Ursula Krechel hat für „Landgericht“ den Deutschen Buchpreis erhalten. Ein Gespräch über ihr neues Buch sowie die Höhen und Tiefen des Schriftstellerlebens.

Ursula Krechel

Literarisches Leben

Ursula Krechel© Claus Setzer

08.10.2012Interview mit Ursula Krechel

„Ich erfinde eher die Lücken“

Ursula Krechel hat für „Landgericht“ den Deutschen Buchpreis erhalten. Ein Gespräch über ihr neues Buch sowie die Höhen und Tiefen des Schriftstellerlebens.

Nach „Shanghai fern von wo“ haben Sie mit „Landgericht“ erneut einen Roman über die Emigration geschrieben und darin Wirklichkeit und Fiktion miteinander verwoben. In welchem Verhältnis stehen Realität und Ausgedachtes?

Krechel: Das ist sehr schwer zu sagen. Man merkt es beim Lesen wohl sehr genau, wenn eine andere Sprachebene ansetzt. Aber es gibt immer reale Kerne. Wenn es um traumatische Vergessensleistungen der deutschen Geschichte geht, finde ich es ganz unangemessen, zu viel zu erfinden. Das heißt: Ich zügele mich in meiner Fantasie, erfinde eher die Lücken, auch die Emotionalität der Leute, die ja nicht viel von sich preisgegeben haben. Alle Personen haben reale Hintergründe, haben Daten, Namen und Adressen. Es geht um ein Austarieren zwischen den realen Funden und dem Anreichern – es muss ja erzählbar werden.

Sind Richard und Claire Kornitzer, Ihre beiden Hauptfiguren, gefunden oder erfunden?

Krechel: Es sind gefundene Personen, denen ich natürlich vieles, von dem ich nichts wissen konnte, erfinden musste. Aber ich hatte die Akte eines Landgerichtsrats entdeckt und durfte sie auch verwenden, weil das Vorbild schon 30 Jahre tot war. Eine solche Personalakte zu lesen, die von Krankheiten, von Fehlzeiten, von Zeugnissen, von Versetzungen, von Beförderungen handelt, auch von Konflikten im Beruf, ist schon sehr intim – und ein reiches Material. Als ich diese Person hatte, fand ich in einem ganz anderen Archiv die Wiedergutmachungsakte und erfuhr einiges über seine Frau und ihren Beruf: Sie war Filmwerberin, also eine ganz eigenwillige und moderne Tätigkeit für eine Frau in den 1930er Jahren. Ich hätte sonst nicht im Traum daran gedacht, einer Person einen solchen Beruf zu erfinden. Manchmal ist die Realität sehr viel heilsamer; sie öffnet die Augen.

Was fesselte Sie an dieser Geschichte?

Krechel: Es hat mich interessiert, dass in jede Erfolgsgeschichte – und man muss die Geschichte der Bundesrepublik seit 1949 als Erfolgsgeschichte beschreiben – auch Unglücke, Jammer, Misserfolg einbetoniert sind. Man muss sich vorstellen, dass nur fünf Prozent aller Emigranten aus Hitlerdeutschland zurückkamen, aus Angst vor den Überbleibseln der Nazis, aus Sorge, sich nicht mehr integrieren zu können. Und dieser Richard Kornitzer kehrt mit den besten Absichten aus dem kubanischen Exil zurück, ein demokratisches Deutschland mitaufzubauen, und er gerät fortlaufend in Schwierigkeiten. Misstrauen wird ihm entgegengebracht und Unverständnis, und er rennt gegen Wände, stößt sich den Kopf blutig. Das Tragischste ist eigentlich, dass er zweifach beschädigt ist: durch die Emigration und anschließend durch den scheiternden Versuch, seine auseinandergebrochene Familie wieder zusammenzuführen.

Der Jurist Richard Kornitzer geht den Rechtsweg, um Gerechtigkeit zu erlangen, und verzweifelt daran zusehends. Sie zitieren als Motto aus Kleists „Michael Kohlhaas“. Was teilt Kornitzer mit dem wütenden Kohlhaas?

Krechel: Es verbindet die beiden das unbedingte Rechthabenwollen. Und dabei auch, die Dimension der Relativität des eigenen Rechtes aus den Augen zu verlieren. Kohlhaas läuft bekanntermaßen Amok, das tut Kornitzer nicht. Er implodiert eher, die Figur zersetzt sich förmlich. Die Welt läuft an ihm vorbei. Claire, seine Frau, stirbt vor seinen Augen; er verliert seine Kinder, die aus England nicht zurückkehren wollen. Es ist eine Person, die zerbröckelt, innerlich zerbröselt. Ich habe mich vielfach mit anderen Wiedergutmachungsverfahren beschäftigt. Sehr viele Menschen, die diese Verfahren erlebt haben, haben ihre Lebensfähigkeit eingebüßt.

Sie widmen ein langes Kapitel jenen, die vertrieben worden sind und schildern sehr eindrücklich die Szene aus Flüchtlingen und politischen Widerstandskämpfern in Kuba. Mich erinnerte das ein wenig an Peter Weiss‘ „Ästhetik des Widerstands“. Welche Rolle spielt dieses Buch für Sie?

Krechel: In der Tat stand es häufig auf dem Bord neben meinem Laptop. Sehr viele historische Gestalten, die ich erst beim zweiten Lesen als historische Gestalten wahrgenommen habe, spielen in der „Ästhetik des Widerstands“ eine Rolle. Fiktive Personen und Realien zu mischen, das sind Dinge, die mir große Freude machen. Sie geben der Figur, über die man schreibt und die natürlich auch Fiktion haben muss, einen anderen Hallraum. Sie geben ihr eine Sicherheit. Diese Art der Doppelbelichtung des zeithistorischen Materials mit Angereichertem, mit Möglichkeitsformen, das interessiert mich sehr. Und wenn Sie von der „Ästhetik des Widerstands“ sprechen: Das große Eingangsbild, das Peter Weiss verwendet, hat mich ermutigt, die große Hollywood-Szene des Ankommens des Heimkehrers Odysseus-Kornitzer in Lindau und das Wiedersehen mit seiner Frau nach zehn Jahren an den Anfang zu stellen. Das Buch ist kompliziert geschnitten, es hätte auch in der Mitte auftauchen können. Aber genau das war mein Motiv: groß anzufangen, mit einem riesig entfalteten Bild.

Sie sind jahrelang vor allem als Lyrikerin wahrgenommen worden – und die Leserschaft von Gedichten ist bekanntlich von geringer Zahl. Nun könnte mit dem Gewinn des Buchpreises eine ganz andere Öffentlichkeit entstehen. Wie gehen Sie damit um?

Krechel: Für mich als Lyrikerin, die ich ja weiterhin bin, hat es überhaupt keine Bedeutung. Ich merke, dass es sehr getrennte Öffentlichkeiten sind, dass die Lyrikleser intensivere Leser sind. Aber allein schon durch die Shortlist-Nominierung setzte ein gewisser Hype ein, und natürlich werden nun ganz andere Leserschichten angesprochen. Ich habe jedoch schon einen langen Schreibweg mit Höhen und Tiefen hinter mich gebracht. Für die jüngeren Autoren ist es wohl sehr viel komplizierter, plötzlich so viel Öffentlichkeit verkraften zu müssen.

Interview: Ulrich Rüdenauer