Mit ziemlicher Sicherheit eines der meist gelesensten Bücher dieses Herbstes

Tony Blair - Mein WegGanz gleich, wo man dieses Buch aufschlägt: Es nimmt einen sofort gefangen und man kann nicht aufhören zu lesen! Es beginnt am 2. Mai 1997, als Tony Blair Downing Street Nr. 10 zum ersten Mal als Premierminister betritt. Er hatte gerade den größten Wahlsieg der Labour Party in der britischen Geschichte erreicht: Er beendete eine 18-jährige Regierungszeit der Konservativen. Auch hier schildert er – wie auch später immer wieder – seine Gefühle in diesem Augenblick:

„Mein vorherrschendes Gefühl war eine Furcht, wie ich sie noch nie erlebt hatte …“

Wir erleben seinen ersten Tag in Downing Street mit, als wären wir dabei gewesen. Seine erste Audienz bei der Queen, die erwähnte, er sei ihr zehnter Premierminister … Er erinnert, wie er zum ersten mal den Kabinettsaal betrat.

„Er wirkte sehr beeindruckend, sowohl aus sich selbst heraus als auch wegen der Geschichte, die dort geschrieben worden ist. (…) Dieser Raum hatte eines der größten Reiche aller Zeiten entstehen, sich entwickeln und wieder vergehen sehen.“

Was man hier liest, und was einen überhaupt nicht loslässt, das ist nicht nur ein Bericht eines Politikers, der dreimal wiedergewählt, nach zehn Jahren aus dem Amt schied: Es ist auch das Psychogramm eines Menschen, der klare Ziele vor den Augen hat und ständig deswegen taktieren muss, in einer Gegenwart, deren Konstellation und Problemstellung sich ständig ändert. Und das immer mit den „gierigen Augen der Presse“ im Nacken, die nicht nur im Leben DIANAs eine verheerende Welle auszulösen vermögen. (Auch davon ist die Rede.)

Bei der Schilderung der ersten hundert Tage der Regierung Blair hoffe ich, dass unsere derzeitige Regierung das liest und nachzudenken beginnt: Hier wird Zug um Zug und ZÜGIG in die Tat umgesetzt, was man sich vorher in langen Wahlkämpfen vorgenommen hat, dass es dringend zu verändern sei. Beim Lesen dieser immerhin 785 Seiten hatte ich niemals das Gefühl, dass etwas geschönt oder unrealistisch geschildert wurde; aber man bekommt bei einem Lebensabschnitt, wie er hier geschildert wird, auch ein Gefühl über die unzählbaren Unwägbarkeiten, Konflikte, Notlösungen die es sowohl innen- wie außenpolitsch in ständigen neuen Variationen zu bewältigen gibt.

Die politische „Bewertung“ dieser zehn Jahre überlasse ich politisch Versierteren. Was die LEKTÜRE dieses Buches anbelangt, fällt in mein „Beurteilungs-Ressort“: Es ist unglaublich, d.h. unerwartet gut zu lesen! Das mag davon herrühren, dass Blair, wie er im Vorwort erwähnt, die Kapitel jeweils einzeln und nicht chronogisch geschrieben hat: Die komplizierteren nahm er sich zuerst vor, die einfacher zu schreibenden reservierte er sich für das Ende des Schreibens, um nicht in Zeitnot zu geraten. So kommt es, dass er in jedem der 22 Kapitel etwas in sich Abgeschlossenes, aber mit allem, was aus anderen Zeitabschnitten dazugehört, berichtet. Also kann man das Buch irgendwo mittendrin anfangen – und wenn Sie das tun, da bin ich mir sicher, werden Sie bald die übrigen Kapitel, der der Reihenfolge, die SIE interessiert, auch noch lesen.

Tony Blair veranschaulicht Entscheidungsprozesse, die er mit seinen Parteifreunden entwickelt, die extrem schwierigen Friedensprozesse in Nordirland, und die Auseinandersetzungen um die größten Reformen im britischen Öffentlichen Dienst seit 1945. Er berichtet von seinen Beziehungen zu Politikern auf der Weltbühne, von Nelson Mandela und Bill Clinton bis hin zu Wladimir Putin. Aber er ist auch deutlich, was die ethisch erforderlichen Mittel anbelangt, im Notfall einzugreifen: anhand des Krieges im Kosovo, in Sierra Leone, Afghanistan und besonders im Irak.

Er macht deutlich, um wie viel mehr, als man allgemein wahrnimmt, das Zeitalter der GLOBALISIERUNG bereits nicht nur angefangen, sondern fortgeschritten ist. Aber auch, dass der unvorhersehbare Bombenterror vieles noch so gut geplante Taktieren ad absurdum führen kann. Deutlicher als mancher andere räumt er Fehler ein, die man im Nachhinein erkennt und zählt erstaunliche Strategien und Visionen auf, wie man zumindest das Geschehene künftig wird verhindern können. Plötzlich wird klar, dass es durchaus nicht „nur“ um Afghanistan geht – und das ist ungemein erschreckend.

Im 22. Kapitel bin ich auf etwas gestoßen, was ich so noch nirgendwo gefunden habe:

“ Wenn wir uns für friedliche [globale] Koexistenz entscheiden, müssen einige Dinge geschehen (…) Frieden zwischen Israelis und Palästinensern, Respekt unter 4 Milliarden Menschen unterschiedlicher Weltreligionen, Fortschritte in Afrika und Schutz unserer Umwelt. Eine globale Gemeinschaft braucht Werte, nach denen sie strebt, Werte, die von allen geteilt werden. Vor allem braucht sie eine Welt, in der Gerechtigkeit für die Masse der Bevölkerung, und nicht für einige Wenige die Richtlinie ist.“

Eine globale Gemeinschaft braucht Werte, nach denen sie strebt ….

Das ist nicht das Einzige, was mich an diesem Buch fasziniert, vielleicht aber das Wichtigste; es steht unsichtbar in nahezu jedem der nachdenklichen, selbstkritischen aber auch gelegentlich amüsanten Kapitel der Regierungsepisoden des Tony Blair. Beispielsweise als Gast bei der Queen und der Königlichen Familie – auch das gehörte ja dazu.