Wer meint, dass große, überaus geistreiche Gespräche heutzutage nicht mehr möglich seien – der wird hier eines Besseren belehrt. Auch wer meint, ein Buch mit einem Gespräch in dem es im Kern um Politik, aber auch Weltpolitik geht, sei für ihn zu anstrengend und daher für ihn zu trocken, zu theoretisch und nicht lesbar, irrt sich: Wer dieses Buch zu lesen anfängt, wird gleich auf der ersten Seite merken, dass er garnicht mit lesen aufhören kann. Denn die beiden nehmen kein Blatt vor den Mund.

Es ist auch brisant, mit welch scharfer Kritik sie das ‘Personal’ unseres Bundestages sie nicht selten belegen. Wer meint, hier würde nun insbesondere die ‘Schwarz-Gelbe’ Koalition aufs Korn genommen, der irrt sich ebenfalls. Hier geht es in ersten Linie um die politische Befähigung der SPD Sie zählen zu den bedeutendsten Politikern ihrer Generation und sie verbindet eine langjährige Freundschaft. Sie stehen für Zuverlässigkeit, wegweisende Entscheidungen und klare, oft unbequeme Positionen. Sie treffen sich – diesmal nicht zum Schachspielen – sondern um über große politische Themen zu reden, die zurzeit die Menschen bewegen. Obwohl fast dreißig Jahre zwischen Helmut Schmidt und Peer Steinbrück liegen, werden die beiden oft in einem Atemzug genannt:

 

Helmut Schmidt, Elder Statesman und moralische Instanz der eine; Peer Steinbrück, spätestens seit der Finanzkrise Garant für politische Geradlinigkeit der andere.

Hier tauschen sich zwei überzeugte Sozialdemokraten in einem langen Gespräch, das in Etappen aufgenommen wurde, darüber aus, wie vieles von dem, was ihre Partei an Beschlüssen in die Welt setzt, sie nicht gutheißen können.

Sie sind beide überraschen – nun sagen wir – in der Mitte. Ob sie über die Risse im Fundament unseres Sozialstaates reden oder über die Ignoranz mancher Funktionseliten, ob sie die Verschiebung der globalen ökonomischen Gewichte diskutieren oder die verheerenden Auswüchse des weltweiten Raubtierkapitalismus: Immer wieder kehrt das Gespräch zu der Ausgangsfrage zurück, wie das Primat des Politischen auch in Zukunft gewahrt und die wachsende Kluft zwischen Regierten und Regierenden geschlossen werden kann.

Was beide am meisten bedrückt ist wohl die Ignoranz, die sich als wirklich gefährlich auswirkt bei den gewaltigen Aufgaben, die heute die Politik zu gestalten hat, die mit einem mangelhaften Wissen und somit allseitig ‘behindert’, nicht mehr mit ausreichend Überblick möglich ist. Ob es wohl dem örtlichen Wähler klar ist, wie sehr er darauf achten muss, wen er aufstellen und womöglich wählen soll? Jemanden, der dann womöglich als Abgeordneter in den Bundestag kommt und sich dort an der Meinungsbildung beteiligen soll? Vielleicht entsteht gerade hier die Kluft zwischen Bürgern und Regierung, die Ermüdung der Wähler, die nicht wissen, wen sie überhaupt wählen sollen und dann gleich zuhause bleiben?

Dies Gespräch ist spannend und zum Nachdenken anregend zugleich. Gerade in diesen Tagen und Wochen, wo eine sich vorsichtig vortastende Bundeskanzlerin mit oft überraschenden Entschlüssen verwirrend sein kann, mit ihren zahlreichen Kehrtwendungen, denen oft nicht einmal die Opposition etwas entgegenzusetzen hat. Ihre Ausbildung zur Physikerin erweist sich jetzt als Glücksfall: Sie hat gelernt, komplexen Zusammenhängen gegenüber zu stehen, jederzeit bereit, auf neue Entwicklungen wachsam zu reagieren! Und ihr fundiertes Grundwissen aller politischen und wirtschaftlichen Zusammenhänge ist bewunderungswert!

Zwischen den Zeilen kann man aber noch etwas anderes, ziemlich Wichtiges lesen: Die SPD muss lernen, dass es ihre eigentlichen Mitglieder – die Arbeiter, nicht mehr gibt. Man muss sich jetzt neu orientieren und nicht allen wird das passen, bzw. nachvollziehbar sein.

Für die Wähler aber steht auch etwas zwischen den Zeilen: Bei jedem Abgeordneten, die ja von uns gewählt werden, muss man viel genauer hinschauen als bisher. Die Frage ist , ob der nette, volkstümliche Herr Sowieso (egal welche Partei!) auch in der Lage sein wird, die Gesamtlage in der Nation und in der Welt beurteilen zu können und Entscheidungen zu treffen! Es heißt wachsam sein!

Ingeborg Gollwitzer

 

Helmut Schmidt, geboren 1918 in Hamburg, 1961-1965 Innensenator in Hamburg, 1966-1969 Fraktionsvorsitzender der SPD im Deutschen Bundestag, 1969-1972 Verteidigungsminister, 1972 Bundeswirtschafts- und Finanzminister, 1972-1974 Bundesfinanzminister, war von 1974 bis 1982 Bundeskanzler. Seit seinem Ausscheiden aus dem Amt ist er Mitherausgeber der Wochenzeitung ‘Die Zeit’.

Peer Steinbrück, geboren 1947 in Hamburg, ist Mitglied des Deutschen Bundestages. Der Diplomvolkswirt hatte viele Ämter inne, bevor er von 2005 bis 2009 als Bundesminister der Finanzen und als stellvertretender Vorsitzender der SPD tätig war. Unter anderem leitete er das Büro des Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, Johannes Rau, war erst Staatssekretär, dann Wirtschaftsminister Schleswig-Holsteins. In Nordrhein-Westfalen war er 1998 bis 2000 Wirtschaftsminister, 2000 bis 2002 Finanzminister, 2000 bis 2005 Mitglied des Landtags und von 2002 bis 2005 Ministerpräsident. 2011 wurde Peer Steinbrück mit dem Cicero-Rednerpreis ausgezeichnet.

Schmidt, Helmut ; Steinbrück, Peer : Zug um Zug . �
Zeitgeschichte 2011 . 318 S. 21,5 cm . �
978-3-455-50197-1 Hoffmann und Campe – GEB 24.99 EUR