„Nicht das ICH ist also, was den Menschen am besten beschreibt, sondern das WIR“

Das große neue Bild vom Menschen

Wir und was uns zu Menschen macht

Für dieses Buch hat Werner Siefer weit ausgeholt: Wäre er beispielsweise vor etwa 150 Jahren geboren, hätte ihm vielleicht ein solcher Gedanke kommen können – aber er hätte ihn kaum begründen können: Denn wie viele Menschen kennt ein einzelner Mensch wohl wirklich? Wie viele Lebensgemeinschaften, welche Völker und deren Leben?

Bislang hat  Werner Siefer immer etwas etwas vom EINZELNEN Menschen beschrieben: Von den Chancen und Möglichkeiten jedes Einzelnen, von seinem Gehirn… (Ich führe alle Bücher unten auf.)

In dieser Zeit, im 21. Jahrhundert zu leben ist ein großer Glücksfall für Werner Siefer: Denn vor dem vorzüglichen Wirtschaftjournalisten  breitet sich das neue, weite Feld auch der gegenwärtigen Forschung aus: Evolution, Genetik, Verhaltens- und Gehirnforschung … diesmal hat er also etwas zu sagen, was ihm am Herzen liegt: Ein kleines Wort „WIR“ – und das ist vielleicht das wichtigsten Wort, über das wir Heutigen nachzudenken haben.

Vor allem gilt es aufzuräumen mit früheren Erkenntnissen, die alle ‚eigentlich‘ etwas ganz anderes sagten – aber leider fast in ‚Stille-Post-Manier‘ – sich im ‚Volke‘ festgesetzt haben. Schrecklich missverstanden Darwins ’suvival of the fittest‘, schrecklich missverstanden die aufkommende Erleuchtung, dass es ‚Gene‘ gibt die man sowohl nutzen wie auch ihnen erliegen kann … bis in diese Tage ein Hinweis auf Gene für mindere oder hochgradigere  genetisch bedingte  Intelligenz in bestimmten Menschengruppen.  Obwohl man, nachdem auch die Botschaft von Konrad Lorenz von dem innewohnenden ‚Bösen‘ wieder mehr zu den Akten gelegt, dennoch in der Erinnerung vieler persistiert. Auch das sich in vielen darauf folgenden Publikationen zu Verhaltensweisen wiederfindende Rechenexempel, als der von Richard Dawkins sehr genial formulierte Begriff  ‚the selfish gene‘  aufkam. Was bei uns als: ‚Egoistisches Gen‘ übersetzt und missverstanden wird – kennt man nicht den ganzen Text jenes Evolutionsbiologen.  Auch die Entdeckung der ‚Doppel-Helix‘ durch Watson, Crick und Wright ließ viele viel zu früh frohlocken: Je länger man sich damit auf allen Ebenen abgibt, umso komplizierter – aber auch faszinierender – wird die Entschlüsselung des Genoms.

All die oben beschriebenen Brennpunkte, mit denen man versucht zu beschreiben, was ‚Leben‘ ist und wie es sich auch aus seiner biologischen Entwicklung, der Evolution, ablesen lässt – Werner Siefer hat das alles gründlich gelesen und kommt nun in diesem Buch zu einem besonderen Schwerpunkt: Es ist das „WIR“, das er, geduldig und außerordentlich den gesamten Gang der Forschung vor dem Leser ausbreitend, nun in den Mittelpunkt stellt.

Das Buch wird auch denen gefallen, die sich nie zuvor mit diesen Themen abgegeben haben, denn sie lernen nun allerlei hinzu. Aber auch jene, für die der biologische Gang durch das, was wir bislang so erfahren konnten, vertrauter ist, werden die Schlussfolgerung, zu der Werner Siefer sich am Ende vorgearbeitet hat, interessant finden. Denn für ihn scheinen die Forschungen  der  Biologie eben NICHT für die egoistische Seite des Menschen zu stehen, und Kultur und Religion dienen nicht der  Zähmung der selbstsüchtigen Instinkte

. Der Wissenschaftsjournalist Werner Siefer holt weit aus, um eine andere Seite der Biologie zu präsentieren. Demnach gehören Freundschaften, Selbstlosigkeit, Freigiebigkeit und Friedfertigkeit ebenso zur Biologie vieler Tiere und auch des Menschen wie der Kampf des einzelnen um Überleben und Fortpflanzung. Die Evolution sorgt dafür, dass sich ein Zusammenspiel von Egoismus und Altruismus einpendelt. Die Basis ist Vertrauen, das immer wieder neu geschaffen werden muss. Besonders bemerkenswert erscheinen aber auch die fast drei Seiten über Homosexualität; sie ist, entgegen vieler Meinung, nicht so ‚widernatürlich‘ wie oft gern behauptet wird, sondern mittlerweile bei 300 verschiedenen Arten von Wirbeltieren nachgewiesen. Eben auch eine Art von Kooperation, Liebe und Bindung.

Werner Siefer überzeugt durch einfache Sprache und sorgfältig ausgewählte Studien. Er spricht wie andere Autoren zwar auch von einer neuen Entwicklung vom „Ich“ zum „Wir“, er vergisst dabei aber nicht frühere Denker, die bereits in ähnlicher Weise über die Natur des Menschen philosophiert haben.

Ebenfalls lesenswert sind die Schilderungen von speziell konstruierten Spielen, bei denen nicht nur die Spieler, das Spielen, sondern auch Werte der jeweiligen Gehirnreaktionen gemessen und ausgewertet wurden … „In Hirnscanneraufnahmen ist das [Verlust bzw. Belohntwerden] daran ersichtlich, dass jene Bereiche im Denkorgan, die Belohnungen verarbeiten, freudig erregt sind. Gefühlte Fairness macht also einen entscheidenden Faktor beim menschlichen Miteinander aus.“

So zitiere ich hier nun den letzten Satz des Buches: „Wir Menschen entsprangen einst dem WIR und es entspricht uns am meisten. Nachhaltig glücklich macht nur das „WIR“.

Dies Buch ist also eines der ersten, das von der epochalen Wende im Denken der heutigen Wissenschaft berichtet. Weil es aber obendrein noch leicht lesbar und zugleich keinesfalls oberflächlich ist, wird es für jeden Leser ein Gewinn sein. (Vermutlich ließe  sich an einem Gehirnscannerbild eines Lesers darstellen – dass mehr wissen und Neues erfahren glücklich macht.)

Ingeborg Gollwitzer