Elf Kapitel mit ungewissem Ausgang.Wilhelm Genazino ist 1943 in einfachen Verhältnissen geboren, volontierte bei der Rhein-Neckar-Zeitung und studierte dann Germanistik, Philosophie und Soziologie in Frankfurt. Anschließend war er Redakteur bei verschiedenen Zeitschriften und Anfang 1970 war es dann soweit: Jetzt kann er von seiner Arbeit als Schriftsteller leben.
Seine Bücher erschienen in neun Sprachen, und er graste sozusagen die Palette wesentlicher Literaturpreise ab; der wichtigste war dann 2004 der Georg Büchner Preis. Den hat er auch wirklich verdient. Ich habe alle seine Bücher gelesen; die ersten zwar bewundernd, aber nicht besonders gern – nun aber ist eindeutig festzustellen, dass er mit jedem Buch besser wurde. Was sind nun sein Thema und seine Eigenart des Erzählens?
Er ist – auch in diesem Buch – zwar einerseits resignierend, aber immer wieder überkommt ihn eine Art Optimismus, der ihn nie total abstürzen lässt. Im Mittelpunkt steht meist ein Mann mittleren Alters (zwischen 30 und fünfzig Jahren), der in einer mittelgroßen Stadt mit einer Arbeit von gesellschaftlichem Ansehen beschäftigt ist, die er aber eher gleichgültig, gelegentlich widerwillig ausführt.
Er hat meist sexuelle Beziehungen zu attraktiven Frauen, die wie er, weder besonders schön noch hässlich, groß noch klein, dünn noch dick sind. Das sind sozusagen etwas wie seine Handspielpuppen, denen er im Laufe ihres von ihm geschilderten Lebensabschnittes einiges zumutet; das kann man dann etwa alle zwei Jahre in einem neuen, nicht besonders umfangreichen Buch nachlesen. Obwohl er sich dabei nicht im Geringsten um irgendwelche literarischen Moden kümmert: Mit jedem neuen Buch steht Genazino plötzlich im Rampenlicht.
Schon in seinen ersten Büchern stellte sich heraus, dass Genazino ein begnadeter Beobachter des Alltäglichen ist; jedoch, wie er es beschreibt, hat immer einen doppelten Boden. Bewunderungswürdig bringt er die zwei Ebenen des Beobachteten und des vom ihm Empfundenen in einem äußerst kunstvollen Satz zusammen. Beim Lesen merkt man es nicht, dass seinem Schreiben jeweils ein ziemlicher Denkakt vorausgegangen sein muss.
In meinem Exemplar der „Das Glück in glücksfernen Zeiten“ habe ich mir so viele Sätze, die mich besonders beeindruckten, angestrichen, dass ich sie hier gar nicht alle zitieren kann. Aber Sie sollten auch beim Lesen einen Stift zum Anstreichen dabei haben, dann können Sie sie später, wenn Sie das Buch nochmals durchblättern, immer gleich wieder finden.
Sein und unser Protagonist heißt Gerhard Warlich, und hat sich vom Wäscheausfahrer zum Organisationsleiter dieser Großwäscherei emporgearbeitet – in diesem Lebensabschnitt ist er 41 Jahre alt und wohnt mit Traudel, seiner Freundin, seit zehn Jahren in Dreieinhalb-Zimmern in einem ruhigen Mietshaus. Der Wäschereibesitzer Eigendorf hätte ihn zunächst nicht einmal als Ausfahrer einstellen wollen; er hielt ihn, den arbeitslosen promovierten Akademiker (er schrieb seine Promotionsarbeit über Heidegger), für hoffnungslos überqualifiziert. Doch der damals 27-Jährige brauchte schnellstens Arbeit, die er weder in der Uni noch in deren Umfeld finden konnte: Er musste innerhalb von acht Jahren das erhaltene Bafög zurückzahlen. (Ein Schicksal, das er mit nicht wenigen Akademikern teilt.) „Dieses Bildungslametta nützt in unseren Verhältnissen auch nichts mehr“, hatte sein Professor anlässlich seiner Promotion angemerkt.
Nun also ist er 41 und auch in seinem neuen Job zu einer passablen Position aufgestiegen. Aber ist er glücklich? Gleich zu Anfang lesen wir: „Ich hab neun Stunden Arbeit hinter mir und empfinde das Café als erste Wohltat des Tages. Auch die meisten Menschen um mich herum sind erkennbar erschöpft. Ausgepumpte, fast reglos in ihren Stühlen liegende Menschen empfinde ich als besonders schön. Sie wirken, mild von der Sonne beschienen, wie die endlich zur Betrachtung freigegebenen feierabendlichen Goldränder unserer Leistungsgesellschaft. (…) Ich bin eher stumm und suche in meinem Inneren nach Worten.“
Ja, das ist seine (und des Autors) Besonderheit: Er ist über 158 Seiten der stille Beobachter, der alles um ihn herum registriert und in seinem Inneren nach Worten sucht. Die schreibt er dann auf, bzw. formuliert er innerlich seine Gedanken. Irgendwie besteht er aus zwei Personen: Die eine, die äußerlich wirkt und zuschaut, die andere, die alles, was er beobachtet und sich einverleibt, dann zu endgültigen Sätzen formuliert.
Auch die Angelegenheit mit seiner Freundin. „Sie hat einen starken Gestaltungsdrang, dessen Opfer auch ich zuweilen werde. Es irritiert mich bis auf den heutigen Tag, dass Traudel, als wir zusammenzogen, von meiner damaligen Einrichtung so gut wie nichts für unsere gemeinsame Wohnung übernehmen wollte. Sie setzte es durch, dass ich die Sperrmüll-Abfuhr anrief und dann auch noch selbst dabei zusah, wie meine gesamte Einrichtung, mit der ich doch jahrelang gelebt hatte, von zwei Männern auf einen großen LKW geladen und dann in einer Müllverbrennungsanlage verschwand.“ Was nichts weniger das erste Anzeichen dafür ist, dass er zu der Überlegung kommt, „(… dass es hinter der ersten Wirklichkeit eine zweite und eine dritte gibt, an denen ich teilhabe (…).
Also begleiten wir ihn durch seine Tage daheim (…) „Die Leisigkeit, mit der ich neben Traudel sitzen bleibe und gleichzeitig verschwinde, wirkt auch auf mich unangenehm. (…)“ Und im Betrieb geht ihm durch den Kopf: „Unglaublich! Das Gefühl von Einschnürung wird dichter. Leider bin ich schnell abgestoßen. Zuerst bin ich lange lustlos, dann lange angeödet, dann stark abgestoßen und fluchtbereit.“
Außerdem ist er von noch etwas getroffen worden: Traudel, die bislang von ihm nur verlangte, er solle sie heiraten, verlangt es nun nach einem Kind. Er sagte zu der geplanten Eheschließung, dass er sich von einer Ehe stark eingeschränkt fühle, und denkt: „(…) nicht faktisch eingeschränkt, sondern nur phantasiert eingeschränkt, aber eine phantasierte Einschränkung sei viel tückischer als eine wirkliche. (…) Muss man sich verheiraten, weil man nur so die Bürokratie von Krankenhäusern überlisten kann? (…)“ Am Ende des Kinderwunschgespräches denkt es in ihm weiter. „Außerdem habe ich tatsächlich Angst. Für mich ist schon der Anfang unseres Gespräches der heimliche Beginn der Zerstörung, vor der es mir graust. (…) Einsamkeit ist normal; nur ihr plötzliches Eintreten ist so widerlich. (…)“
Auch im Betrieb, Eigendorf plant eine Werbekampagne, die ihm Umsatz-Zuwachs bringt, soll er nun Werbesprüche verfassen. „Ich bin für diese Aufgabe nicht geeignet, aber Eigendorf hält auch die Fachleute in den Werbeagenturen für Betrüger und außerdem will er auch hier Geld sparen.“ Außerdem soll er die Wäschefahrer überprüfen (Eigendorf meint, sie vertrödeln ihre Zeit; er muss ihnen nachfahren. „Schon in den Augenblicken, als ich mich [dazu] erhebe, spüre ich die Erleichterung des Verschwinden-Dürfens. (…) Flüchtig-Sein ist ein guter Zustand weil sich während des Fliehens die Gründe der Flucht unmerklich auflösen. Schon oft war ich sonderbar berührt, dass ich, an einem Ziel angekommen, leicht einsehen konnte, dass die Flucht überflüssig war. (…) Schon nach fünfzehn Minuten stecke ich im Billiggetümmel der Vorstädte. Die Gegenden hier haben wenig Ausdruck; beziehungsweise, es ist schlimmer: Sie haben wohl denselben Ausdruck. Obwohl die Straßenzüge abstoßend und formlos sind, fühle ich mich hier frei. Ich lebe auf, wenn ich mich von etwas abwenden kann. (…)“
Eines Tages trifft er einen ehemaligen Studienkollegen; auf dessen Frage, was er mache, erklärt er, dass er noch immer Geschäftführer in der Großwäscherei sei, aber demnächst eine `Schule der Besänftigung `gründen wolle. Eine Abendschule, die endlich das lehrt, was viele Menschen wissen wollen. Der Kollege ist beeindruckt. „Ich bin über meine Lügengeschichte nicht einmal besonders irritiert. Ich bin es gewohnt, in meinem Inneren mit eigenartigen Gebilden umzugehen. Neu ist, dass diesmal etwas von diesen Gebilden nach außen gedrungen ist. (…) Wenn mich die Geschichte in Schwierigkeiten bringen sollte, kann ich sie jederzeit als späten Studentenscherz ausgeben.“
Eines Tages kündigt ihn Eigendorf fristlos. Man soll ihn, als er wieder einmal auf einem Bordstein saß und die Umwelt beobachtet und registriert, als Teilnehmer einer Demonstration beobachtet haben – um 14 und 16 Uhr während seiner Arbeitszeit. Das genügt für Eigendorf. „(…) So reglos wie eine Amsel im Winter sitze ich [später] an meinem Schreibtisch. Natürlich war ich mit dieser Großwäscherei nie emotional verbunden. Ich musste immer beide Augen zudrücken, dass ausgerechnet ich in einer derartigen Umgebung überlebte. Vermutlich deswegen bin ich jetzt viel weniger erschüttert, als die Kollegen annehmen. (…)“
Wir überspringen nun einiges, landen im Kapitel Neun, wo er, bei einer ebenso merkwürdigen wie für ihn typischen Handlung, zusammenbricht. „(…) Ich stehe da und will noch einmal anfangen zu sprechen, aber es kommt noch einmal nichts außer dem Beginn eines Schluchzens.“ Traudel, herbei gerufen, holt ihn ab. Aber sie fährt ihn nicht nach Hause, sondern, nun selbst weinend, in eine Psychiatrische Klinik.
Im Kapitel Zehn gibt es für ihn in der Klinik viel zu beobachten und nachzudenken. „Die ausgepumpten, nahezu reglos in den Sesseln ruhenden Patienten empfinde ich als schön. Ich spüre das Eindringen der Tablettensubstanzen in mein Blut. Wenn ich in den Spiegel schaue, komme ich mir unverhältnismäßig gealtert vor. Ich war immer der Meinung, dass uns nicht die Lebensjahre alt machen, sondern unsere Erlebnisse. Dass ich einmal in eine Klinik eingeliefert werden sollte, hätte ich niemals für möglich gehalten. (…) Mein Trost ist, dass ich ein weniger schlimmer Fall bin.“ Seinem Therapeuten erklärt er:“ Ich glaube nicht, dass Sie es schwer mit mir haben werden. Meine Innenwelt ist nicht sehr geräumig. Man kann mich schnell durcheilen und dann feststellen: Außer ein paar Schuldgefühlen und ein bisschen Scham ist nicht viel da. (…) Ich war jahrzehntelang auf ein besseres Leben vorbereitet, das aber nie eintraf. Sehr lange habe ich sentimental und melancholisch herumgejammert, bis ich endlich begriffen habe: Es wird erwartet, dass der Mensch zu seinem Unglück ein bloß abwartendes Verhältnis hat.“
Im Kapitel Elf bekommt er: Fluoxetin, Zoloft, Mitrapazin, Cipralex und Modafinil. (Eine nahezu tödliche Dosis, nur eines der Medikamente wäre ausreichend.) Trotzdem gelingt es ihm, sich umzuorientieren, als er mit einem Leidensgenossen, einem Dr. Adrian, eine Unternehmung machen will, der „(…) mit einer Nacht im Freien seine Lebensangst sowohl bearbeiten als auch ausdrücken, besonders seine Angst vor Lebensverfehlung und Lebensverpfuschung. (…) wozu ich sagen will, dass eine Nacht als Obdachloser für mich keine therapeutische Erschließungskraft hat. Eher im Gegenteil; eine solche Nacht würde meine Zukunftspanik nur verstärken.“ Das Elfte Kapitel, in dem er noch viele Gedanken in seinem Inneren hin- und hergewälzt hat, endet: „Nach zehn Minuten stehe ich auf und gehe in Richtung Klinik. Eine Art Glück durchzittert mich. Offenbar kann ich, trotz allem, immer noch wählen, wie ich in Zukunft leben will.“
So endet dieses schöne kleine Buch, mit seinen zahlreichen, minutiösen, oft skurrilen und doppelbödigen Gedanken dennoch mit einem Schimmer Hoffnung. Eigentlich nämlich hat mich der Verlauf am Ende doch nicht verwundert. Unwillkürlich musste ich an sein Zusammenziehen mit Traudel denken. Damals durfte er auch nicht ein Stück seiner alten Wohnungseinrichtung mitnehmen, sondern musste obendrein noch selbst veranlassen, dass die Möbel abtransportiert wurden „in denen ich doch lange gelebt habe (…) und dann in einer Müllverbrennungsanlage verschwand.“ Ich musste beim Lesen irgendwie an Krematorium denken, in dem ein wichtiger Teil seines Lebens verschwand.
Hinterlassen Sie eine Antwort