Kindsein und Erwachsenwerden im Dritten Reich und danach
– keine fatale Jugend, sondern eine sehr abenteuerlich schöne und aufregende, heile

“War es schon Herbst neununddreißig oder erst Sommer vierzig? Die Jungen hatten plötzlich ein neues Spiel erfunden. Das konnte es vorher nicht gegeben haben. Buchstäblich über Nacht hatte es nämlich diese in allen Farben funkelnden Steine vom Himmel geregnet.“ Schatz, „von dem geheime Kräfte ausgingen“. Sie waren Talismane gegen die Alltäglichkeiten des Lebens. „Die Granatsplitter waren das Schönste, was man sich ausdenken konnte.“

So beginnt der 80-Jährige Karl Heinz Bohrer (über seine Person mehr unten) seine Lebens-, nein, besser seine Kindheitserinnerungen. Man muss ihn zu zweierlei beglückwünschen, aber auch darum beneiden: Wer wie wir die gleiche Zeit miterlebt hat, der beneidet ihn um sein außerordentliches Gedächtnis, aber auch um die Form, die er für dieses Buch gewählt hat. Er nennt es bewusst ‘eine Erzählung’, und die Hauptperson darin nennt der ‘den Jungen’. Noch etwas Erstaunliches gelingt ihm : Jeden Abschnitt dieses Lebens (der Bericht endet, als ‘der Junge’ etwa dreiundzwanzig ist) schildert er aus der Sicht des damaligen ‘Jungen’. So ist es ein ganz authentischer Bericht: Ganz so, wie es damals (in seinen Augen) war.

Ja, das ist in der Tat, sagt er in einem Interview, vielleicht der Anlass überhaupt gewesen, mir Gedanken zu machen, ob ich das nicht mal aufschreibe. Weil es meine Erinnerung so sehr geprägt hat, dass ich keine unglückliche oder bedrückte oder eben, durch die politische Situation liegt das ja nahe, fatale Jugend erlebt habe, sondern eine sehr abenteuerlich schöne und aufregende.

Ich zitiere noch etwas aus dem hochinteressanten Interview: Doch, das ist der Junge, sagen wir mal, der etwas älter gewordene Junge. Der Junge kurz nach dem Krieg. Er ist ja schon, sagen wir mal, ich glaube, das kann man nachrechnen, mit zehn Jahren zum allerersten Mal von seinem Vater, der aus verschiedenen Gründen wie die gesamte Familie extrem regimefeindlich war, aufgeklärt worden, in welch strukturellen Verbrechen man doch damals lebte.
Aber ein 10-Jähriger nimmt das natürlich anders auf als dann ein 14-Jähriger, sodass also diese Frage, die Sie zitiert haben, wohl aus dem Gedanken, sagen wir mal, Assoziationen, vorsichtigen Gedankenflügen des 14-Jährigen entstanden ist, der ja zu diesem Zeitpunkt sehr genau wahrnahm, was im Krieg passiert ist, nicht zuletzt durch ganz konkrete, auch da habe ich drauf geachtet, ganz konkrete anschauliche Wahrnehmungen. Sei es nun eine Litfaßsäule, auf dem die Toten von Bergen-Belsen abgebildet sind, die ihn zum ersten Mal nun wirklich schockierten. Oder auch frühe Lektüre, etwa Eugen Kogon, „SS-Staat“, den er auch als 14-Jähriger zum ersten Mal las. Und schließlich natürlich auch die Rundfunkübertragungen des Nürnberger Prozesses.”

Hier möchte ich noch etwas einfügen, was ich für außerordentlich wichtig halte: Da sind nicht nur die Großeltern, die behütende Funktion hatten, da sind auch die (sehr früh geschiedenen) Eltern und vor allem der Vater zu erwähnen, der für die beste Schulausbildung des ‘Jungen’ sorgte, die damals überhaupt möglich war.

Immerhin kam er in das Internat Birklehof, das 1932 als Schwesterschule von Schloss Salem von dem Pädagogen Kurt Hahn gegründet, und nach dem Zweiten Weltkrieg von dem späteren Heidelberger Religionsphilosophen Georg Picht wiedereröffnet worden war. Besser ging es also wirklich nicht, was man auch in diesem Buch nachlesen kann.

“Ja, das lag schon daran”, berichtet er in diesem Interview, “, dass auf der Schule ja auch eine sehr gemischte Schülerschaft war oder auch Lehrerschaft. Auf der einen Seite wurde einem deutlich, dass einige Lehrer, und zwar ehemalige Universitätsprofessoren, die aufgrund ihrer Involvierung in das System nicht mehr an der Universität lehren konnten, täglich ihn daran erinnerten. Und auf der anderen Seite natürlich eine ganze Reihe von Familienangehörigen, von Schülern aus Familien, die im Widerstand waren, nicht zuletzt aus dem preußischen Adel, aber auch durchaus bürgerliche Jungen und Mädchen. Das Nazi-Motiv blieb auch in der Schule anwesend.

“Ja, das eigenständige Denken wurde natürlich sehr gefördert durch die Figur schon des Schulleiters und einiger wirklich als Intellektuelle zu bezeichnende Lehrer. Mein mir wichtigster Lehrer, mein Griechischlehrer, war eben nicht nur ein gelehrter Mann und ein akademischer Mensch, sondern es war ein wirklicher, temperamentvoller Intellektueller, der genau das in uns ausgelöst hat, was dann später sogar vielleicht sogar so meine Berufswahl antizipierte, nämlich nicht nur Dinge zu lernen, sondern Dinge zu verstehen. Das war sehr entscheidend, ja, dieser Widerspruch. … Ja, eines ist wohl wahr: Ich habe, ich der Junge, habe die anfahrenden Fünfzigerjahre und hinauf bis wahrscheinlich Mittfünfzigerjahre nicht als diese Dumpfheit erlebt, als die sie heute gilt. Das habe ich aber damals, oder besser, wir müssen wieder sagen, der Junge so nicht gesehen. Durch den Birklehof und durch seine Eltern hatte er [der Junge] einen ganz anderen Blick. Und deswegen habe ich auch, und zwar in die Zukunft, in eine Art von sich weit öffnendem Horizont, der spannend und interessant war, und deswegen habe ich abgeschlossen das Buch ja auch mit seinem aller-allerersten Vorstoßen in eine andere Welt, nämlich England und seine Eindrücke dort im Parlament und im Theater als 19-, 20-Jähriger.”

Das Buch endet dann auch mit einem ausschlaggebenden Erlebnis: Als ´Student hat der ‘Junge’ die Möglichkeit, in den Semesterferien zum Apfelpflücken nach England zu kommen. Und daraus wurde dann sehr viel mehr als ein Job zum Geldverdienen.  Der begabte, vielseitige Student wurde nicht nur hervorragend aufgenommen und betreut. Hier, in England mit den altehrwürdigen Traditionen ergab sich für ihn eine weitere, ganz neue und sehr aufregende Lebensperspektive.

In der zweiten Dezemberwoche 1953 tritt er dann die Rückreise an und damit endet dann auch der Bericht. Aber er war nicht mehr derselbe wie bei der Hinreise. In der Bibliothek des Reform Club ist es ein einschneidendes Erlebnis: Er liest die Beiträge im Horizon eines gewissen Cyril Connolly. “Seine Beiträge vermittelten ihm die Einsicht, dass Kritik das neue Stichwort war. Kritik schien fast wichtiger als die Literatur selbst. Nicht bloß Literaturkritik, sondern Kritik der Zeit. (…) Jedenfalls wusste er jetzt: Kritik und Parlament hatten etwas Gemeinsames. Beide waren Ausdrucksformen der Epoche, in der man lebte. “

Karl Heinz Bohrer, 1932 in Köln geboren, ist Professor emeritus für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität Bielefeld und seit 2003 Visiting Professor an der Stanford University. Von 1984 bis 2012 war er Herausgeber des MERKUR. Er lebt in London. Im Carl Hanser Verlag erschien zuletzt: Selbstdenker und Systemdenker. Über agonales Denken (EA, 2011).

Karl Heinz Bohrer ist einer der bedeutendsten Literaturwissenschaftler und kritischen Publizisten Deutschlands. Von 1991 bis 2011 war er zusammen mit Kurt Scheel Herausgeber des Monatsblatts Merkur, das die politischen und ästhetischen Debatten im Land wesentlich geprägt hat. Aus dem Blickwinkel von Paris und London, wo er lange lebte, geißelte Bohrer polemisch den deutschen „Provinzialismus“ und verteidigte einen eigensinnigen Nonkonformismus als geistige Haltung.

Granatsplitter
von Bohrer, Karl H.;  Gebunden Erzählung einer Jugend. 314 S. 209 mm 468g , in deutscher Sprache.
2012   Hanser  ISBN 3-446-23972-3  ISBN 978-3-446-23972-2  19.90 EUR