Schade, dass ich diese Besprechung nicht vor Ihren Ferien fertig bekam… aber vielleicht haben Sie auch jetzt noch Zeit zum Lesen. Bevor ich zu dem neuen Buch <Frau Sorgedahl komme, muss ich etwas zu Lars Gustafsson und seiner Erzählweise berichten.
Er ist schwedischer Lyriker, Philosoph und Romancier, und wurde 1936 in Mittelschweden geboren. Zu seinem 70. Geburtstag erschienen 5 seiner für ihn typischen und auch irgendwie autobiographischen Romane in einem Taschenbuchband: Risse in der Mauer . Der Band (957 S, nur € 14.95!) enthält die Romane: Herr Gustafsson persönlich (1971); Wollsachen (1973); Das Familientreffen (1975); Sigismund. Aus den Erinnerungen eines polnischen Barockfürsten (1976); Der Tod eines Bienenzüchters (1978).
Erwähnen möchte ich hier auch die in allen seinen Büchern die ihm eigene Erzählweise, die ich so noch nie bei einem anderen Autor gefunden habe und die mehr als reizvoll ist. Obwohl jeweils ‘Roman‘ überschrieben, enthalten seine Bücher eine Vielzahl von Geschichten und Berichte. Fast alle greifen zurück auf Erlebnisse in seiner Kindheit in Schweden, aber er lässt auch andere Personen jeweils ihre eigene Geschichte erzählen, in denen aber vermutlich des Verfassers eigene Gedanken von einer anderen Person erzählt werden.
Zudem scheint Gustafsson eine gründlich sortierte Zeitungsartikel-Sammlung zu haben, auf die er bei passender Gelegenheit zurückgreift, um sie wieder einer Person zuzuordnen, die das alles in der Praxis erlebt. So z.B. im Familientreffen, in dem mit großer Komik und Ironie ein Lars Troäng Direktor einer Sonderkommission für den Umweltschutz, der in eine politische Lügenspirale verwickelt wird. (Sie werden danach nie wieder eine Zeitung o.ä. mit ihren bisherigen Augen lesen können – denn das alles erleben wir in Deutschland gleicherweise!)
Kurz: Beim Erzählen kommt er immer wieder scheinbar vom Hundertsten ins Tausendste – und doch kommt alles immer wieder zu den Themen seines Lebens zurück: 1. Wer bin ich eigentlich? 2. Warum entspricht mein (oder aller) Leben so wenig dem, was es eigentlich sein könnte? 3. Gott; 4. „Wir fangen noch einmal an. Wir geben nicht auf.“ Außerdem finden wir im Tod eines Bienenzüchters die genaueste Schilderung des Schmerzes in all seinen Facetten.
Es ist, als drehe sich in Gustafssons Kopf eine Art Kaleidoskop, zusammengesetzt mit den bunten Steinen, die sein Leben ausmachen – deren dabei entstehenden Bilder er nun einsetzt. Nicht vergessen darf ich seine wundervollen Landschaftsschilderungen, z. B. vom Geruch vom verbrannten Laub in den Gärten, – ein sehr breites Tal, in dem der Wind durch sehr hohes, weiches Gras ging. Ein Geschmack von Zimtbirnen, der Duft der Schilfbänke der Seen .. und vor allem bei Frauen…
Und ganz zum Schluss, nach vielen anderen Geschichten aus seinem ‘Kaleidoskop‘: „Sie war, kurz gesagt, eine Frau. Eine richtige Frau, die erste richtige Frau in meinem Leben, mit allen Eigenschaften einer richtigen Frau. Es war, wie wenn man sich vom Meer aus einem fremden Land nähert.“
In den insgesamt 30 Kapiteln werden auch 30 Geschichten erzählt, von den sich viele auch wundervoll zum Vorlesen eignen, so schön und farbenfroh sind sie. Mit der Geschichte: ‘Das Mädchen und die Orgel in der Kirche von Haraker‘ wird übrigens eine Geschichte erzählt, die für den 70-jährigen Gustafsson zu besonderer Bedeutung geworden scheint. Angeblich hat seine Mutter sie ihm erzählt: Nicht nur, dass die Orgel der Kirche zusammenbrach – „Das Piepsen und Wimmern dieser (Ersatzorgel) ließ indessen ihren Diener des Wortes (den Propst von Haraker) nicht nur an sich selbst, sondern auch das Wort in Frage stellen, dem er diente. Gab es eine einzige Stelle in diesen Evangelien, auf die man sich verlassen konnte?
Wieviele Stümper, kurzsichtige Mönche, gierige und grausame Homousianer und Antignostiker, Arianer und einfache Saufköpfe und Sektenpolitiker haben an diesen Handschrifften herumgewerkelt, bevor sie wurden, was sie waren?“ (Womit Gustafsson zusammenfasst, was man heute über die Entstehung der Bibel herausgebracht hat.)
Schließlich verzieht Frau Sorgedahl, die eigentlich italienische Schweizerin ist und nach Schweden geheiratet hat, zusammen mit ihrem wohl unbedeutenden Mann und verschwindet aus dem Leben des Erzählers.
Und damit ist auch – leider – der bunte Reigen an Geschichten und Geschichtchen für uns am Ende. Für uns – die wir nachdenklich zurückbleiben. Bei aller Komik und Ironie überlegend, ob nicht auch unser Leben nichts ist als ein Möbiusband, aus derem Inneren wir niemals aus unserem Leben herauskommen werden? Trotz all der Jugendträume, die hier erzählt werden, als die Welt noch unendlich groß zu sein schien? Sie ähneln so sehr den unsrigen.
Ein wunderschöner ‘Roman‘, mit dem Geruch von Zimtbirnen, der Tochter des Gießers, der Gesellschaft im Heizungskeller und eben Frau Sorgedahls schönen weißen Armen – es ist wohl das schönste Buch, in dem uns Lars Gustafsson seit mehr als dreißig Jahren lehrt: Trotz allem das Leben mit allem Drum und Dran, Für und Wider zu lieben: „Wir fangen noch einmal an. Wir geben nicht auf.“
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