Autobiographische Stationen eines umjubelten wie ebenso oft verissenen, jedoch maßgeblichen  deutschen Regisseurs

Ganz früh stellt er sich in seinem Tagebuch vor: „Ich bin neun und neugierig und heiße Neuenfels“ – Kunst und Musik waren Hans Neuenfels, geb. 1941, von früh auf aus dem Elternhaus bekannt. Aber mit der Mathematik hat es der Schüler nicht: Im humanistischen Gymnasium lässt er sich von der Mathematik „aus gesundheitlichen Gründen“ befreien – „Wenn ich eine Logarithmentafel sehe, bekomme ich Tachykardie“, teilt er seinem Lehrer mit.

Überhaupt, das werden Sie in seinen ‚Autobiographischen Stationen‘ oft mit Vergnügen, oft mit Respekt nachlesen können, wie gern und oft er etwas mitteilen oder kommentieren mag. Und er sorgt dafür, dass er ganz bestimmt nicht missverstanden wird, so auch in diesem Buch, wozu er oft so viele ergänzende Worte braucht, dass ellenlange Sätze entstehen, in denen man sich nahezu verirren kann. Aber mit Vergnügen.

Gleich anfangs aber beschreibt er, warum er sich als ‚Bastard‘ und sein Buch ‚Das Bastardbuch‘ nennt, und er redet dabei von Hunden: ‚Mischlinge sind sie, vogelfrei, keinesfalls astrein und wie jene Gedanken, die einen heimsuchen im Morgengrauen,  des Abends, in der Nacht und sogar am helllichten Tag, wenn man es überhaupt nicht erwartet, den Kopf auf das Bein legen oder sich festbeißen im Hirn oder hinter die Augen, dass sie zu starren beginnen und man zwischen die Dinge sieht, um sie herum, neben, hinter, unter, über sie, nur nicht auf sie. Nie unmittelbar.  (…) Sie ketten sich aneinander, doch ketten sie dich nicht los, und du schreibst, sprichst, denkst um sie herum wie eine Wespe, die keinen Ansatz zum entscheidenden Stich findet. (…) Manchmal, wenn ihnen [den Bastarden] die Einsamkeit zu groß wird, treten die Bastarde im Rudel auf, demonstrieren ihre Minderheit  frechweg, scheinbar herostratisch [sieges-besessen] und scheinbar solidarisch. Dann sind sie besonders verletzbar. Du siehst sie am Strand entlanglaufen, wie sie den Möwen nachbellen, dann die Schnauze in salziges Wasser tauchen, die Pfoten durch den nassen Sand schleifen, großkotzig übereinanderspringend. Aber in der Nacht, da gehe ich jede Wette ein, hörst du sie heulen, jeder auf einem anderen Hügel, und in ihren Augen unzählige Splitter glühender Fragen.“ Später, wenn man seine Erinnerungen liest, wird man oft an sie denken müssen, an die ‚glühenden Fragen‘.

Hans Neuenfels studierte Schauspiel und Regie am Max-Reinhardt-Seminar in Wien, wo er auch seine spätere Frau, die österreichische Schauspielerin Elisabeth Trissenaar kennenlernte, mit der er bis zum heutigen Tag verheiratet ist und einen Sohn, den Kameramann Benedict Neuenfels, hat. Dazu ist gleich etwas anzumerken: Dies Buch ist auch eine, immer wiederholte,  einzige Liebeserklärung an seine Frau – obwohl er nicht müde wird, zu erklären, dass es eine Verbindung zwischen Mann und Frau – so verschieden wie entfernte Kontinente – gar nicht geben könne. Nun,  diese Verbindung hält, zu beider Erstaunen immerhin fünfzig Jahre an!

Sein wohl lebenslang anarchisches und maßloses Konzept seiner  Oper- und Schauspiel-Inszenierungen – von Lob oder gigantischem Verriss begleitet, haben aber Wurzeln, die er in diesem Buch wunderbar beschreibt. Er ist – von Jugend an – ein fanatischer Leser und bleibt es lebenslang. Was es für ihn bedeutet: Fanatisch, fast zwanghaft lesen zu müssen, können aber wohl nur jene nachvollziehen, denen es ebenso ergeht. Bereits 1959 veröffentlicht er seinen ersten Gedichtband. Aber die entscheidende Begegnung, die in meinen Augen sein gesamtes Wirken kennzeichnen wird, ist  1961 die mit dem Maler Max Ernst,  und er ist ein Jahr lang in Paris dessen Assistent.

Wenn man sich die Mühe macht, sich Werke von Max Ernst anzuschauen, wird einem die Bedeutung dieser Begegnung bald klar werden.  Ein Bild hat er von ihm gesehen: ‚2 enfants sont menacés par un rossignol‘ – „Ich starrte auf das Bild und spürte, dass etwas Unaufhaltsames in mir im Aufbruch war. (…) alles galt es zu tun, diesem Maler zu treffen! (…) Jetzt erst realisierte ich die Überschrift des danebenstehenden Aufsatzes ‚Ein Mittagessen mit Max Ernst‘. Ich überflog die Zeilen. Er lebte noch! Ich hörte langsam zu husten auf, rauchte und innerhalb von zwei Tagen wusste ich, an welche Adresse ich dem Maler schreiben konnte. (…) Ich legte dem Brief die Deutung meines Bildes bei und klebte ihn behutsam mit Uhu zu.“ Der Verleger von Neuenfels‘ ersten Gedichten, (mit deren Illustrationen der junge Dichter absolut nicht einverstanden war), zeigte diese Max Ernst, der sie las und sich an den Brief des jungen Dichters erinnerte. Was dann folgt, zieht sich durch das ganze Leben von Hans Neuenfels, er beschreibt es so: “ Ich schreibe das ausführlich, weil mich die Akribie des Zufalls fasziniert, diese tausend Fädchen und Rädchen, die ineinandergreifen und sich verbinden, als ob von fern ein sorgsam ausgeführter Plan sie steuern würde, während sie wie ein blinder Fleck in unserem Leben auftauchen, der uns lang und tief beschäftigt, um ihm einen Sinn zu geben. Zwischen unserem Anstoß und unserem Abschluss, der Konsequenz, die wir daraus ziehen, liegt ein Meer von Unwägbarkeiten, und heute denke ich, dass es das ist, was zu oft die größere Macht über uns hat, und ich erschrecke.“ Am 1. Juli 1961 lernte er Max Ernst kennen.  Da war er zwanzig.

Hier wäre es schön und sinnvoll für den Leser, wenn dieses Buch wenigstens eine Abbildung eines Werkes von Max Ernst enthielte. So aber tut jeder gut daran, sich das eine oder andere wenigstens im Internet anzusehen und über Max Ernst nachzulesen – um zu verstehen, welch neue Seh- und Denkweise von Max Ernst auf Hans Neuenfels übergegangen ist und lebenslang mitbestimmend für sein Werk war.  Der hochgebildete Max Ernst suchte mit den unterschiedlichsten Materialien und Mitteln die Grenzen zwischen Traumwelt und Wirklichkeit aufzuheben; das Unbewusste war für ihn sowohl Darstellungsbereich wie Triebkraft schöpferischen Gestaltens.

Neuenfels inszenierte u.a. am Schauspiel Frankfurt, das er unter der Leitung von Peter Palitzsch mitprägte, in Stuttgart, Hamburg, Berlin, München, Zürich und Wien. Von 1986 bis 1990 war er Intendant der Freien Volksbühne Berlin. Er drehte Filme über Kleist, Musil, Genet und Strindberg. 1994 erhielt er die Kainz-Medaille der Stadt Wien. Seit 1974 inszenierte er 30 Opern. Dazu aber las und las und las er, diskutierte, rauchte und trank er unermüdlich, um den wahren Kern dessen, was er auf die Bühne oder in den Film bringen wollte, herauszuarbeiten.  Für das Publikum, das  eher auf herkömmliche Schauspiele und Opern eingestellt war – oft genug ein Schock. „Der Psychoanalyse verdanken meine Theaterarbeiten viel, und das bedeutet: ich ihr ebenfalls. Aber auch wenn ich begierig die Bücher las, mich nächtelang mit Psychoanalytikern unterhielt, ich werde nie eine Analyse machen. (…) Was mich an der Psychoanalyse faszinierte – an Groddek mehr noch als Siegmund Freund – ist die Lust, Verästelungen aufzuspüren, Zusammenhänge zu entschlüsseln, die die christliche Schulddecke fortziehen: Schau dich an, das bist du, da wirkt viel mit und zusammen, aber du bist nicht allein, eine endlose Geschichte, ganze Kulturen haben dich gemeißelt, eine Genetik ist da, selbst deine Großeltern spielen noch eine Rolle (…)“

Für einen so außergewöhnlichen Regisseur wie Hans Neuenfels – besonders aber für uns, wenn wir seine Erinnerungen lesen, ist es immer wieder betrüblich, dass wir seine ‚Werke‘, nämlich seine Inszenierungen,  nicht wie vergleichsweise Bücher chronologisch an uns vorüberziehen lassen können. Sonst könnte man sie sich hintereinander anschauen. Aber vielleicht ist das auch nicht sinnvoll, bei allen filmisch festgehaltenen Inszenierungen hat man weder die Umgebung, im Zuschauerraum zu sitzen, d.h. nicht dessen Flair, noch kann ich meinen seinen Blickwinkel persönlich ausrichten und muss dem Auge der Kamera folgen.

Eins lernt man aber aus diesem Buch, minutiös geschildert, zu verstehen: Kunst ist ein übergeordneter Begriff und immer ein Ganzes. Bei wirklicher Kunst kommt alles zusammen: Vergangenheit und Gegenwart, das was uns prägte und das, was uns prägen soll. Man wird künftig moderne Inszenierungen (hoffentlich) mit neuen Augen zu sehen beginnen.

Bei Neuenfels findet man den Begriff`’Entelechie‘, der ihm wichtig ist für sein Denken und Schaffen. Philosophisch gesehen steht es für die Eigenschaft von etwas, sein Ziel in sich selbst zu haben, einer etwas Ganzem innewohnende Kraft, die sich im Stoff, im jedem Werk  verwirklicht. Also muss die Entelechie des Ausgangspunktes eines jeden Stückes, seine innewohnende Kraft erhalten bleiben, auch und besonders dann, wenn man es mit anderen, aktuelleren Bildern füllt. Weil alles Denken und Fühlen eigentlich unsterblich ist, also sich immer wiederholt, auch wenn es aufgrund anderer  Auslöser neu entsteht. Um etwas zu erkennen und zu verstehen, dazu muss man lesen, lesen, lesen. Nur beim Lesen fallen Zeit und Raum von einem ab, werden fern. Neuenfels gelingt auch zu den entferntesten Personen und und in die entlegensten Zeiten, er kriecht in sie und ihre Zeit hinein, er begreift sie als eigenes Geschehen. Er sieht, fühlt, denkt wie sie. An  anderer Stelle beschreibt Neuenfels das so: “ (…) Mit wievielen Toten lebst du und wie vielen Lebenden? Das frag ich Dich mal. Und das gilt für jeden von uns. Ich habe eine Frau, einen Sohn, eine Mutter, ein paar Verwandte, ein paar Freunde, mit denen lebe ich; aber stell ich dagegen, mit wie vielen Toten ich lebe, dann sind die ungleich zahlreicher: Euripides, Kleist, meine Großeltern, Rimbaud, Frau Hafkesprink, Trakl, mein Vater, Presley, mein erster Wellensittich, Freud; ich könnte Dir eine Liste machen, die zehnmal so lang wäre wie die der Lebenden.“ Das steht in seinem Buch ‚Wieviel Musik braucht der Mensch? Über Opern und Komponisten‘, was ich unten ebenfalls als Lesehinweis anfügen möchte. Es ist ebenso, wie diese Autobiographie, fulminant geschrieben.

Ja, er hat von den Toten viel gelernt; auch ein stückweit, sich selbst zu begreifen zu lernen. Aber man erfährt auch, wieviele Diskussionen jede der Inszenierungen benötigte, um ihren Kern und ihre moderne Adaption herauszuarbeiten. Auch muss es für den Regisseur eine maßlose Anstrengung bedeutet haben, seinen Mitwirkenden klar zu machen, wie sie sich selbst in dem jeweiligen Stück zu verstehen haben; nicht alle haben so viel gelesen und sich in etwas hineinversetzt wie ihr Regisseur. Immer wieder berichtet er von Erschöpfungszuständen, die ihn sogar ins Krankenhaus bringen, von denen er sich erst wieder erholen muss. Dazu kommen das Kettenrauchen und der zu große Alkoholgenuss, den er selbst als seine Gefährdung empfindet, den er aber ganz einfach ‚braucht‘.

Dem Buch vorangestellt ist ein Zitat aus Goethes Iphigenie: „Doch immer bin ich, wie im ersten, fremd.“  Das hat wohl auch etwas mit dem Lebensgefühl von Hans Neuenfels zu tun, der sein Fremdsein und sein Vertrautsein, seinen immer wieder sich selbst befragenden Lebensweg , den er hier, hier in einzigartiger Weise nachgezeichnet hat. Mit allen Erfolgen, Kämpfen, Niederlagen – aus denen er immer erst wieder herauskommen muss, von einem unsichtbaren Etwas getrieben. Er hat dies Buch seiner Frau, Elisabeth Trissenaar gewidmet- es ist eine einzigartige Liebeserklärung an Sie.

Ich hoffe, Sie lesen es selbst – man kann dabei nichts verlieren, wird sie bei keiner Zeile langweilen und viele neue Einsichten und Erkenntnisse hinzugewinnen und in eine ganz andere  Welt versetzt werden.

Ingeborg Gollwitzer

PS  Was ich mir von Hans Neuenfels wünschte, wäre ein Buch etwa zu dem Thema ‚Wieviel Bücher braucht ein Mensch‘ – sollte es wirklich einmal erscheinen – ich werde es gierig lesen und natürlich auch hier vorstellen.

Zum Autor:

Komm in’s Offene, Freund! , rief der schwärmerische Hölderlin. Hans Neuenfels geht mit seinen ergreifenden Texten zur Musik ganz tief ins Innere. Elke Heidenreich

Hans Neuenfels ist nicht nur das ‚enfant terrible‘ der deutschen Opernregie, dessen Inszenierungen regelmäßig heftige Kontroversen hervorrufen, er war auch immer schriftstellerisch tätig. So entstanden Gedichte, Libretti, Erzählungen und ein Roman. In den vorliegenden Texten setzt er sich mit Komponisten und Opern auf eine ganz persönliche und unverwechselbare Weise auseinander. Er nähert sich ihnen an, umkreist sie und träumt sich etwa in Giuseppe Verdi, Wolfgang Amadeus Mozart, Richard Wagner, Bernd Alois Zimmermann oder Johann Simon Mayr hinein. Dabei sind literarische Miniaturen und Fantasien von enormer sprachlicher Wucht entstanden. Sie sind durchtränkt von der Leidenschaft des großen Theater- und Opernmannes, bieten neue, ungewöhnliche Sichtweisen auf die Komponisten und ihre Werke und tragen zu einem tieferen Verständnis von Neuenfels‘ Denk- und Arbeitsweise bei.