Neues von der Grande Dame der Poesie, nonkonformistisch und unverwechselbar

Es ist so weit weg, das Jahr 2001 – bis auf den 11. September und dass Bush in Amerika Präsident ist. Und Bin Laden bekommt gleich mehr als eine Seite im Tagebuch. Denn in dem stillen (jedoch eigentlich gar nicht so stillen) Haus ist der Draht nach Außen gar nicht abgeschnitten.Jedoch kann man selbst bestimmen, wann die Umwelt Zutritt bekommt. Auffallend ist, wie sorgsam ausgesuchtes Fernsehen das Leben auf solch einer Insel bereichern kann.

Viele Seiten lang mehrte sich in mir das Zögern, diese weitgehend absolute Einsamkeit dort noch weiter ertragen zu wollen. Wohl ausgewählt ist, was von außen zugelassen wird: Allerdings: Das Wetter muss auch sie nehmen wie es kommt: Am 15. Dezembrius [sic]: “Knapp über Null und Glatzeis. In Spanien so heftige Schneefälle, dass Menscher [sic] darin umgekommen sind. (…)  Das von Spanien weiß sie wohl aus dem Radio oder dem Fernsehen. Ja, sie weiß eigentlich immer, was in der Welt passiert; aber am Genauesten schildert sie, was so um das einsame Haus alles passiert – und gerade das wollen wir doch lesen. Nun ja, lesen tut sie auch immerzu, ‘dressiert ihre Texte’, und beschäftigt sich mit ihren Akrawellern [sic]. Ab und an ist auch Maxe da; wer das ist, weiß ich nicht. Er ist 33. Vielleicht ihr Sohn? Wüsste man eigentlich gern.
Am 17. December, Mohntach [sic]  ist Schneekatastrophe in Griechenland und am 18. Decembre [sic] funktionieren vier Heizköper nicht. “Eu Gott, immer dieser Verfall. Und mehr als drei Poststücke schaffe ich nimmer.” Dabei ist sie erst sechsundsechzig. 

Es ist die
Zeit des grauen
Mondes der Weg

Zweigt in die Erinnerung ab
Und der Tod fährt�
Güllefässchen im Zwielicht.

19. Dezember 200, Mistwoch  (…) Ich habe keine Freunde mehr, sagte ich. Ich habe sie alle umgebracht. (…)

22. Dezember 2001 (…) Heute fängt die Übergangsregierung in Afghanistan an. Dier amerikanische Armee hat 65 Menschen, die Stammesführer auf dem Weg zu dieser Zeremonie, zu Tode gebombt. Wären Al-Quaida-Anhänger gewesen. (…) Fischsuppenwolken, ein durchgesäbelter Mond und krachendes Eis in den Gräben. Ein paar Schafe interessierten sich für mich, sonst keener, will ich mal sagen.”

So, wie das Tagebuch nun angefangen hat, geht es fort. Bei den “neulichen Schneeüberschüttungen, aber ooch übertretende Gewässer in der Gegend von Karlsruhe, wo es tagelang geregnet hat. Fetter Rauhreif und ein größerer Trupp Fanganios [sic] im Garten, ein Hahn und mindesterns sechs Hennen. Bekamen Vogelfutter von mir. Ein Teil der historischen Altstadt von Lima ist abgebrannt, nachdem in einem Einkaufszentrum eine Rakete vorgeführt wurde und ein ganzes Lager mit anderen in die Luft gejagt hat. Autos flogen durch die Luft, alles ging in Flammenauf. Über 300 Tote haben sie geborgen, es lägen aber noch viele unter den Trümmern.”

Nun jedoch,  am 1. Jaguar [sic) 2002, Dienstag Prost Neujahr!  hat man sich eingewöhnt in diese eigentümliche Welt: “Schnee und nahezu Vollmond und rings um mein Teller die Feuerwerke – das war recht fesch! Gab auch knallrote Sträuße, die sich lange in der Luft gehalten haben. Von Krachern war hier nix zu hören. Na dann eben 2002, von den Zahlen und ihrer Anordnung gibts hier nichts zu meckern. Zwei Schwäne mit zwei Eiern zum Beispül [sic]. Jetzt gegen Mittag sitzet ein Eichelhäher mit windzerzauster Frisur in der Weide hinter dem südlichen Zaun mit einem blauen Federchen an der Westentasche. Ich seh seine Uhrkette glänzen. (…) 

Die Rosetten der
Vogelmiere grüne
Kraken im Januargarten.

Regen rauscht die
Vergangenheit her.

Und bald ist der 1. Nerz [sic] und am 14. Nerz : “Donner Alles frühlingswolkenhaft über der Eider! Das Moor erscheint in der Entfernung als ein alter mottenzerfressener Fuchspelz. Sehr langsam rudern die Krähen, die Rochen an meinem Fenster entlang. (…) (Zu meiner Zeit hat es nur Veilchen gegeben, Märzveilchen, wie von Adalbert von Chamisso beschrieben, von Schumann komponieret, von mir mit dem Tonsetzer gesungen.

Der Himmel wölbt sich rein und blau;
Der Reif stellt Blumen aus zur Schau.

Am Fenster prangt ein flimmernder Flor;
Ein Jüngling steht, ihn betrachtend, davor.

Und hinter den Blumen blühet noch gar
Ein blaues, ein lächelndes Augenpaar,

Märzveilchen, wie jener noch keine gesehn.
Der Reif wird angehaucht zergehn,

Eisblumen fangen zu schmelzen an, –
Und Gott sei gnädig dem jungen Mann!   (Adalbert von Chamisso)

Und von diesen Veilchen, die damals ‘Auf dem Rhoden’ in Halftown [sic] hinter  Jülckes Bauernhof zu ihrer Zeit geblüht haben, hat dies Buch seinen Titel.

Langsam und geduldig hat sie, die  sonst so in ihrer Welt vergraben lebt,  uns in ihr Leben eingelassen, und es blieb uns nichts anderes übrig, als uns auch an ihre gelegentlich etwas komplizierte Rechtschreibung zu gewöhnen. Nach und nach kennt man sich aus, wird es immer vertrauter – eigentlich möchte man sie mal anrufen, aber das geht nicht, man findet keine Nummer.

Plappernder silberner Wind, Hagelschlangen, grüne Kraken im Januargarten Sarah Kirsch gehört ohne Zweifel zu den Großen der deutschsprachigen Lyrik, schreibt der Verlag und stellt fest, was wir schon wissen: Ihre Tagebuchaufzeichnungen sind immer ein Eintauchen in die Welt der Poesie und zeugen von einer tiefen Verbundenheit mit der Natur. Das Leben im Wechsel der Jahreszeiten verbindet sie mit eigenen Assoziationen, die oft mit Witz und (Selbst-)Ironie gefärbt sind. Ein idyllischer Kosmos, in den allerdings die Außenwelt einbricht: Die Auswirkungen vom  9/11 oder auch Überschwemmungen in Ostdeutschland finden Eingang in die Notate von Dezember 2001 bis Herbst 2002.

So werden Sarah Kirschs Tagebücher zu einem schillernden, persönlich kommentierten Zeitdokument, und sie bezeugen das unvermindert hochkarätige Schaffen der großen Lyrikerin – schreibt der Verlag. Beim Lesen hat einen sehr vieles angerührt – damals war sie erst sechsundsechzig, und man möchte sie anrufen und sie fragen, wie es heute bei ihr ist. Aber das geht eben nicht.  Mit diesem Tagebuch gelingt es, dass einem eine ganz ferne Person so nah und vertraut wird, dass man sie anfassen könnte. Soll ich jetzt noch sagen, dass Sie es lesen sollten? Dass Sie es gern lesen werden.