Hurra, wir dürfen zahlen! Der Selbstbetrug der Mittelschicht!

Hurra, wir dürfen zahlen

Die deutsche Mittelschicht – und das sind die meisten von uns – schrumpft. Gleichzeitig werden Reiche immer reicher. Der Protest bleibt aus. Stattdessen betreiben Handwerker, Beamte und Angestellte sogar noch ihren eigenen Abstieg, indem sie klaglos zulassen, dass die sogenannten Eliten immer weniger Steuern zahlen.

Wie kann das sein? Die Antwort: Die Mittelschicht sieht sich selbst irrtümlich als Teil der Elite! Vielleicht nur deswegen, weil sie alle lesen, schreiben, rechnen können, eine ordentliche Ausbildung haben, einen festen (oder weitgehend festen) Job, einen eigenen Betrieb …

Ein teurer Irrtum, der nur den wirklich Reichen nützt. Die Mittelschicht in Deutschland betrachtet sich endlich gerne und immer häufiger als Opfer. Ständig hat sie den Verdacht, sie würde vom Staat ausgebeutet. Doch: Stellt die Mittelschicht nicht die Mehrheit in dieser Gesellschaft? Warum stimmt sie zum Beispiel für Steuergesetze, die die Oberschicht einseitig privilegieren? Warum benimmt sich die Mittelschicht so irrational?


In der Berliner Tageszeitung wird das heute genauer analysiert: „Das ist ein wütendes Buch. Und irgendwann packt einen auch beim Lesen Wut über das, was hier beschrieben wird. Ulrike Herrmann, Wirtschaftskorrrespondentin der Berliner Tageszeitung, zeichnet ein Bild der deutschen Gesellschaft, das man sich durch Lektüre der Wirtschaftsseiten der Zeitungen eher nicht machen kann. Sie schildert ein Land, das sich zwar gern als „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ (Helmut Schelsky) sieht, in Wirklichkeit aber „extrem ungleich“ ist.

Dabei klagt Herrmann diese Unterschiede nicht an, sie beschäftigt sich schlicht mit den Kosten und stößt dabei auf ein geradezu perfektes System, das die Reichen fast immer schont und die Mittelschicht zur Kasse bittet, genauer: die Schicht mit Einkommen zwischen monatlich 1000 und 2000 Euro netto für Singles und zwischen 2100 und 4600 Euro für Familien mit zwei kleinen Kindern. Während Arbeitnehmer bis zu 53 Prozent ihrer Arbeitskosten als Steuern und Sozialabgaben abführen, versteuert ein Millionär im Schnitt seine Einkünfte mit 32 Prozent. Steuerfahnder und Betriebsprüfer fehlen in Deutschland zu Tausenden, aber eine neue Großbehörde darf Schwarzarbeit bekämpfen.Dazu werden seit Jahren die direkten Steuern gesenkt, was weiter unten als verdeckte Erhöhung ankommt. Der Fiskus holt sich sein Einnahme-Minus über indirekte Steuern zurück – und das leert das Portemonnaie derer schneller, die ohnehin weniger drin haben.“

Ulrike Herrmann untersucht den bundesdeutschen Alltag, analysiert die wundersame Vermehrung der Milliardäre, die Renaissance des Adels, die Rückkehr der Dienstboten, die Verachtung der Unterschicht und den fatalen Glauben der Mittelschicht, sie sei privilegiert.

Aber die Zeit drängt. Findet die Mittelschicht nicht zu einem realistischen Selbstbild, sondern hängt weiter ihrem Elitedünkel an, wird sie auch weiterhin allein für wirtschaftspolitische Fehlentscheidungen bezahlen.

Ulrike Herrmann, geb. 1964, ist Wirtschaftskorrespondentin der Tageszeitung taz. Sie ist ausgebildete Bankkauffrau, hat Geschichte und Philosophie studiert und ist ein typisches Mittelstandskind. Sie stammt aus einem Vorort von Hamburg, wo alle Bewohner an den gesellschaftlichen Aufstieg glaubten.

Dieses Buch sollten wir alle – so emotional es auch ist – lesen und anfangen, unsere Lage genauer zu überdenken. Während  Guido Westerwelle wagt, zum Sturm gegen die Ärmsten der Armen zu poleminisieren, sollte endlich einmal über die nachdrücklicher nachgedacht werden, denen es ebenfalls oft hinten und vorne nicht reicht.

Auch ich gehörte und gehöre zur sogenannten ‚Mittelschicht‘ und weiß, wovon  ich rede – aus der täglichen Praxis nämlich. Darum freut es mich auch, dass es dieses Buch gibt.

Ingeborg Gollwitzer