Diese Geschichte einer Familie macht Geschichte miterlebbar

Man hätte es auch verstanden, wenn dies ein bitteres, verzweifeltes Buch geworden wäre. Eine Abrechnung. Mit dem Vater, dem Großvater, mit dem politischen System, dem beide bis zur Selbstverleugnung gedient haben.

Aber es ist ein heller Roman geworden, warmherzig im Ton, humorvoll, ja komisch zuweilen, vollkommen frei und souverän, leicht erzählt. Aus mehreren Perspektiven wird die Geschichte von vier Generationen erzählt, Rückblick auf ein halbes Jahrhundert deutsches Leben – und immer ist im Hintergrund ein Fenster zur Weltgeschichte offen: 17. Juni, Kalter Krieg, Mauerbau, Gorbatschow, Wende.

Eugen Ruge gelingt etwas Erstaunliches: Obwohl keinem der Mitglieder dieser Familie ein Happy-End beschert ist, gibt es nirgendwo etwas wie Verbitterung oder Anklage. Er erzählt von Wilhelm und Charlotte Powileit (geschiedene Umnitzer), von deren Söhnen Werner und Kurt, wobei Werner, schon früh verstorben, keine Rolle spielt.  Kurt Umnitzer ist mit Irina, geb. Petrowna verheiratet;  ihr Sohn ist Alexander (oder Sascha, wie er genannt wird) – dessen Geschichte im Jahre 2001 erzählt wird. Alexanders Sohn ist Markus; seine Eltern haben sich schon lange getrennt. Nicht zu vergessen ist Nadesha Iwanowna (Irinas Mutter). Deren Schilderung vom 1. Oktober 1989 gibt dem Buch viele helle Tupfer. Sie ist noch fest verhaftet mit ihrer alten Heimat: „In Slama wurden die Kartoffeln gemacht, die ersten Feuer rauchten schon, das Kartoffelkraut brannte, und wenn erst mal das Kartoffelkraut brannte, war sie gekommen: die Zeit des abnehmenden Lichts.“ Und damit hat das Buch seinen Titel: Denn in sechs der zwanzig Kapiteln wird berichtet, was zu diesem historischen Zeitpunkt in der Familie geschieht.

Wenn Eugen Ruge die Geschichte abwechselnd von allen Familienmitgliedern aus erzählt, entrollt er das Panorama eines Landes, in dem Abstrakta wie Plenum, Parteidisziplin, revisionistische Kritik, Hauptfeind usw. ihre schreckliche Gewalt entfalten. Ihr Abdruck im Leben jedes Einzelnen: Demütigungen, enttäuschte Hoffnungen, all die Lächerlichkeiten des verordneten Denkens. In dem Roman gibt der Autor diesen Einzelnen ihre Würde zurück: der Blick des Enkels auf seine Familie. Was das Buch aber so sanft und hell macht: Er sieht sie alle sozusagen mit Kinderaugen, wie man ja auch als Kind all die Personen genau registriert, ohne dabei kritisch zu sein.  Beherzt zupackend bringt der Autor das Innere seiner Figuren zum Leuchten. denn es sind wunderbare Personenschilderungen – und am Ende ist es für den Leser  auch ’seine‘ Familie geworden.

Alexander ist ein Protagonist, der auch nicht zu den Siegern zählt. 1954 geboren, erhält er im September 2001 die Diagnose Krebs, nicht operabel. Nach zwei Tagen völliger Lähmung macht er sich auf zu seiner wohl letzten Reise. Zuvor besucht er aber seinen an Demenz erkrankten Vater Kurt, in dem nichts von all seiner früheren Kraft mehr zu spüren ist.  Dann fliegt Alexander nach Mexiko, Exilland seiner Kommunisten-Großeltern während der vierziger Jahre. Heldengeschichten  aus jener Episode haben sein Leben begleitet, exotische Mitbringsel gehörten fest zur Bilderwelt des staunenden Kindes: der Leguan, ein ausgestopftes Haifischbaby, eine aztekische Maske.

Ruge erzählt von einem Land, das die jüngste Generation nur noch aus Schulbüchern kennt: der DDR. 1952 Rückkehr von Alexanders Großeltern, Kommunisten der ersten Stunde, in ein Land, das fest im Griff der SED und ihres Parteiapparats ist; 1961 Rückkehr der Eltern in das inzwischen eingemauerte Land; 1973 Alexanders Einberufung zur NVA. Wir gehen mit ihm durch die Städte der alten DDR – überall Mangel und Zerfall, Wir erleben mit Irina, wie sie sich den Umbau des Hauses  zusammentauscht. Ausgangslage war eine große Menge geschenkten Kaviars.

Irgendwo zwischen Mexiko ,  wo Alexander auf den Spuren seiner Eltern ist, und Sibirien, wohin Kurt zur Zwangsarbeit musste.  Von den Jahren des Exils bis ins Wendejahr 89 und darüber hinaus reicht diese wechselvolle Geschichte einer deutschen Familie. Sie führt von Mexiko über Sibirien bis in die neu gegründete DDR, führt über die Gipfel und durch die Abgründe des 20. Jahrhunderts. So entsteht ein weites Panorama, ein großer Deutschlandroman, der, ungeheuer menschlich und komisch, Geschichte als Familiengeschichte erlebbar macht.

Dann der 1. Oktober 1989, der Fixpunkt des Romans und der Tag, an dem sich alle Fäden kreuzen und der triste Abgesang auf die sozialistische Dynastie der Powileits einsetzt. Es ist der 90. Geburtstag des Großvaters, auch der Enkel wird erwartet, doch daraus wird nichts: Alexander ruft vom Auffanglager Gießen aus bei seinen Eltern an. So senil Wilhelm, der Patriarch, auch sein mag, er spürt sofort, dass etwas nicht stimmt. Aber man sagt ihm nichts.

Kurt, Alexanders Vater, juckt es für einen Moment in den Fingern, Wilhelm, seinem Vater,  einfach die Wahrheit zu sagen. Ist es nicht genau der richtige Moment, um dem selbstgerechten alten Kommunisten seine Lebenslügen vorzuhalten? «Die Partei, die Partei, die hat immer recht …? Kurt wird es nicht tun, zu verstrickt ist er selbst in ein System, an das er glauben wollte, das ihm aber mit Gulag und «ewiger Verbannung» fünfzehn Jahre seines Lebens geraubt hat, bevor es ihn gnädig zurückkehren ließ. Und so gerät der Geburtstag zu einem Familienfest der bizarren Art («Saurier-Party» nennt es der Urenkel).

Das vielleicht anrührendste Porträt gilt Alexanders Mutter Irina, sie ist Russin und hat Kurt während dessen Verbannung kennengelernt. Ab und zu genehmigt sie sich ein Gläschen, doch als sie diesmal ihre berühmte Burgundische Klostergans zubereitet, sind es plötzlich zu viele. «Aus dem Zimmer waren jetzt die Stimmen der Männer zu hören, die üblichen Diskussionen: Arbeitslosigkeit, Sozialismus … „ Irina nahm eine Gabel und prüfte, ob die Kartoffeln schon gar waren … Egal, dachte sie. Blödes Herumgestreite … Ein Mal noch Weihnachten in diesem Haus. Ein Mal Klostergans. Ein Mal Klöße, so wie es sich gehörte. (Man könnte die, so genau geschildert, sogar nachkochen! )Und dann, dachte sie, können sie mich hier raustragen … Und zwar mit den Füßen zuerst! Prost.» Aus den Gläschen werden dauerhaft  nach und nach zuviele …

Ach, das ist ein wunderschönes Buch! Lange habe ich mich nicht mehr so über einen Buch-Preis gefreut, wie über diesen. Und es steht, eben habe ich es nachgeschaut, auf Platz Eins der Bestsellerliste. Manchmal finden sich also auch dort wirklich lesenswerte Bücher.

Ingeborg Gollwitzer

Eugen Ruge, geb. 1954 in Sosswa am Ural, studierte Mathematik in Ostberlin und wurde wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralinstitut für Physik der Erde. Bereits 1986 begann er mit seiner schriftstellerischen Tätigkeit. Seit 1989 wirkt er hauptsächlich als Autor für Theater, Funk und Film.Neben seinen Übersetzungen mehrerer Tschechow-Texte und der Autorentätigkeit für Dokumentarfilmeund Theaterstücke lehrte er zeitweise in Berlin und Weimar, bevor er 1988 aus der DDR in den Westen ging.