buch, den ich nur erwähne, weil man ihn beim Lesen beachten muss. Nicht immer sind bei den Herstellungsarbeiten beim Umbruch die größeren Absätze an der richtigen Stelle: Sie hätten dahin gehört, wo ein Sinnabschnitt folgt; so muss man sich beim Lesen darauf einrichten, wenn man sich plötzlich in einem ganz anderen Zusammenhang befindet; aber nach einigen Seiten lernt man, das zu berücksichtigen.

Für eine derartige Darstellung war es längst Zeit. Bevor alles vergessen ist: Die Menschen des Widerstands –  Zeitgeschichte als packendes Epos: Ganz und gar objektiv, ganz unsentimental, Fakten an Fakten und nicht selten ein sarkastischer Unterton.

Sie alle, vor allem jüngere Leser sollten dieses Buch lesen. Hat man erst einmal angefangen, fesselt es einen bis zur letzten Seite! Der Umfang von über 2000 Seiten gilt wirklich nicht als Ausrede: Da werden ganz andere, sehr dicke Bücher mit Wonne verschlungen.