Dreißig Jahre mit den Piraha-Indianern am Amazonas
„Das Abenteuer eines Forschers im Urwald von Brasilien“ … schreibt der Verlag. Nun kann es sein, dass der, der das schrieb, das Buch nicht – oder nicht ganz – gelesen hat…
Aber es wäre mehr als schade, wenn dadurch das Buch in die Kategorie „Abenteuer-Bücher in fremden Ländern“ verbannt würde. Es ist viel mehr. Einerseits taucht man, Seite nach Seite lesend, ganz in diese nahezu für uns unwirkliche, völlig von der Umwelt abgeschlossene Region im Amazonas-Gebiet ein und trifft andererseits auf eine kleinere Eingeborenen-Gruppe, die vermutlich so lebt, wie sie immer schon gelebt hat. Man erlebt also wohl ein Volk, an dem große Zeiten der Menschheitsentswicklung spurlos einfach im wahrsten Sinne des Wortes ‚vorbeigegangen‘ waren. Und das wird nun beschrieben: Rein äußerlich ist es schon mal die so ursprüngliche Landschaft – die oft genug enorme Schwierigkeiten verursachen kann, sodass es tatsächlich manchmal richtig gefährlich wird. Eine Straße dorthin gab es nicht, und wenn man sich von einem Ort zum anderen begeben muss, dann über den Fluss. Ganz und gar nichts für esotherische Zurück-zur-Natur Enthusiasten.
Um den Inhalt zu umreißen: Ursprünglich zog Daniel Everett mit seiner gesamten Familie – also seiner Frau und seinen Kindern – aus, die Pirahã im brasilianischen Urwald zum Christentum zu bekehren.
Seiner Familie machte es offensichtlich nicht so viel aus, wie man wohl denken würde, ihr Familienoberhaupt auf diese strapaziöse Reise ins Ungewisse zu begleiten. Erklärbar wohl dadurch, dass seine Frau ebenfalls Missionarin war, aus einer Missionarsfamilie stammt, und ihre Kinder hier selbst zu unterrichten, war für ihre wie auch immer sich gestaltende Lebensführung einfach selbstverständlich.
Daniel Everett war gründlich: Ohne die Sprache der Pirahã zu verstehen und selbst sprechen zu lernen, würde er sie nie in die verheißungsvollen Gefilde des Neuen Testamentes und zur Lichtgestalt Jesus hinführen können. Mehr als interessant ist, wie er sich in ihre Sprache hineinzuarbeiten begann, die sich dann mehr und mehr als höchst sonderbar herausstellen sollte.
„Keine Zahlen, kein Zählen, keine Farbbegriffe. Das verstand ich nicht, aber die gesammelten Indizien vermittelten mir allmählich einen besseren Eindruck, insbesondere. als ich noch mehr Gespräche der Pirahã und [deren] längere Erzählungen studierte. … dass den Pirahã auch eine weitere Kategorie von Wörtern fehlt, die nach Ansicht vieler Linguisten universell verbreitet sind: Mengenangaben wie ‚alle‘ ‚jeder‘ und so weiter. “
Es wird wahrscheinlich noch Jahrzehnte dauern (früher hätte man die Zeit in 100-Jahre-Schritten messen müssen – nun wird sich alles – hoffentlich – durch die Computer viel schneller zusammenfassen lassen) bis man die Mär(en) über das Eigentliche der Sprache(n) über Bord geworfen haben wird. Was Daniel Everett über den Wortschatz der Pirahã zusammengestellt hat, stimmt so überhaupt nicht mit unseren Vorstellungen, was in einer Sprache alles zu sein hat, überein. Nein, wenn auch hochgestellte Linguisten derzeit behaupten, Sprache müsse genetisch in allen Menschenhirnen verankert sein – hier erfahren wir etwas anderes. Sprache wird hier im engen Lebens-Zusammenhang der Pirahã erfahrbar. Alles, was sie nicht brauchen, dafür gibt es kein Wort. Dennoch können sie durchaus ausdrücken, wenn sie etwas über sich oder ihre Umwelt mitteilen wollen – denn sie sind lebhaft und mitteilungsbedürftig.
„ … dass es bei den Pirahã keine einfachen Begriffe für [z.B.] Farben gibt, das heißt, die Bezeichnungen für Farben sind immer aus anderen Wörtern zusammengesetzt . … wie sich aber herausstellte, handelte es sich dabei nicht um einfach Adjektive, sondern um Satzteile. … dass das Wort für schwarz eigentlich ‚Blut ist schmutzig‘ bedeutet; für weiß verwenden sie ‚das sieht‘ oder ‚das ist durchsichtig‘ , für rot ‚das ist Blut‘ und für grün ‚das ist noch nicht reif‘. … das bedeutet nicht, dass Pirahã Farben nicht wahrnehmen oder bezeichnen könnten.‘
Insgesamt dreißig Jahre hat Daniel Everett die Pirahã studiert und mit Ihnen gelebt. Deren Sprache so gründlich zu lernen – in seinem Buch können wir die vielen, oft mühsamen Schritte mitverfolgen – war segensreich zumindest für ihn. Niemals sonst hätte er den Gesamt-Komplex, den die Pirahã mit ihrer Sprache umschlossen, jemals begreifen können. Es gelang ihm nicht, ihnen das Zählen und Rechnen beizubringen, obwohl sie ihn dringend darum gebeten hatten. Ihre Sprache war nicht nur durch ihre Worte = wie sie etwas bezeichnen, erstaunlich; sie kannte auch keine Nebensätze. Wenn eine Mitteilung aus mehren ‚Abschnitten‘ bestand, die wir in Nebensätzen anfügen würden, folgte bei ihnen eben ein Satz und dann der folgende, bis alles gesagt war. Die Pirahã sprechen nur über die Dinge, die sie selbst erlebt haben, bzw. in welchem Kontext sie für sie eindeutig erklär- und verstehbar sind. Eine Vergangenheit kennen sie ebenso wenig wie eine Zukunft; persönliches Besitztum ist ihnen fremd – was sich sogar dahingehend äußert, dass sie auch mit den Frauen anderer schlafen können. I
Ihre ‚Welt‘ ist der eng eingegrenzte Raum in dem sie leben, der ihnen mit allen Vorzügen und Gefahren restlos vertraut ist. Unübersehbar haben sie auf sehr überzeugende Weise ihre eigene Kultur, in der es Übersinnliches ‚über dem Himmel‘ oder ‚unter der Erde‘ – gibt dazwischen ist das Gegenwärtige – das auch klar geordnet ist: z.B.:
„… Über ‚bigi‘ erfuhr ich etwas, nachdem es einen Tag zuvor gerechnet hatte. Zunächst schrieb ich die Formulierung ‚bigi xihoixaagá‘, denselben Begriff, den er [Kóhoi, einer seiner hauptsächlichen ‚Lehrer‘ unter den Pirahã] als Beschreibung für nassen und schlammigen Boden auf. Dann zeigte ich nach oben, um den Begriff für ‚bewölkter Himmel‘ zu erfahren. Kóhoi wiederholte ‚bigi xihoixaagá‘.. einfach den selben Begriff, den er mir für ’schlammiger Boden‘ genannt hatte. …
Wie sich herausstellte, ist das Universum für die Pirahã aufgebaut wie eine Torte, deren einzelne Schichten durch Grenzen namens ‚bigi‘ getrennt sind. Es gibt Welten über dem Himmel und Welten unter dem Boden. … Biggi hat also einen wesentlich größeren Bedeutungsumfang, als ich mir anfangs vorgestellt hatte, und das Gleiche gilt auch für ‚xoí‘ ein weiteres Wort, das mit der Umwelt zu tun hatte. … Dann wurde mir klar, dass es den gesamten Raum zwischen ‚biggi‘ bezeichnet. es kann also ‚Biosphäre‘ oder ‚Dschungel‘ bedeuten, ganz ähnlich, wie unser Wort ‚Erde‘, das entweder unseren Planeten oder nur den Boden auf seine Oberfläche bezeichnet.“
Es gelang Daniel Everett nicht, die Pirahã zum Christentum zu bekehren, obwohl er ihnen, das Neue Testament sogar in Endlosschleife des Recorders vortragen ließ – ín ihre Sprache übersetzt und von einem Eingeborenen gesprochen. Von einem Jesus wollten sie nichts wissen; sie verbaten es sich schließlich sogar, immer wieder von ihm zu hören. Der Grund war einfach: Sie wollten von Everett wissen, ob er Jesus einmal selbst gesehen hätte oder wenigstens jemand kenne, der ihn selbst gesehen habe. Als das verneint werden musste, war für sie die Antwort klar: das Ganze war unglaubwürdig.
Nicht so einfach war da etwas ganz anderes für Daniel Everett und das, nach dem ‚Abenteuer fremde Landschaft‘, nach dem Abenteuer: Infrage zu stellen, was über Sprache gemeinhin eindeutig geklärt zu sein schien – nun zu einem ganz einschneidenden weiteren ‚Abenteuer‘ wurde: Das letzte, ganz persönliche. Ich lasse ihn wieder selbst zu Wort kommen:
„Die Pirahã sorgten dafür, dass ich einen Wahrheitsbegriff infrage stelle, den ich lange geschätzt und als Richtschnur für mein Leben benutzt hatte. Der Zweifel an meinem Gottesglauben in Verbindung mit dem Leben unter den Pirahã veranlassten mich dazu, einen vielleicht noch grundlegenderen Bestandteil des modernen Denkens infrage zu stellen: Den Wahrheitsbegriff selbst. Tatsächlich gelangte ich zu dem Schluss, dass ich in einer Wahnvorstellung lebte – der Illusion der Wahrheit. Gott und Wahrheit sind zwei Seiten derselben Medaille. Beide behinderten das Leben und das Geistige Wohlbefinden, zumindest wenn die Pirahã recht haben…
Wir sind nicht mehr und nichts weniger als hoch entwickelte Primaten. Der Gedanke, das Universum sei eine Jungfrau, die sich für uns aufgehoben hat, ist ziemlich lächerlich. Nur allzuoft gleichen wir den drei blinden Männern, die einen Elefanten beschreiben, oder dem Mann, der auf der falschen Seite der Straße nach seinem Schlüsselbund sucht, nur weil dort die Lichtverhältnisse besser sind.“
Dieses Buch Buch ist eine gelungene Mischung aus Abenteuererzählung und der Schilderung spannender anthropologischer und linguistischer Erkenntnisse. Und das Zeugnis einer Erfahrung, die das Leben Everetts gründlich veränderte. Es ist ein intellektuelles und persönliches Abenteuer, von dem Everett erzählt. Natürlich ging seine ‚Missionars-Familie‘ schließlich in die Brüche. Er widmet dies Buch nun seiner jetzigen Frau Linda Ann Everett; sie hat ihn ständig ermutigt. ‚Liebe ist etwas Wunderbares‘.
Ein Buch wie dieses sollte man eigentlich fast andächtig lesen. Es enthält ein Wissen,das bald untergegangen sein wird, und viele Fragen werden nicht mehr beantwortbar sein. Vielleicht werden wir nach diesem Wissen gerade dann besonders suchen, wenn der „große Schock“ in unserem Bewusstsein Einzug gehalten hat; das Ereignis, das hinter ihm steht, ist längst eingetreten.
Dies werden nicht sein: die Erderwärmung, irgendeine Finanzkrise oder ein erneutes „Wandern“ der Erdplatten unter uns, die nichts anderes tun als ihnen vorgegeben ist. Wieder und wieder werden sie über sich Welten zertrümmern oder alles Lebendige ersäufen – so, wie es im Alten Testament als die Strafen Gottes beschrieben steht.
Der eigentliche Schock wird die Globalisierung sein, in der nun solche Populationen wie die Pirahã nach und nach ausradiert sein werden. Nur dort aber können wir Kernfragen, die Bedingungen des Menschen noch erkennen. Von den vor wenigen Jahren noch existierenden 6500 Sprachen werden demnächst nur noch wenige übrig sein. Aber es gehört nun, im Zeichen der Globalisierung zu den wichtigsten Aufgaben, etwas über die Grundregeln des Menschen zu erfahren, die, so sehr sie sich unterscheiden, in einem zentralen Punkt übereinstimmen: Sie haben ein Recht auf Unversehrtheit. Und dabei ist das, was man mit der Sprache zu verstehen lernt, kein unwesentlicher Gesichtspunkt.
Heute lebt Daniel Everett (
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