Geschichte einer ungewöhnlichen Familie  und ein farbiger Abschnitt Zeitgeschichte

Das Haus WittgensteinWenn einem bei einem Buch, in dem man eine Familiengeschichte erwartet hat, plötzlich ein Herzklopfen überkommt, oder man von einer Gänsehaut überzogen wird, oder einem der Atem stockt – dann ist das mehr als ungewöhnlich. Als ich es ausgelesen hatte, suchte ich im Internet nach Besprechungen dazu. Also, die aus dem englischsprachigen Raum waren des Lobes voll. Aber bei einigen aus unserem Gebiet stellte ich etwas Verblüffendes fest: Sie äußerten sich zurückhaltend bis negativ, weil sie etwas vermissten: Sie nahmen nämlich den Verfasser übel, dass er die Ikone der Philosophie: Ludwig Wittgenstein,  (dem jüngsten Sohn der Familie) nicht ausreichend gewürdigt habe, sondern dessem Bruder, den einarmigen Pianisten Paul Wittgenstein, soviel Aufmerksamkeit schenke.

Tatsächlich ist der Autor – nach einem Studium der Musik, Konzertagent und Musikkritiker. Er hat auch völlig Recht, indem er die Musik in den Vordergrund stellt: Sie spielt im Leben der Wittgensteins eine überragende Rolle. Umsomehr ist zu bewundern, wie er hier – gestützt auf ein riesiges Quellenmaterial – auch ein schicksalsreiches Stück Zeitgeschichte wie einen Film vor uns abrollen lässt …


Vorn im Buch ist ein Stammbaum der Familie Wittgenstein abgedruckt, den Sie hin und wieder brauchen werden. Ihre Geschichte beginnt mit dem 1802 geborenen Hermann Christian Wittgenstein, der es – nicht zuletzt Dank geschickter Heirat – zu einigem brachte. Er hatte elf Kinder. Sein Sohn, Karl Wittgenstein (geb. 1847) war es, der das schier unerschöpfliche Vermögen anhäufte, das der Familie (er hatte acht Kinder) zunächst Glanz und Ehren einbrachte. Zunächst hatte Karl zu wenigen Hoffnungen berechtigt: Er war ein eigensinniges und schwieriges Kind, das obendrein mehrmals von zuhause ausriss. Er kam bis New York. Die Geschichte des Aufstiegs Karl Wittgensteins vom rebellischen jungen Barmann in Amerika zum millionenschweren öesterreichischen Stahlmagnaten wird hier kurz erzählt. Seine Familie gehörte zu den schillerndsten Familien des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts. Sie führten ein offenes. prunkvoll ausgestattetes  Haus, in dem Musiker wie Brahms, Mahler oder Richard Strauss und die Wiener Avantgarde verkehrten. Aber wenn es nur das wäre und außerdem nur berichtet würde, dass er ein strenger Vater war und drei seiner fünf Söhne sich umbrachten – – einer – der Jüngste -verschenkte sein Erbe und wurde ein weltbekannter Philosoph, einer blieb Pianist, der trotz fehlender rechter Hand konzertierte und sich von Ravel, Hindemith, Prokofjew oder Britten Stücke komponieren ließ… Trotz aller dieser Besonderheiten wäre nichts als eine – letztlich tragische – Familiengeschichte wie viele andere vor dem Hintergrund zweier Weltkriege…

Es ist das WIE der Schilderung dieser Familiengeschichte: die gesamte Tragik und Größe einer Familie vor dem Hintergrund zweier Weltkriege und dem Nationalsozialismus. Dieses WIE, das die  über die Familie hereinbrechenden jeweils ‚Neuen Zeiten‘ ebenso spannend. exakt und mit unglaubliche vielen Einzelheiten schildert, nimmt einem oft beim Miterleben den Atem. Er beschreibt unentrinnbare Verstrickungen so, dass man sich beim Lesen hilflos einbezogen fühlt.

Das Buch ist in 68, mal längere mal kürzer Kapitel aufgeteilt, die entweder der einen oder anderen Person gewidmet sind, oder aber den Fortgang der historischen bzw. politischen Entwicklung berichten. Und sowohl die eine wie die andere parallel und fortlaufend berichtete Geschichte ist einzigartig – eine Mischung aus Ironie und Mitgefühl – geschildert. An einigen Textbeispielen werde ich Ihnen  das  zeigen.

Gleich auf der ersten Seite werden wir in wahrhaft rasanten Tempo mitten in das alte Wien der zwanziger Jahre  hineinversetzt. Damals wurde Wien noch nicht, wie heute, mit Sahnetorten, Mozartkugeln, seinen prächtigen Gebäuden, Lippizanerhengsten usw, vermarktet. Aber damals wie heute war es eine Stadt der Widerspüche: Die Habsburgische Hauptstadt enthielt sowohl dynamische als auch schmutzige Züge. Die inneren Teile der Stadt waren düster und schmuddelig. Im jüdischen Viertel sieht es unsäglich elend aus. Wer in jener Zeit die Straßenbahn benutzte, kam in Verständigungsschwierigkeiten: Damals gab es eine anwachsende Zahl von Magyaren, Rumänen, Italienern, Polen, Serben, Tschechen, Slowenen, Slowaken, Kroaten, Ruthenen, Walachen und Bosniaken – die sich vielfach mit jenen, die deutscher Abstammung waren, vermischten. (Zu welchen Katastrophen dies später führen sollte, lernen wir noch kennen.)

Um Ihnen zu zeigen, WIE der Autor seine Geschichten erzählt und sie so außerordentlich farbig und interessant gestaltet, nehme ich aus der Schilderung des Lebens der acht Kinder Karl Wittgensteins (drei Töchter und fünf Söhne) mal den Anfang von einer, Paul betreffend, als Beispiel.

Am 1. Dezember 1913 schien eine kalte Wintersonne über den größten Teil Österreichs. Abends hatte sich Nebel von den nördlichen Karpatenhängen bis zur hügeligen Ebene des Alpenvorlands ausgebreitet. In Wien regte sich kein Lüftchen; auf den Straßen und Bürgersteigen waren wegen der ungewöhnlich frostigen Witterung nur wenige Menschen unterwegs. Für den sechsundzwanzigjährigen Paul Wittgenstein war es ein Tag nahezu unerträglicher Spannung.
Feuchte Finger und kalte Hände sind der Alptraum jedes Pianisten – schon ein Hauch von Schweiß kann genügen, und die Finger rutschen aus und man trifft versehentlich zwei nebeneinanderliegende Tasten. (…) Paul erwartete keinen ausverkauften Saal. (…) Es war ein Montagabend, er war unbekannt, von den Stücken, die er spielen wollte, hatte man noch nicht viel gehört. Allerdings war diesem Unbekannten sehr wohl bekannt,wie man es anstellt, durch Verteilen von Freikarten einen Saal zu füllen. (…) Die Familie Wittgenstein war groß, und man hatte gute Beziehungen. Alle Geschwister, Cousins und Cousinen, Onkel und Tanten würden kommen, und sie würden aufstehen und am Ende jedes Stückes begeistert applaudieren. (…) Paul hätte einen kleineren Saal mieten können, aber man hatte ihm gesagt, dass dann möglicherweise keine Kritiker kämen. Er brauchte Max Kalbeck von der neuen Wiener Wiener Tagblatt und Julius Korngold von der Neuen Freien Presse. Es waren die beiden einflussreichsten Musikkritiker in Wien; sie mussten über ihn schreiben.“

In den ersten Hundert Seiten wird uns so nach und nach die ganze Familie Wittgenstein vorgestellt; Sie werden mit allen Licht- und Schattenseiten und Besonderheiten so plastisch geschildert, dass man sich bald ihnen zugehörig fühlt und, bei allem, was nun bald über sie kommen wird, nicht anders kann, als mit ihnen zu leiden. Aber, bevor die Katastrophe beginnt, noch eine Schilderung aus der ‚guten‘ Wittgenstein-Zeit, damit Sie begreifen, was da alles mit ihnen unterging.

(…) Die privaten Konzerte fanden meistens im Musiksaal im ersten Stock statt. Es war der prächtigste aller Salons der Wittgensteins. Wertvolle Jagdgobelins bedeckten die Wände vom Boden bis zur Decke, außer einer Seite, wo eine Orgel mit zwei Manualen stand; reichverziert mit Bildern von Rittern und Spielleuten im Stil der Präraffaeliten. In der Mitte des Raumes standen zwei Bösendorfer-Imperial-Flügel einander gegenüber, und auf einem hohen Sockel sah man die olympische Gestalt Ludwig van Beethovens, sitzend und mit nacktem Oberkörper, aus einem einzigen Marmorblock gemeißelt – eine Vorstudie Max Klingers für sein berühmtes Leipziger Beethovendenkmal. Zehn goldene Stehlampen waren im Raum verteilt, doch sie wurden selten eingeschaltet, denn gewöhnlich war der Raum dunkel. (…) Falls Jerome eine Toilette gebraucht hätte, wäre auch das kein Problem gewesen, denn es gehörte zu Karl Wittgensteins Obsessionen, die größten Zimmer seines Hauses mit angrenzenden Waschräumen inklusive Klosetts auszustatten; die Hähne und Becken darin waren vergoldet.(…)

Paul und Ludwig (die Buben genannt), waren die jüngsten und schließlich die letzten der ehemals fünf Brüder. Während Pauls Lebensweg zielstrebig durch die Musik vorgezeichnet ist, sieht es bei Ludwig (der in die Geschichte eingehen wird als der berühmte  Philosoph aus Cambridge)  völlig anders aus. Zunächst studierte er an der Technischen Hochschule Maschinenbau. Heißlufttechnik war sein Thema. Später betrachtete er das alles als vergeudete Zeit. Dann ging er nach Manchester; er schrieb sich dort als Forschungsstudent ein – Fachgebiet Aeronautik, Propellerbau. Schließlich landete er bei Bertrand Russel in Cambridge: War vielleicht die Philosophie der bessere Forschungsgegenstand für ihn? Es gibt dort viele Anekdoten über den impulsiven jungen Mann. „Mein deutscher Freund wird langsam eine Plage“ notiert Russell; dennoch fand er Gefallen an ihm. Sein ganzes Leben litt Ludwig unter Selbsthass, Einsamkeit und qualvollen Gedanken an Selbstmord. Er fühlte sich zu Männern hingezogen und war froh, wenn er einen Gefährten gefunden hatte. Bis an sein Lebensende sollte es nicht anders werden: ruh- und rastlos ergriff er, der längst auf sein Vermögen verzichtet hatte, (er war – als Tolstoi-Anhänger – überzeugt, Geld verderbe den Menschen) die seltsamsten Berufe (Volksschullehrer, Hilfsgärtner, Apothekenbote, um nur einige zu nennen); und dennoch gehören die von ihm verfassten Schriften zu den großen Dokumenten der modernen Philosophie. Die hat allerdings der Verfasser dieses Buches nicht besonders erklärt: Einerseits ist sie wirklich schwer nachzuvollziehen, noch weniger beschreibbar, andererseits hätte das wohl ein weiteres Buch bedeutet.

Dann fallen die Schüsse in Sarajewo. Der erste Weltkrieg beginnt. Im Buch liest sich das so: „Paul trug wieder die farbige Uniform eines Zweiten Leutnants des 6. Dragonerregiments: schwarzer Helm mit aufgesetztem Kamm und Einfassungen aus Messing, dem Emblem des Kaiserlichen Doppeladlers vorn und an den beiden Seitenblättern je ein Emblem, einen mit einer Schlange kämpfenden Löwen darstellend; krapprote Kniehosen, hellblaue Uniformjacke mit roten Anhängeschnüren (…) Auch die Bewaffnung zeigte seinen Rang an: Roth-Steyr-Pistole Kaliber 8 mm, Mannlicher-Repetierkarabiner, Kavalleriesäbel mit Silbergriff und Bajonett.
(…) doch [auch] die Ausrüstung sowohl der Männer wie der Pferde waren Relikte eines vergangen Jahrhunderts, die den Anforderungen moderner Schlachten nicht genügten. (…) die Gewehre und Säbel waren zu schwer; (…) selbst die  [für Paraden perfekten] Sättel waren gedankenlos konstruiert (…) sie rieben den Rücken der Pferde auf. Innerhalb der ersten Kriegswoche fiel schon ein großer Teil der Österreichischen Kavallerie aus, weil Hunderte von Offizieren sich gezwungen sahen, abzusteigen und ihre Pferde am Zügel zu führen.“

Der erste Weltkrieg entpuppte sich als ein phänomenales Getümmel von Zentraleuropas Nationen, die im Namen der Ehre in Aktion traten: Am 32. Juli erklärte Deutschland Russland den Krieg; Verbündete schlossen sich zusammen und am 5. August, am 6., am 10., am 12., erfolgen kreuz und quer Kriegserklärungen, am 23. stellte sich Japan auf deutsche Seite, was am 28. zu weiteren Kriegserklärungen führte. Liest man das im Buch so in geraffter Form auf einer dreiviertel Seite, wird einem der gesamte Wahnsinn dieses Weltkrieges bewusst. Das Schicksal der einzelnen Familienmitglieder der Wallensteins während des Krieges, wie auch das Leben an der Front – ausgerechnet der Pianist Paul verliert dabei seinen rechten Arm – und die spätere Gefangenschaft wird nun fortlaufend weitererzählt.

Aber Mitte November waren alle Kämpfe beendet. Zwei Millionen Soldaten des Habsburgischen Heeres hatten ihr Leben verloren; über weitere zwei Millionen Männer waren als Gefangene nach Russland und Sibirien transportiert worden – drei Millionen waren verwundet heimgekehrt. [Insgesamt kostete dieser Krieg 17 Millionen Menschenleben.] Eindringlich, genau und farbig wird von diesem sinnlosen Krieg berichtet. Das Ableben des letzten Kaisers 1922 war der Beginn einer neuen Ära Österreichs.

Viele der 68 Kapitel dieses Buch sind dem Pianisten Paul gewidmet; er ist – wie auch die anderen Wittgensteins – ebenso begabt, wie zielstrebig aber auch kompliziert. Dennoch lernt man ihn im Verlauf des Buches zu lieben. Berühmt wurde er aber, da er trotz fehlender rechter Hand konzertierte (er ließ sich u. a. von Ravel, Prokofjew und Britten die Stücke dafür komponieren). Aber auch die Schwestern (Hermine, Helene, Gretl) rücken – je älter sie werden – immer weiter in den Vordergrund; sie sind es, die in all den familiären Spannungen, und den Jahren auch finanzieller Turbulenzen  immer wieder erfolgreich für Regelungen und Ausgleich sorgen.

„Am 11. März 1938 – Österreichs längstem Tag – marschieren Truppen der deutschen 8. Armee an der Nordseite der österreichisch-deutschen Grenze auf.  (…) mit freudiger Überraschung hätten sie zur Kenntnis genommen, wenn sie zu diesem Zeitpunkt erfahren hätten, dass das ganze Land bereits dabei war, zur Feier ihrer Ankunft Hakenkreuzfahnen zu entrollen.“ –

Hitler wurde begeistert empfangen und extatisch gefeiert.  Schon lange waren in Österreich latent antisemitisches und dem Nationalsozialsmus ähnliches Empfinden registrierbar. Aber nur zu bald sollte allen klar werden, was der so begeistert empfangene, wahnsinnige Hitler (immerhin ein Österreicher!) ihnen mitbringen würde. Beispielsweise benötigte nun jeder für die Staatsbürgerschaft des Deutschen Reichs einen Ariernachweis. Wann aber war ein Jude jüdisch? Abstammung? Religion? Probleme über Probleme, die nun auch die Wittgensteins betrafen. Ihrer jüdischen Herkunft sehr wohl bewusst, aber seit drei Generationen praktizierende Christen. Nun mussten sie in eigener Sache reisen, verhandeln, nach Unterlagen suchen, um zu beweisen, zu erkaufen und retten, was zu retten war. (Bei all dem, seitenlang in vielen Einzelheiten geschildert, wurde mir fast schlecht.) Überdies war es auch kompliziert und meist finanziell ein Ruin, wenn man Österreich verlassen wollte. An alles hatte Hitlers perfide Mannschaft bereits gedacht. Aber, immerhin, Gretl, eine der Schwestern, war bereits zuvor in den USA angekommen, war amerikanische Staatsbürgerin; Paul in der Schweiz – später in den USA – während die Schwestern in Wien es geschafft hatten, mit viel List und noch mehr Geld den Mischlingsstatus zugesprochen zu bekommen.

„Ende des Jahres 1944 gab es in Wien kaum noch Anhänger Hitlers. Amerikanische Flugzeuge tauchten auf und warfen über der Stadt ihre Bomben ab …“

All das, was ich hier angedeutet und übersprungen habe, lesen Sie nun am besten selbst. Es ist ein wirklich wunderbares Buch, inhaltlich und sprachlich um vieles besser, als so mancher pure Familienroman. Und mit ziemlicher Sicherheit wird es zu jenen Büchern gehören, die man später auch gern noch ein zweites Mal liest. Lassen Sie sich dieses Buch nicht entgehen!

Ingeborg Gollwitzer