Das AmtNoch ist immer noch nicht definitiv erklärt, warum gebildete und intelligente Menschen zu fabrikartig massenmordenden Bestien werden konnten; andererseits erleben wir auch in der Zeit nach der Nazizeit überall auf der Welt vergleichbare Ereignisse,

Aber unser Land zählten wir zum „Christlichen Abendland“ – und nun ein minutiöser Report dessen, als unsere zur Elite zählende Schicht = die Deutschen Diplomaten – entgegen der Vermutung vieler –  zu diesem Horror beigetragen haben. Wieder einmal erfährt man Entsetzliches über jene, die noch Teil der unmittelbaren Vorfahren gegenwärtig Lebender sind.

Dies Buch verdankt seine Entstehung jenem oft gescholtenen Außenminister Joschka Fischer (ich mochte ihn schon als Jeans-behosten, stämmig-zupackenden Häuserbesetzer), dem 2005 _ nunmehr in Nadelstreifen, aber immer noch zupackend, ganz einfach der Kragen platzte angesichts der vielerlei Intrigen im Auswärtigen Amt. Wie schon  öfter ging es im Frühjahr 2005 zum ersten Mal in der über 50-jährigen Geschichte der Behörde zu einer internen Debatte über die NS-Vergangenheit und deren Nachwirkungen im neuen Auswärtigen Amt (vorangegangen waren verweigerte Nachrufe und Totengedenken) – Wie immer, kurzentschlossen, konsequent und praktisch berief Bundesaußenminister Joschka Fischer eine „Unabhängige Historikerkommission“ ein, um die Zusammenhänge ein für allemal klären zu lassen.  Nach fünf Jahren liegt hier nun das Ergebnis vor – fast 900 Seiten- keine einzige Abbildung – und doch verfolgen einen die Bilder daraus bis in den Schlaf.

Jedoch fällt mir als erstes, wenn ich über dieses Buch jemandem erzähle, ein,  wie glänzend es geschrieben ist! Dies Buch beweist, dass man auch so einen entsetzlichen Komplex wie das 3. Reich, insgesamt nüchtern, ohne zusätzlich diskriminierende bzw.  moralische Adjektive oder Adverbien, ohne „neudeutsche“ Terminologie ganz einfach nur schildern kann – Schritt für Schritt. Und, obwohl es, im Gegensatz zum Krimi, Realitäten zum Thema hat – ist es spannend zu lesen wie ein Krimi. (Fast schämt man sich, dass man einfach mit dem Lesen nicht aufhören kann.)

Oder wie ein Gemälde entstehen zu lassen, das an etwas erinnert, was Bosch wohl zur realistischen Darstellung der Hölle inspiriert hätte. Hier aber war es nicht Inspiration sondern Realität – und dennoch derart unwirklich, dass man es kaum glauben mag. Es waren ja nicht „nur“ die 6 Mill. ausgerotteter Juden … auch jene Menschenmengen, die nun ebenfalls zur Arbeitsbewältigung ins „Reich“ transportiert wurden; entsetzliche Ironie steckt auch für mich überdies darin, dass die „Geberländer“ auch noch für Transport und Verpflegung zu zahlen hatten.

Am Ende dieser Mammut-Lektüre – 711 Seiten (das ist der reine Text, die restlichen Seiten sind Anmerkungen & Fundstellen, in denen man nachschlagen kann) in 3 Tagen + 2 Nächten – bleibt man einerseits irgendwie erstarrt, dann aber nachgrübelnd zurück. Zunächst versucht man zu zählen: Wie viele Menschen wohl insgesamt vertrieben, umtransportiert, erschossen, erschlagen, verhungert, vergast worden sind. Dann erstellt man in Gedanken eine Art Register, wie viele Lebenslügen es wohl insgesamt sind, die hier ans Tageslicht kommen .. welche wohl die schlimmste von allen ist.

Ein Mythos bröckelt: Das nach dem Krieg vom Auswärtigen Amt verbreitete Geschichtsbild erweist sich als Legende. Der Mythos, das Auswärtige Amt sei von 1933 bis 1945 ein Hort des Widerstands gewesen, gehört zu den langlebigsten Legenden über das Dritte Reich.

Vom ersten Tag an war das Auswärtige Amt unmittelbar in die Gewaltpolitik des NS-Regimes eingebunden. Es schirmte die „Judenpolitik“ des Dritten Reichs nicht nur nach außen ab, sondern war in allen Phasen aktiv an ihr beteiligt.

Nicht genug damit: Überall in Europa fungierten deutsche Diplomaten als Wegbereiter der „Endlösung“, sie wirkten mit an der „Erfassung“ der Juden und an ihrer Deportation. Opposition aus dem Auswärtigen Dienst heraus blieb individuell und die Ausnahme.

Nach Kriegsende wurden nur wenige Beamte für ihr Verhalten zur Rechenschaft gezogen, viele konnten auf ihre Wiederverwendung hoffen und setzten ihre Karriere fort. Wie aber verhielten sich die Angehörigen des Auswärtigen Dienstes nach Hitlers Machtübernahme wirklich? Und wie stellten sie sich dann in der Bundesrepublik zu ihrer Vergangenheit?

Noch auf Jahrzehnte lagen über den außenpolitischen Entscheidungen der Bundesrepublik die Schatten der Vergangenheit. Gestützt auf zahlreiche bis heute unter Verschluss gehaltene Akten, räumt das Buch mit alten Legenden auf und korrigiert das Geschichtsbild einer der wichtigsten politischen Funktionseliten des Landes.

Das Buch geht chronologisch vor: Es beginnt mit der Errichtung der Diktatur: Wer und nach welchem „geistigen Strickmuster“ waren die ersten „Manager“ des Unternehmens? Nach der Reichstagswahl 1933 vermehrten sich die Übergriffe auf die Juden, und das AA = das Auswärtige Amt bastelte an einer Rechtfertigung. (Die Inflation habe die Juden angezogen und sich „zu einer Großmacht entwickelt“)

In den Jahren vor dem Krieg kam es zu Verfolgung, Emigration und Ausbürgerung.  Das nationalistische Deutschland war ein Ausbürgerungsland.  Um einen Ansehensverlust zu vermeiden (was zumindest zu Exportverlust hätte führen können), wurde 1933 das Haavara-Abkommen geschlossen, das wohl den Export fördern, vor allem aber den Transfer von Auswanderervermögen durch Verrechnung deutscher Warenexporte nach Palästina regelte; „es umging die massive Besteuerung, der Kapitaltransfers ins Ausland unterlagen; es eröffnete (zumindest vorerst) gleichzeitig auch mittellosen Juden die Auswanderung nach Palästina, deren  ‚Vorzeigegeld‘ in Höhe von 1000 palestinensischen Pfund = 15.000 Reichsmark betrug. Aber man hatte auch Bedenken, die die Sympathie der Araber betrafen, was eine ‚Verschärfung des arabisch-jüdischen Gegensatzes durch die Einwanderung aus Deutschland herbeiführen könnte.

Zugleich wird im Buch ein heftiges Gerangel der Diplomaten und Politiker ausgetragen, Dank dessen sich die neue Regierung herauskristallisierte. Dazu gehörten auch SS und Auswärtiges Amt.  In diesen Abschnitt gehört auch der Beitritt Ernst von Weizsäckers  (1938) in die NSDAP, wie auch seine Mitgliedschaft in der SS im Rang eines Oberführers; er hatte bereits den Staatssekretärposten übernommen: und zwar nicht, weil er – wie es später hieß – sich der Partei verbunden gefühlt hatte, sondern obwohl er nichts mit ihr zu tun gehabt haben wolle: Ein „Opfer“, um ‚den Frieden zu bewahren‘.

Es entwickelte sich auch eine langsame Umgestaltung des AA und  die angestrebte „Grundsätzliche Übereinstimmung mit der Politik des Führers“: Ein „Großes Programm, das nicht ohne das Schwert zu erfüllen [sei] …“

Dann setzten die Kriegsjahre ein. Tagebuchnotiz Ernst von Weizsäckers 5 Tage nach Ausbruch: „Nun sind wir im Kampf. Gebe Gott, dass nicht alles, was gut und wertvoll ist, dabei vollends zugrunde geht. Je kürzer er dauert, je besser.“

Die Expansion des AA zeigt allein die Entwicklung der Nachrichten- und Presseabteilung von anfänglich 70 Mitarbeitern bis schließlich 330; deren Führungspersonal war relativ jung: zwei Drittel erst nach 1890 geboren. Ebenso wurde das interne Netzwerk aufgebaut, wie auch Seiteneinsteiger das vormals als homogen begriffene Diplometenkorps weiter auflösten.

All das wird in DAS AMT minutiös anhand von Akten und Aktennotizen nachvollziehbaren Belegen nun sichtbar gemacht: z.B. auch die Gründe der Parteizugehörigkeit, warum und wie sie notwendig war zu oft erstaunlichen Karrieren in der nationalsozialistischen Machtbesetzung. Denn es ging – neben der Perfektionierung nationalsozialistischen Gedankengutes – schlicht und ergreifend auch um die PERSÖNLICHE KARRIERE.

Mit dem Angriff auf Polen begann am 1. September 1939 ein rassenideologisch bestimmter Eroberungs- und Vernichtungsfeldzug: Politische Kontrolle der nach und nach beherrschten Territorien, deren wirtschaftliche Ausplünderung und die Ermordung der dort lebenden Juden. Dabei stand das AA nicht abseits. Man war z.B. nicht nur hinsichtlich des Massensterbens von über 3 Millionen sowjetischer Kriegsgefangener, sondern auch über die rapide Erosion zivilisatorischer Standards und über deren  Entwicklung hin zum mörderischen Eroberungs- und Vernichtungskrieg – außerordentlich gut informiert.

Die „Karrieren“ vieler der beteiligen Politiker werden hier nachvollzogen, wobei sich die Trennung von AA und Reichssicherungshauptamt immer mehr verwischten. Entsetzlich, die verschiedenen „Erfolgsmeldungen“ zu lesen. Eine davon, sie steht für viele,  hat die Leser dieses Buches ganz besonders  erregt und angewidert:

„Auf dem Formular, das Rademacher zur Genehmigung seiner Reise {nach Belgrad) „hinterließ“ :

ZWECK der Dienstreise war zu prüfen, ob nicht das Problem der 8000 jüdischen Hetzer, deren Abschiebung von der Gesandtschaft gefordert wurde, an Ort und Stelle erledigt werden könne.“  An Ort und Stelle erfuhr er, „dass bereits 2000 Juden als Repressalie für Überfälle auf deutsche Soldaten erschossen worden“ waren.

Weiter heißt es in seinem Bericht:

1. Die männlichen Juden sind bis Ende dieser Woche erschossen, damit ist das in dem Bericht der Gesandtschaft angeschnittene Problem erledigt.

2. Der Rest von etwa 20.000 Juden (Frauen, Kinder und alte Leute) sowie rund 1500 Zigeuner, von denen die Männer ebenfalls noch erschossen werden, sollte im sogenannten Zigeunerviertel der Stadt Belgrad zusammengefasst werden … Sobald  im Rahmen der Gesamtlösung der Judenfrage die technische Möglichkeit besteht, werden die Juden auf Wasserwegen in die Auffanglager im Osten abgeschoben.“

Durch das gesamte Buch zieht sich die geradezu unheimliche Ausgestaltung eines Netzwerkes, abzulesen an den Lebensläufen und den hinterlassenen Dokumenten der Äußerungen einzelner Stellen und Beamten.

Ist man mit den Kapiteln der eigentlichen Greueltaten fertig, folgen, nach dem Entsetzen, nun Kapitel, die einem die Schamröte aufsteigen lassen Sie handeln von der „Entlastungsfabrik“ : Wie ging es mit der Entwicklung des ehemaligen AA nach 1945 weiter? . Jetzt also haben die Teilhaber plötzlich eine ‚Vergangenheit‘, die nun – soweit dies zunächst möglich war – gerichtlich zu untersuchen war.

Bereits auf Seite 318 (von insgesamt fast 900 Seiten) beginnt die Schilderung dessen, was ‚danach‘ geschah. Rückblickend ergibt sich, dass zwischen den Internierten jene von denen auf westlicher (mit denen etwas milder verfahren wurde) und sowjetischer Seite zu unterscheiden war. Auch ist das Schicksal bestimmter Personen – auch jener, die sich der Politik des Nazi-Regimes widersetzt hatten – nachlesbar, deren letztlich oft ungerechte Behandlung von Willkür geprägt war. Andere, der Sowjetunion zugeführte,  verschwanden auf Nimmer-Wiedersehen. Im Westen gestaltete sich die „Nachkriegsbehandlung“ undramatischer und weniger folgenreich.

Vor allem aber bedrücken beim Lesen die – oft erfolgreichen – Versuche, sich vermittels „Persilscheinen“ in die Gruppe der „Unbelasteten“ zu hieven. Nun begann auch die „Arbeit am Mythos. Wieder an Einzelkarrieren herausgearbeitet, ergibt sich ein farbiges Bild – u.a. auch der Person Ernst von Weizsäckers; es ist eigentlich unvorstellbar, was dort von Menschen, die ursprünglich einmal gelernt hatten: Eure Rede sei Ja, Ja oder Nein, Nein, was darüber ist, das ist vom Übel, bei denen persönliche Ehre und Integrität einen so hohen Stellenwert gehabt zu haben scheinen – über deren wirkliches Verhalten zu lesen, macht betroffen. I

Für die Amerikaner tat sich allerdings ein überraschendes, neues Feld auf: Sie versuchten, die in Deutschland vorhandenen Informationen über die Sowjetunion abzuschöpfen. Schon während des Krieges hatten amerikanische Diplomaten den Gedanken, sich der Mithilfe der Emigranten zu bedienen, um zu verhindern, dass die Russen nach Kriegsende überall die Kontrolle erlangten. Das wurde nach Kriegsende fortgesetzt: befragt wurden Angehörige der Wehrmacht, der Geheimdienste und des Auswärtigen Amtes.  Vorrangig war das Interesse an jenen deutschen Diplomaten, die in der Sowjetunion Dienst getan hatten. Diese Zeugen waren aber nicht nur darauf bedacht, sich vor Anschuldigungen zu schützen. Schwerwiegender und wohl auch nachhaltiger erscheint mir aber der Versuch, den Konflikt zwischen Amerikanern und Russen zu schüren, indem man der Moskauer Führung aggressive Absichten unterstellten. „Es war zu einem guten Teil den deutschen Russland-Experten zu verdanken, dass die Gegensätze und Konflikte des entstehenden Kalten Krieges von den Amerikanern auf diese Weise in  die Kriegsjahre zurückprojiziert werden konnten.“

Alles in diesem Buch Zusammengetragene beruht auf jeweils exakt benannten Fundstellen und Akten, die erst jetzt tatsächlich zusammengetragen konnten – was aber auch der Akribie  der damit befassten Historiker zu verdanken ist – die dazu nicht zuletzt des größeren persönlichen zeitlichen Abstandes vorurteilsfrei in der Lage waren.

Als nach der Gründung der Bundesrepublik auch ein Auswärtiges Amt geschaffen werden musste, ist es durchaus nachvollziehbar, dass man auch auf erfahrene Diplomaten zurückgreifen musste – wer sonst hätte das nötige Know How gehabt, das für den mühsamen wie notwendigen Aufbau internationaler Beziehungen nötig war. Dass nämlich ausländische Beziehungen ein sehr wichtiger Arbeitsbereich einer Regierung sind – auch davon gewinnt man in diesem Buch eine Vorstellung.

Was hier vorgelegt wird, ist eines der brisantesten Bücher zur Geschichte Deutschlands. Nochmals sei es gesagt: Es ist so brillant geschrieben, dass man es ohne zu ermüden tatsächlich vollständig in einer vertretbaren Zeit lesen kann, und dies auch tun sollte. Offen bleibt die Frage der „Schuld“ der Nachgeborenen. Was wir hier vorfinden, ist ein „Sittengemälde“, das uns abstrus, kaum glaubbar und kaum nachvollziehbar erscheint.

Was noch fehlt, ist eine ähnlich gründliche Analyse dessen, warum es bei gut und christlich  Erzogenen, zur gebildeten Elite eines Landes zu rechnenden überhaupt möglich war, dass sie alles, was eigentlich immer gut und richtig war, derart vergessen konnten. Für die Nachgeborenen gibt es in diesem Zusammenhang + die Frage der „Schuld“ nicht mehr – wohl aber de Aufgabe, dieses „Warum“ weiter und weiter zu analysieren, um Wege zu finden, etwas wie das Geschehene, wie einen gefährlichen Krankheitserreger zu analysieren, und bereits im Vorfeld zu verhindern, bzw. künftig dagegen immun zu machen.   Weil wir ja bis heute überall in der Welt darauf stoßen, dass menschenverachtend in großem Ausmaß gemordet und vernichtet wird.

Fazit: Schuld lässt sich nicht auf die Schultern der Nachgeborenen laden – wohl aber ein weltweites Maß an Verantwortung für Gegenwart und Zukunft. Für die ist dieses Buch nun vorhanden; es sollte gelesen werden!

Zu den Verfassern:

Eckart Conze, geboren 1963, ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Marburg. Bei DVA erschien der von ihm mitherausgegebene Band Fünfzig Jahre Bundesrepublik Deutschland und die vielbeachtete Monographie Von deutschem Adel.

Norbert Frei, geb. 1955, war Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum und Vorsitzender des Kuratoriums der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. Derzeit lehrt er Neuere und Neueste Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und ist Leiter des »Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts«

Dr. phil. Peter Hayes ist Professor für Geschichte und Holocaust Studies an der Northwestern University in Evanston, USA

Moshe Zimmermann (