Oder: Dreiundachtzig – Das Unerklärliche – Eine Komi-Tragödie
„Einem fliehenden Pferd kannst du dich nicht in den Weg stellen. [ … ] Und: ein fliehendes Pferd lässt nicht mit sich reden“. Dieser Satz aus Walsers Novelle „Ein fliehendes Pferd – geschrieben, als Walser fünfzig war – gilt jetzt, nach weiteren dreiunddreißig gelebten Jahren, noch immer und doch anders. Ob Walser damals, als er diesen Satz schrieb, daran gedacht hat, als wie wahr dieser sich auch für ihn selbst, Lebensjahr um Lebensjahr, herausstellen sollte? Wie sieht das jetzt, auf der Zielgeraden angelangt, aus?
Als Walser 1977 ‚Ein fliehendes Pferd‘ schrieb, wurde daraus – zu seiner Überraschung – sein bis dahin größter Erfolg: Er hatte mit der Schilderung der beiden sich zufällig treffenden ehemaligen Schulfreunden, Helmut Hahn und Klaus Buch, und deren Frauen nur scheinbar auseinanderdriftende Pole beschrieben. Offenbar so genau, dass für alle, selbst eine Midlife-Crisis Erlebende, das Buch eine Offenbarung wurde. Denn: Im Lauf der Novelle werden aller Lebenseinstellungen in Frage gestellt. Eine harte Erkenntnis: Die Realität der eigenen Wirklichkeit. Die Novelle entstand als ‚Nebenarbeit‘, als Walser an einem größeren Buch schrieb, der ‚Seelenarbeit‘, und zwischendrin irgendwie nicht von der Stelle kam.
Und nun der Schritt zu: ‚Mein Jenseits‘? In einem Interview (Datum konnte ich nicht eruieren) antwortet Martin Walser zum Thema Tod befragt: „Ich muss mich davor hüten, zu glauben, mir stehe nur noch eine beschränkte Zeit zur Verfügung. Natürlich weiß ich, dass schon vielen Leuten das, woran sie gerade arbeiteten, durch den Tod aus der Hand geschlagen worden ist. Diese Befürchtung spielt bei mir, wenn ich beim Arbeiten bin, keine Rolle. Ich muss es mir leisten, in der Zeitlosigkeit zu existieren.“ Trotzdem – auch Martin Walser kann es nicht leugnen – er wird immer älter. Wie aber damit umgehen?
Dann nämlich kommt es zu jener im ersten von sieben Kapiteln von ‚Mein Jenseits‘ beschriebenen Begegnung im Dorf Letzlingen mit Konrad Peterer, Knecht auf dem Hof seines Bruders … Wieder bahnt sich eine harte Erkenntnis an: Die Realität der eigenen Wirklichkeit. Diesmal die des Dreiundachtzigjährigen. Nicht zuletzt darum vermute ich, dass „Mein Jenseits“ ein ähnlicher Erfolg sein wird wie „Ein fliehendes Pferd“. Vor allem weil es ein positives Buch ist. Und, um auch das vorweg zu sagen: Es gehört zu den schönsten Büchern, die ich je gelesen habe!
Irgendetwas zuckt in dem Verfasser, obwohl an Leib und Geist gesund, beim Beobachten Konrads zurück: Er beobachtet „(…) eine Art Kultur des Umganges mit solchen, die im Alter allmählich komisch werden. (…) Das merken alle, wissen alle, nur der, der allmählich komisch wird, merkt es nicht.“ Interessanterweise macht Walser seinen Erzähler (wie auch später dessen Protagonisten) zwanzig Jahre jünger, als er selbst ist. Kann er sich nicht vorstellen, dass ein Dreiundachtzigjähriger das Beobachten des Knechtes Konrad zu solchen Überlegungen (und der danach folgenden Novelle) fähig bzw. interessiert, ja, angeregt würde? Bleibt er bei Dreiundsechzig, weil ihm Dreiundachtzig undenkbar ist? Doch die Begegnung mit dem Sonderling Konrad bleibt nicht folgenlos, obwohl dessen tatsächlicher Geisteszustand unklar bleibt – nur sagt er eben seit Längerem nichts mehr außer zu seinen Kühen, die er hütet, und – was einer beobachtet haben will – auch zu einer Forelle. Sommer wie Winter trottet Konrad BARFUSS daher. Nach Konrad befragt, bohrt der Bruder, der Bauer, mit dem Zeigefinger seine Schläfe an.
Plötzlich kommt die Angst der Älterwerdenden durch: „Auch, wenn einem Konrad sympathisch ist, man selber möchte in eine solche Rolle nicht geraten. Und unter Hundert Älterwerdenden ist höchstens ein Konrad. Man nennt in Letzlingen, was die Älterwerdenden auszeichnet, Mödelen. (…) Man nimmt die Mödelen [wenigstens in Letzlingen] nur hin, weil man nichts machen kann gegen sie. (…) Wo ich hingeraten bin , geht man mit komisch Werdenden weniger wohlwollend um. [Woher der Erzähler tatsächlich kommt, und wie berechtigt seine Angst ist, erleben wir erst später.] Eins ist überall gleich, Der allmählich Komischwerdende merkt es selbst nicht. Das ist ganz sicher. Und ebenso sicher: Keiner sagt es ihm.“ Soweit also mit seinen besorgten Überlegungen gekommen, gesteht sich der Erzähler nun selbst ein, schon lange Dreiundsechzig zu sein. Er weiß, man kann alles machen mit Zahlen.
Eigentlich finge hier schon das 2. Kapitel an, aber eine Hauptsorge bringt er rasch noch hier unter. Das ist der Kampf mit Dr. Bruderhofer, der Ärztliche Direktor des Landeskrankenhauses Scherblingen, dessen Chef er [Augustin Feinlein] ist und der ihn ‚Alter Knabe‘ nennt, wartend, dass er endlich geht. Um was es jedoch tatsächlich geht, erfahren wir in den letzten vier Zeilen: „(…) Ihm geht es um seine Karriere. Mir um mein Jenseits.“ Und damit sind die Fronten schon´mal abgesteckt. Martin Walser meißelt Sätze wie ein Bildhauer: Steinern stehen sie da und unvergessbar. „Es ist ein Gebirge, das Alter. Sie schreiben über unser Alter, das sie nur vom Flugzeug aus kennen. Vom Darüberfliegen.“ (Steht es in der ‚Angstblüte‘ 2006).
Jetzt erzähle ich hier kurzgefasst die Geschichte, etwa wie sie im Klappentext zu lesen ist; sie ist eigentlich nur das Gerüst dessen, worum es hier letztlich geht. Prof. Dr.Dr. Augustin Feinlein, Chef eines psychiatrischen Krankenhauses, weiß, was Älterwerden bedeutet. Darum will er das eigene gewissermaßen nicht wahrhaben. Das Landeskrankenhaus war bis 1803 ein Kloster; den letzten Abt, von Feinlein ‚Eusebius‘ genannt, bezeichnet Feinlein als seinen Vorfahren. Eine weitere – allerdings bis auf Postkartenschreiben nicht Handelnde ist Eva Maria, die er in langer Vorzeit in einem Latein-Seminar kennen gelernt hat. Sie war aber nicht nur im Lateinischen besser ist als er, sondern obendrein insofern etwas Besonderes: sie hat, als erste Frau, den Bodensee von Bregenz bis Konstanz bis Konstanz in 25 Stunden und 15 Minuten durchschwommen . Immerhin 64 Kilometer. Allerdings hat sie, 22jährig nicht Feinlein, sondern zunächst den über 60jährigen Richard Sandro Graf von Wigolfing geheiratet. Der allerdings tut uns den Gefallen, in der Eiger Nordwand zu erfrieren und scheidet somit als Handelnder aus. Nicht so Eva Maria, von Feinlein schon früh heimlich ‚Artemis‘ getauft -[jene Göttin der Jagd, keinem Manne untertan, grausam und streng] heiratet nun wieder nicht Feinlein, sondern dessen Oberarzt (und Widersacher) Dr. Bruderhofer, 41, achtzehn Jahre jünger als sie. Eva Maria hält trotzdem stets Kontakt zu Feinlein – allerdings nur in Form von Postkarten: „IN LIEBE EVA MARIA“. Und damit sind die Karten gemischt.
Übrigens lässt sich – es hat mir viel Mühe bereitet alles zusammenzufinden – auch der Ort Scherblingen, nomen est omen, exakt lokalisieren. Es ist das Prämonstratenser Kloster Weissenau; so genannt nach dem weißen Habit der Prämonstratenser-Mönche, von Walser exakt in vielen Details. beschrieben. Wie er überhaupt bei allem, was er schildert, oft fast schmerzhaft präsise verfährt – besonders, wenn es um Unsagbares geht.-
Doch wieviel scharfsichtiger und prägnanter, als im Fliehenden Pferd, beschreibt Walser hier Feinleins Weg hin zu dem, was dieser ‚MEIN JENSEITS‘ nennt! Völlig entspannt kann es jeder als die einfache, für jeden verständliche und spannende Geschichte lesen, in der ein alter Mann erfährt: Wir glauben mehr als wir wissen. Doch neben der vermeintlichen Einfachheit betreibt Walser kunstvoll ein Spiel mit doppeltem Boden und unvorstellbar feinem Spott. Imponierend ehrlich, er mahlt er es geradezu: die verborgene und wachsende Urangst eines alternden Menschen.
Im 2. Kapitel beginnt Walser die Zwiebel, um sich zu deren Kern vorzuarbeiten, zu schälen: Prof. Dr. Dr. Augustin Feinlein sitzt im Flugzeug nach Rom. Auf 32 A- Fensterplatz. Weiter vorn entdeckt er jedoch einen, der ihn überdeutlich an Dr. Bruderhofer erinnert; obendrein hört der nicht auf ihn anzustarren. Feinlein nennt ihn ‚Bruderhoferverschnitt, Dr. Bruderhofer-Imitation, Bruderhofer-Darsteller.“ Beim Aussteigen verliert Feinlein seinen Widersacher, dessen Gepäck (Rucksack aus dem ein Geigenkasten ragt), bald erklärlich wird. Zunächst ist aber Feinleins Hut (er hat nur zwei) weg. Und der Hut ist kostbar: Wenn ich mich mit ihm im Spiegel sah, kam mir mein Gesicht immer zwanzigjährig vor. Zwar brav, aber bereit unbrav zu sein.. Obwohl er sich sonst immer beim Aussteigen zuerst um den so wichtigen Hut kümmert. Ansonsten hält er sich streng an sein Ritual, bei dem nichts schiefgehen kann: wie immer das Hotel ‚Locarno‘ anzusteuern. Von dort, wo es befriedigend dunkel ist, dass er sich dort groß vorkommt, in die Stadt! Jeder Schritt lange gelernt: Nur ein Moment der Unsicherheit: Der ‚Bruderhoferverschnitt! Auf dem gleichen Trottoir wie Feinlein, der sich demzufolge mühsam fuchtelnd die andere Straßenseite erkämpft. Aus der nun sicheren Entfernung ein Blick nach drüben: „Der stand nun völlig bewegunsglos. Von seiner rechten Hand führte ein massiver Draht hinunter aufs Trottoir., führte zu einem Hund aus massivem Draht, deutlich ein Dackel. Neben dem Dackel der Geigenkasten. Offen. Neben dem Geigenkasten ein paar Schuhe. Der Mann BARFUSS. Es war offensichtlich, dass man Geld in den Geigenkasten werfen sollte. ( … )“ Nur halbe Entwarnung: „Es gibt ja jetzt Menschen, die stellen sich in Metropolen auf belebteste Punkte und verharren reglos. Man soll sie für Kunstwerke halten. Aber es gibt auch Statuen, die aussehen, wie stehengebliebene Menschen. (… )“
Also – Gewohnheit – zu ’seiner‘ Basilika San Agostino.. Schließlich ist ja Augustinus sein Namenpatron! Namen sind bei Walser wie Körperteile. Feinlein die Freitreppe hinaufstürmend „Als wäre ich 36 und nicht 63.“ Drinnen so dunkel wie im ‚Locarno‘. [Natürlich weiß er, der versierte Rombesucher, alles über die Madonna, die im linken Kirchenschiff zu sehen ist. Der Maler löste einst einen Skandal damit aus: Das Modell war eine stadtbekannte Prostituierte, und die BLOSSEN Füße der Pilger erschienen unpassend, weil schmutzig.] Es ist die Madonna dei Pellegrini, das Jesuskind auf dem Arm, davor knien zwei Pilger. Besonders wichtig sind Feinlein – einmal wieder – deren nackte Sohlen.„Die Stöcke der beiden zeigen, dass sie von weiter her kommen und dass es Leute aus einem Dorf sind. (…) Die Madonna ist natürlich für Ihre Schönheit berühmt, weil sie eine junge Römerin ist. Keine Spur Madonnenroutine. Das Kind, kein Hauch Jesuskind. (…) Mehr kann man sich zu nichts anstrengen als dieses Paar sich zur Anbetung anstrengt. Und das ist der Gegensatz, den unsereiner erlebt. Wie die Madonna und ihr Kind in wunderbarer, aber ganz anstrengungsloser Teilnahme herabschauen auf die zwei Pilger, denen alles in der Welt zu Anstrengung oder gar zur Überanstrengung wird. Auch die Anbetung. Und nichts sagt das deutlicher als die erdigen Fußsohlen des Mannes, denen Schuhe so fremd sind wie den Füßen Konrads in Letzlingen. Und was für ein Barfußunterschied zwischen den feinen Füßen …. der feinen Madonna (…) die zeigen, diesen feinen Füßen ist Last fremd, die tanzen unter allen Umständen ( … ) Das alles zusammenzubringen war immer die vom Bild gestellte Aufgabe (… ): Armes Paar. Tolle Dame. Stimmt nicht. Arm ist das Paar nicht. Die strahlen eine Gebetskraft aus, die sie der Dame Madonna ebenbürtig macht. Woher sie den Jesus hat, wagt man nicht zu denken. Allein die Schönheit zählt. Das Jenseits muss schön sein. Sonst kannst Du es vergessen.“ [Und angesichts der Doppelbödigkeit von Feinleins Überlegungen: Auch den über das Jenseits kann man so oder so verstehen.] Als Feinlein nun die Kirche verlässt, zieht er seine Schuhe und Socken aus. BARFUSS geht er bis zur Piazza Nacona. Hätte er seinen Hut noch gehabt wäre ich BARFUSS weitergegangen … Dieser Hut und BARFUSS! … Das wär’s gewesen!
Am nächsten Tag sorglos, angstlos – in der Kirche an der schönen Römerin vorbei. Ein das linke Seitenschiff beschließender Altar: Maria dell‘ Parto – eine Skulptur. Eine Art Muschel an beiden Säulen links und rechts und überallem die Schrift VIRGO TUA GLORIA PARTUS ( … ) auf jeden Fall VIRGO (…) und an der linken Seitenwand, der Sarg der Heiligen Monika. Der Mutter Augustins. [Die Reliquien der Heiligen wurden 1455 von Ostia nach Sant’Agostino überführt.] “ … und versuchte, nichts zu denken. Aber die naseweisen Wörter ließen sich nicht abhalten, mir zu sagen, dass ich doch bei einer Art Satz gelandet war: Du glaubst, was nicht ist. Dann ist es. (…) Das war noch zu üben, die Gegenwart von Erwünschtem ohne Wörter. Malen wäre die Lösung, wie Jan Kerkade, als Pater Willebord nach Aichhalden geschickt. Der hat die Gesichter der Buben und Mädchen des Dorfes als Heilige an die Kirchenwände gemalt. Feinlein malt – wenn auch in Gedanken – eine wildentschlossene Engelschar. Wildentschlossen, diese in den Himmel reichende Kirchendecke zu tragen. Sie stehen mit den Füßen in der Luft. ( …) meine Engel stemmen die Himmelslast, (… ) Sie wissen gar nicht, was sie stemmen und tragen, aber sie stellen sich etwas vor. (…) Die Engel werden mir gleichsehen. Deshalb bin ich Kirchenmaler geworden.“ Gott und so weiter überlässt er allerdings größeren Künstlern. Fast nebensächlich scheint seine Notiz: Noch wichtiger als durch seine Dorfgesichter ist mir der Malermönch durch zwei Zeichnungen geworden, in denen er Eva und Maria jedesmal in EIN Bild bringt. Das hat außer ihm in 2000 Jahren, glaube ich, keiner vermocht.
Er beginnt es sich zu basteln, sein Jenseits. Ziellos unterwegs durch Rom … Und Gesichter. Die wissen alle, wo sie hinwollen, wo sie herkommen. Ich ging andauernd durch Bestimmungsströme durch. Und war der, der dazu bestimmt war, die Bestimmheit von allen zu erleben.“ Dann doch irgendwo hängengeblieben und zwei Hemden gekauft; von denen er eines sicherlich nie tragen würde, und das andere … Hemden hatte er mehr als genug. „Man muss es aushalten, sich zum Rätsel zu werden.“ Dennoch: Dass Rom ihn gestärkt hatte, zumal er im Flugzeug seinen Hut zurückbekam, war eindeutig. „Es war ein Kraftgefühl. Eine Gefühlsdeutlichkeit.“
Im 3. Kapitel die ‚gemeißelte‘ Erkenntnis: „Es gibt eine Sehnsucht, die nichts von sich weiß. Erst wenn man sich ihr überlässt, erfährt man, wohin sie einen haben will.“ Wie man vielleicht dahingehend weiterkommt, ermöglicht ihm Rudolf Breitwieser, langjähriger Mesner der zum Krankenhaus gehörenden Stiftskirche, mit dem er sich so angefreundet hat, sodass der ihm die Schlüssel überließ. Feinlein saß allein in der Kirche und schaute auf Noberts gemaltes Leben. Überlegend wie Dr. Bruderhofer – natürlich ehrverletzend – reagieren würde, wenn Feinlein seinen Augenblickgedanken – hier Mesner sein zu können – in die Tat umsetzen würde.
Solange ich hier in der Kirche sitze und Zeuge werde, wie die Stille alles andere als lautlos ist (…) dann ist diese Kirche mein Element. Doch – wie bereits in der Basilika San Agostino – bekommt es sein ‚Gefühl‘ erneut mit seinem Verstand zu tun. Sein kirchlicher ‚Vorfahr‘, er nennt ihn Eusebius, hat so allerlei aufgeschrieben, was Feinlein nun streckenweise zu peinigen beginnt. Das Thema seines Eusebius sind nämlich Reliquien, von denen er berichtet. dass keine Gegend so reich damit bedacht sei , wie diese zwischen Donau und Bodensee. Und schilderte, wie sein Vorfahr, der Abt Benedikt Mangold, die Heiligblutreliquie vor dem Zugriff der wütenden Bauern hätte retten können. das war am 17. Mai 1525. Wir erfahren auch ein Stück Bodenseeraum-Kirchengeschichte. Die an ein Kloster angegliederten Bauern waren Leibeigene: das Kloster konnte von ihnen verlangen, was es wollte. Sogar ein ganzes Dorf hätte so ein Abt komplett verkaufen können. Vor der Bauernwut flohen die meisten Äbte. Jedoch: Benedikt Mangold rettete sich mit der Heiligblutreliquie durch eine Geheimtüre in eine Art Wandschrank. Zwei Tage und zwei Nächte, teilt der mit, habe essdarin gebangt und gebetet. [Mit der Geschichte dieser Reliquie kommen wir dem geographischen Ort dieser Erzählung näher: 1090 war die Reliquie an einem Freitag nach Christi Himmelfahrt tatsächlich ins Kloster Weingarten gelangt; in Erinnerung daran wird zu diesem Datum bis heute der Blutritt feierlich begangen. Und über Weissenau erfahren wir: Schnell wurde der Erhalt der Reliquie in weitem Umkreis bekannt und Tausende von Gläubigen pilgerten zum Kloster Weißenau. Nachdem das Kloster 1803 aufgelöst wurde, hütet nun die Pfarrei in der einstigen Klosterkirche diesen wertvollen Schatz.]
Sein Vorfahr Eusebius beliefert ihn auch weiter mit Einzelheiten zu den Beweisen, auch etwas von der Hundertjahrfeier des Leibes des Heiligen Saturnin – von Rom über Luzern und Meersburg ins Prämonstratenser-Kloster Weißenau. Und damit haben wir den zweiten Zueignungsort. Was nicht unwichtig ist: sucht doch Walser in den Kulissen, wo er einst etwas ursprünglich für ihn Wichtiges fand, nun nach den Gründen seiner in Jahrzehnten gewachsenen argwöhnischen inneren Zerrissenheit. Eusebius, der ihn nun zum Thema Reliquien aufklärt, fügt da noch mancherlei hinzu. Nicht ohne allerzarteste Ironie wird das gesamte Drum und Dran mit dem ganzen Leib des heilige gesprochenen Märtyrers beschrieben: Und weltliche und geistliche Würdenträger überprüften mit eignen Händen, dass in dem Sarg alle Gebeine waren, die zum Leib eines Menschen gehören.
Eusebius verdankt es Feinlein außerdem, dass dieser ihm dokumentiert, welchen Beweisstücken die Frommen bis heute ihre Gottesfurcht, Ergebenheit, Andacht, Demut, Frömmigkeit, Trost und Erbauung, schlicht ihren unerschütterlichen Glauben verdanken. Und was für Reliquien! In einem Extraglas Blut des Heiligen Saturnin! Und Fäden aus dem Gewand Marias und Haare von ihr und Teile des Moses-Stabs, mit dem er Wasser aus dem Felsen schlug, und Partikel des Golgatha-Kreuzes und der Schwamm, mit dem Christus am Kreuz Essig gereicht wurde und Milch der allerseligsten Jungfrau Maria, ein Stück von Christi Nabelschnur, und, eben auch, das Blut des Gekreuzigten und – man soll das nicht verschweigen – die heilige Vorhaut Jesu Christi.
Aber, es ist auch genüsslich, wie Walser das heilige Drum und Dran der unbekümmerten, emsigen kirchlichen Begebenheiten beschreibt: Man wird ihm – da bin ich fast sicher – seine gläserne Sprache übelnehmen, unter der – liest man es genau – auch beißender Spott zum Vorschein kommt; das mit der Kirche ist eine ebensolche Komi-Tragödie, wie der Zustand des Augustin Feinlein.
Und das ist der Satz, in den seine [Eusebius‘] Nachforschungen münden: Es ist nicht wichtig, dass Reliqien echt sind. ( … ) Wie schrieb der Vorfahr? Glauben heißt Berge besteigen, die es nicht gibt. Glauben, was nicht ist, dass es sei. Ohne das Geglaubte, sei die Welt immer noch wüst und leer.
(…) Wörter suchen für ein Glaubensgefühl. (…) Die Wörter seien inzwischen in die Schule gegangen, in denen das Glaubenkönnen abgeschafft worden ist.
Und schließt: Wir glauben mehr als wir wissen. Feinlein verabschiedet sich: Ach Eusebius. Adieu.
Im 4. Kapitel wird nun ausführlich geschildert, was ich oben in der knappen Inhaltsangabe bereits erwähnt habe.: Wie der Widersacher Dr. Bruderhofer ausgerechnet an die Eva Maria kam, wobei Feinlein hier erwähnt, dass sie genau so groß sei wie er selbst. Und eine Frau, die so groß ist wie du, ist natürlich größer als du. Und wie leidet Feinlein, wenn ihn, nach welcher Hochzeit auch immer, Eva Marias Karten erreichen: IN LIEBE EVA MARIA. Laut schreien liegt mir nicht. Leise habe ich schreien müssen. Tagelang. Und nächtelang. Und mich bekannt machen müssen mit der Aussichtslosigkeit. Versuche keiner, sich mit diesem Wort, mit diesem Zustand zu beschäftigen.
Doch mit der Namenwahl Eva Maria hat Walser gleich am Anfang der Geschichte etwas signalisiert, als er das merkwürdige Blatt des Malers Kerkrade erwähnt, auf dem Eva und Maria seltsamerweise vereint abgebildet sind..Eva Maria – beide und auch noch wie in einer Person – kennzeichnet für ihn etwas Gewünschtes, von vornherein aber für alle Zeiten Unerreichbareres. Augustin Feinlein hat so viel Unerreichbares/Nochzuverstehendes, und die Zeit wird knapp.
Überhaupt überkommt Feinlein im 4. Kapitel die gesamte Wucht die Unbeantwortbarkeit und Unerreichbarkeit seiner Fragen und Ziele. Da kommen jetzt viele der von Walser-gemeisselten SÄTZE, für die wir nur irgendwelche farblosen Begriffe für einen (ver)zweifelnden, alten Menschen hätten: Absurde Ausweglosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Resignation, Seelenschmerz, Trostlosigkeit.
Bei Walser wird es fast zu einem Choral des alten Feinlein: … Es gibt keinen Verständniszugang zu diesem Wort [Aussichtslosigkeit], zu diesem Zustand, wenn es nicht dein Zustand ist. Du kommst nicht in Frage. Das ist der Zustand. Ich werde dich immer lieben. Bis bald.
Dennoch kommt ihm Eusebius wieder zu Hilfe: Glauben lernt man nur, wenn einem nichts anderes übrig bleibt. Aber dann schon. (…) Egal, ob es Gott gibt oder nicht, ich brauche ihn. Er ist die Schaufensterpuppe, die mir winkt, wenn ich vorbeigeh‘. Doch dieses gesamte Walser-Wortgemälde muss man selbst lesen – es ist nicht beschreibbar.
Denn auch der Gedanke an seinen Widersacher, Dr. Heinrich Bruderhofer, der ihn mobbt, ihm die Frau weggeschnappt und der obendrein auch noch Segler, ein Durch-Und-Durch-Angeber ist, brodelt in ihm. Segeln. Für Feinlein bedeutet Segeln Vorbeisegeln: An allem vorbei, das Feinlein so wichtig gewesen wäre, wäre er überhaupt jemals dorthin gekommen. Alle schreibt Walser sie auf, die Gedankenfetzen, die durch Feinleins Kopf flackern, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben, und dennoch seinen Zustand beschreiben. Und wieder: Eva Maria. Ist IN LIEBE eine Reliquie? … Also komme ich mir vor wie eine Supermarktschmiere, die hundert Verwendungen hat und für keine taugt. (…) Wir stellen uns immer etwas vor. Andauernd läuft etwas ab ins uns. Es gibt keine leere Sekunde. Es geht um Himmel und Hölle; sie sich vorstellen zu können ist unser Erbteil Es existiert, ohne das wir daran glauben. Aber wir glauben ja daran.(…) glauben, eine Verschönerung der Welt. (…) IN LIEBE ist mein Jenseits. Glauben, was nicht ist. Dass es sei.
In den letzten drei Kapiteln wird nun restlos klar, warum Walsers Angabe, es handele sich um eine ‚Novelle‘ nahezu falsch ist. Tatsächlich handelt es sich um ein Hologramm. (Das Wort kommt aus dem Griechischen und ist zusammengesetzt aus: holo = ganz, vollständig und gramma = Geschriebenes, Botschaft; und seine Wirkung ist Dreidimensional. Eigentlich nur in der Physik mit Laserstrahl und so herstellbar. Neu ist: Walser kann das auch mit Worten.
Die letzten drei Kapitel vereinigen sich mit den vorangegangenen, denn die Ereignisse im Leben Augustin Feinleins überschlagen sich nun. Wiedermal hat Dr. Bruderhofer – auf einen Silvesterball – ihm einen neuen Tiefschlag versetzt: Seine Schläge sind immer so konstruiert, dass ich mich nicht nur nicht werhen kann, sondern auch noch so tun muss, als merkte ich nichts von diesen Schlägen. Dank Dr. Bruderhofer hatten sich die Silvesterbälle zu Komstümbällen verwandelt; Bruderhofer diesmal: Richard Wagner. Er redete größer. Gewaltiger. Hinreißender. (…) Der Ball war ein einziger Jubel. Sein Jubel. Obendrein spannte er Feinlein dessen langjährige Vertraute und Sekretärin aus. Als dem aber dämmerte, dass er sie endgültig verloren hatte, ließ er sich von Doktor Häuptle, alias Gevatter Tod und dem Pfleger Alfons, verschüchterter Vampir, heimbringen.
Aber das ist noch nicht alles: In der Kirche hat er das Reliquiar gestohlen. Er empfindet dies als ‚In-Sicherheit-Bringen’. Mein Vorfahr hat es vor der Gier des Staates gerettet. Ich habe es gerettet vor der herablassenden Verlogenheit der Gebildeten, seien sie geistlich oder weltlich. Dr. Bruderhofer darf bei den Ursachen meiner Handlung nicht fehlen. Es ist nämlich noch etwas herausgekommen: Bruderhofers Spione haben auffliegen lassen, dass Feinlein ein Buch schreibt zur Verteidigung der Reliquien. Die neundundfünfzig Ärzte und Ärztinnen des PLK mussten schwören, dass kein Wort darüber außerhalb der Klostermauer dringen könne. Anordnung Dr, Bruderhofer. Feinlein mustert derweil seine Monstranz. Millimeter um Millimeter beschreibt er sie erst von vorn, dann von hinten. Ihren derzeitigen Wert schätzt er auf Millionen. So kann es einem zumut sein, der ein Kind aus brennendem Haus rettet. Wieder gut verpackt, legt er sie daheim in den Schrank, in dem auch seine Reliquien-Papiere sind. Jetzt [weshalb er sie in Sicherheit hatte] drohte der Reliquiquie längst eine viel höhere Gefahr. Die herablassende Duldung, mit der die Gebildeten, egal ob kirchlich oder weltlich, die Reliquie als ein Relikt behandeln, das nur noch Peinlichkeiten bereitet, wann immer es irgendwo genannt werden muss.
Dann kommt der Tag nach Christi Himmelfahrt, wo in einem ausufernden, bunten Spektakel mit Reitern, Blaskapellen, überall aufgebauten Altären ein junger Mönch zu Pferde mit dem goldenen, edelsteinbesetzten Kreuz unverdrossen nach allen Seiten segnend gestikuliert.. Das nachfolgende Hochamt, für Walser eine Parodie; Das Kreuz wird von einem Bischof in Empfang genommen, der zieht dann, seinerseits nach allen Seiten segnend, mit dem goldenen Kreuz in die Stiftkirche ein, wo er ein Hochamt zelebrieren und auch noch predigen wird, was er selber nicht glaubt, was aber das gläubige Volk glauben soll. (…) Keiner dieser Bischöfe, keiner der geistlichen Herren glaubt daran, dass das im Bergkristall wirklich ein paar Blutstropfen Christi sei. Sie tun nur so, als glaubten sie.
Feinlein hatte mit Spannung erwartet, was passieren würde, wenn man – was ihm der Mesner Breitwieser meldete – das Fehlen der Reliquie bemerken würde. Es passierte – nichts und der Blutritt fand – mit einer eilig anderswo ausgeliehenen Reliquie statt – mit einer Ersatzmonstranz. Ohne Wirkungsverlust.
Die Suche nach dem Täter ganz unzeremoniell: Alle, die Schlüssel hatten, waren verdächtig. Auch Feinlein. Bei seiner Hausdurchsuchung wurde die Reliquie auch ohne Schwierigkeiten gefunden. Bei der folgenden Befragung entschlüsselt er alles, was ihn zu seiner Tat geführt hatte. Das mit Dr. Bruderhofer, der ihm auch noch die Sekretärin … Der ihn wegen seiner Reliquienforschung an den Pranger gestellt hat. Und wie er sich da hatte wehren müssen. Es ist für ihn nun beweisbar: Die Geistlichkeit lässt die Gläugigen, die zu Tausenden den Weg der Pferdeprozession säumen, im Glauben, sie würden mit der Heiligblutreliquie gesegnet. Das war der Beweis, dass die Kirche selber nicht an die Echtheit der Reliquie glaubt. Es kann mit jeder beliebigen Monstranz gesegnet werden.
Was nun kommt, ist die lange Verteidigungsrede Feinleins; er fasst zusammen – und das ist jetzt alles andere als parodistisch – was das heißt: Glauben heißt Berge besteigen, die es nicht gibt. (…) es ist schön, etwas zu glauben. Auch wenn’s nie für lange gelingt. (…) Glauben lernt man nur, wenn einem nichts anderes übrig bleibt. Aber dann schon.
Ach, Feinlein hat jetzt so viel zu sagen. Einer der Beiden, die ihn untersuchen sollten, stenographierte alles mit. Auch bestimmt Feinlein Dr. Bruderhofer zu seinem Nachfolger. Etwas später wurde Feinlein einquartiert in KII. Nach einer gründlichen Untersuchung würde entschieden werden, ob er schuldfähig sei. Es sprach alles für eine schuldunfähigkeit.
Was nun kommt, sind die wohl schönsten Seiten des Buches. Feinlein steht vor dem Unerklärlichen. Es fängt so an: Die Anziehungskraft des Unerklärlichen ist die Macht des Unerklärlichen. Es gibt kein Entkommen. Das Unerklärliche ist immer schon, wo du bist … Du kommst dem Unerklärlichen nicht näher. Durch nichts. … Trotzdem hoffst du ununterbrochen, dass du erfährst, was du erfahren musst.
Aber das müssen Sie nun selbst lesen. Sie werden es, wie vermutlich vieles in diesem Büchlein, mehrfach lesen. Wie gesagt: Es ist ein Hologramm – man entdeckt staunend immer wieder Neues. Ach, Feinlein. Leb wohl!
Ingeborg Gollwitzer
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My blog – No Air Thousand Oaks