Lebendig und fesselnd: Fast hundert Jahre im Leben einer zunächst schlesischen Familie.

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Krieg, Vertreibung, Neurosen sind das Thema dieses Romans – und die Autorin steht wie manche/r ihrer Berufskollegen vor dem Dilemma, dass man im 21. Jahrhundert Romane eigentlich nicht mehr so schreiben kann wie im Jahrhundert zuvor. Jedoch weiß sie ebenso, dass man sich auf keinen Fall Abstriche von dem Vehikel Sprache erlauben darf.

Sie löst das Problem ebenso elegant wie bewunderungswürdig: Es wird ein Roman in Stimmen.  Dazu gehören auch die Stimmenorte  einer, ihrer nun bayerischen Kindheit: Einer ist beispielsweise das Wohnzimmer der schlesischen Großeltern väterlicherseits. Hier war der geschützte Rahmen. in dem man auch konkret Grausames  aushalten konnte. Für das alte, immer wieder neu wie ein Märchen Erzählte: Flucht, die verlorene schlesische Heimat und das Gefühl des ewigen, immer noch fortdauernden Verlierens.

 

Man meint schneidend-kalte Luft  und merkwürdigerweise einen Hauch von gebrannten Mandeln auf der Zunge zu spüren,  wenn Hannes (im fünften von sechs Teilen)  zu erzählen beginnt:
Hannes erzählt   [die Einfügungen in eckigen Klammern sind erläuternd immer von mir.]
Eustachius [sein Sohn] kam im Dezember 1930 zur Welt. An einem noch winterlichen Morgen. Neun Monate zuvor war unvermittelt ein Altfuchs ohne Deckung am Bach gestanden und hatte mich angeschaut, als habe er mich gesucht. Reif glitzerte, über dem Wasser zerriss der Nebel in Schwaden. Der Balg [Jägerspache] des Fuchses leuchtete hellrot, die prächtige Lunte [Jägerspache] schwang dunkler mit schneeweißer Blume [Jägerspache]. Das Gehöre [Jägerspache Ohren Raubwild]
drehte sich ununterbrochen nach dem Rauschen der Bäume, den Kopf indes hielt er so still, als böte er mir Paroli. Seine Augen taxierten mich mit der Schätzkraft des erfahrenen Raubtieres, gejagt und überall die Jahre entwischt. Es war, als wolle er mir etwas sagen, und er sagte es. Es war fremd und gewitzt.
In aller Ruhe, stolz, drehte er auf der Stelle, warf mir einen letzten Blick zu und schnürte [Jägerspache] Richtung Wald.

Im April 1920 hatten wir geheiratet. Etwas Vornehmes ging von Lilly aus: das hellblonde dünne Haar, das in der Nase kitzelte wie nichts sonst auf der Welt, die fast durchsichtige Haut. Mit ihrer leicht schnarrenden Stimme zog ich sie auf. Runde Brüste , das hatte ich noch vor der Verlobung durchs Kleid gesehen. An meiner Brust hing das Eiserne Kreuz Erster Klasse, die Tapferkeit. Niemand schalt mich mehr, selbst Mutter gehorchte. Eisern wie das Essgeschirr. Ich musste die Augen schließen, als ich vorm Altar »ja« sagte, »ja«.
Woran ich nicht mehr glaubte, ging keinen etwas an.
Nicht einmal mich selbst.
Am Abend des Waldtages fast zehn Jahre später trug Lilly Fuchslichter [Jägersprache] in den Augen. Wir waren vorsichtig, wir hüteten uns, wir hatten Angst vor einem zweiten Kind, wir vergaßen es.”

Aus nur diesem kleinen Stückchen  Text, einfach irgendwo aus dem Roman herausgegriffen, kann man ziemlich viel über diesen Roman aus Stimmen erkennen. Zunächst: Überall im Buch fällt die große sprachliche Genauigkeit der Autorin auf. Dann: Ein Roman in Stimmen hat durchaus praktische Seiten: Man kann Einzelheiten daran verändern, ohne dass gleich das gesamte Gebäude zusammenzustürzen droht; ebenso lassen sich Einzelheiten, ja für den Text ursprünglich gar nicht vorgesehene Partikel einfügen; dann nämlich, wenn sie ausreichendes  sprachliches  Potential, d.h. Genauigkeit haben. Wenn man will, kann man den ganzen Roman auf seine ‘Zellklumpen’ hin auseinanderdröseln … aber das können dann mal andere tun – auch dazu hat er das ‘Potential’. Denn mancher von ihnen sieht zunächst beispielsweise aus wie eine kleine Himbeere und beginnt dann, sich fleißig zu teilen und eine eigene Geschichte zu werden. 

Aus den Notizen von  Ulrike Draesner auf ihrer Homepage.

“Selbstüberraschungen: die wertvollsten, schlimmsten, seltsamsten Momente des Schreibens? Das Thema lag vor mir, ein kaltes Kapitel meiner eigenen Biographie, undurchdrungen. Meine Vaterfamilie, Lebensfragen bis heute hingen daran (warum verstand mein Vater von manchem so wenig, warum war er deprimiert, schweigsam, eigenbrötlerisch, wer waren seine Dämonen, welche Rolle spielte ich bei seinem Kampf mit ihnen?). Was hatte ich damit zu tun?
Rasch zog ich mich zurück.
Während meiner Kindheit hatte ich die Jahre 1933-45 als tief versunkene Vergangenheit wahrgenommen, „der Krieg“ ein Krieg der Großeltern. Schon meine Eltern hatten ihn „nur“ als Kinder erlebt. Erst als ich 30 wurde, dämmerte mir allmählich, wie stark das Bild und die Deformationen einer versehrten Gesellschaft mein Aufwachsen bestimmt hatten. Es war zu erwarten, dass sie untergründig weiterwirkten. Dachte ich an das München der 60er Jahre, sah ich Straßenbahnen mit Sitzplätzen für Kriegsversehrte, verstümmelte alte Männer, die Stöcke schwangen, humpelten, schwiegen. Männer mit Eisenhänden machten mir besondere Angst, ihre Versehrung trat so deutlich zu Tage.

Auch bei anderen, die es nicht körperlich zeigten, war sie zu spüren.
Davon erzählen?
Doch wie?

Ich verschob die Entscheidung, obwohl ich inzwischen wusste, welche Fragen mich umtrieben: Wie wirken Traumatisierungen, wenn Kinder sie erleiden?
Wie geben Menschen weiter, was sie nicht erzählen, nicht aussprechen, oft genug nicht einmal willentlich erinnern können?”

… “war faszinierend und erschreckend, etwas vor der bayrischen Außenwelt [wo die Kindheit der Autorin war] Verborgenes, zu dem ich Zugang hatte. Darauf war ich stolz. Und begegnete zugleich einem Raum unsichtbarer Schmerzen, einem inneren, essentiellen Raum, der etwas davon ausdrückte, was meine Großeltern, ihre Freunde und meinen Vater so merklich von meinem bayrischen Familienteil unterschied. Heute würde man es vielleicht als Gebrochenheit bezeichnen, die tiefe Erfahrung eines Verlustes und der ihm folgenden Demütigungen dort, wohin es einen „verschlagen“ hatte. Ein politischer Raum zudem: ich erinnere mich an endlose Diskussionen darüber, ob man nach Polen reisen solle oder nicht. Manche fuhren und berichteten davon, andere, wie meine Großeltern, schreckten davor zurück. Kleine Durchbrüche, großes Schweigen. Ich glaube, ich lernte in diesem Wohnzimmer viel über nicht sichtbare und nicht aussprechbare Wirklichkeiten. Für das Schreiben des Romans war die Erinnerung hieran wichtig: als Lotung, sozusagen. Die Hauptarbeit hieß für mich ja, immer wieder dieses Schweigen zu berühren und es hinüberzuziehen, zu übersetzen in sprachlichen Ausdruck (…)

Wie genau Ulrike aber auch jedem nachgeht, was ihr zunächst einmal unbekannt / unverständlich erscheint, möchte ich hier am Stichwort ‘Kondensmilch’ zeigen (gemeint ist allerdings die dicke, gezuckerte, nicht die ‘normale’):
“Kondensmilch: fetter, zuckriger Traum der 50er Jahre, heimliches Nahrungsmittel der einst hungernden, jetzt dick werdenden Erwachsenengeneration des Krieges. Die Milch wird erhitzt, eingedickt, homogenisiert, gezuckert oder auch nicht, abgefüllt. Sie ist leicht bräunlich, dickflüssig, schmeckt kurz nach Karamell. Nahrhaft und fett. Das wichtigste Gefäß auf dem Kaffeetisch. Erinnere ich mich wirklich daran, dass mein Großvater in der Küche stand und rasch, direkt aus dem Kühlschrank, einen Schluck aus der Bärenmarke-Dose nahm? Ich glaube nicht. Wahr ist es doch.
Als Erfinder der Kondensmilch in Dosen gilt übrigens der französische Konditor Nicolas Appert. 1810 wurde er für seine besonderen Leistungen auf dem Gebiet der Konservierung von Obst mit einem Preis der französischen Regierung ausgezeichnet, der ihn verpflichtete, ein Buch zum Thema zu veröffentlichen. Die bereits dort entwickelte Idee, auch Milch in Dosen zu konservieren, konnte 1827 erstmals erfolgreich umgesetzt werden.”

Also, endlich einige Stichworte zu dem, worum es geht:  Simone Grolmann ist (wie die Autorin!) 52, etabliert und angesehen, Professorin für Verhaltensforschung, Mutter einer Tochter, ein analytischer Mensch.

Und doch hat sie eine unklare Angst. Angst vor Schnee. Die Angst ist tief in ihr, versunken wie der Breslauer Wald, durch den ihr Vater, sein behinderter Bruder Emil und Lilly, die Mutter der beiden, in der Nacht vom 19. auf den 20. Januar 1945 stapften, bei minus 21 Grad: drei Menschen mit drei durchweichten Pappkoffern. 17 Jahre vor Simones Geburt war das, und doch ist es ihre eigene Angst.

Simone liebt ihren Vater Eustachius und kommt ihm gleichwohl nicht nah. Eustachius Grolmann, 83, ist ein Kriegskind. Aufgewachsen im Propagandastaat, 1945 aus Schlesien in den Westen geflohen. Noch immer wird er von den Erinnerungen an die Flucht und den Tod seines Bruders heimgesucht. Von dem man niemals ganz genau erfährt, weswegen der behinderte Junge damals starb.  „Sei froh, dass du lebst.“ Diesen Nachkriegssatz hat er sich selbst so oft vorgesagt, bis er glaubte, das, was er spürte, könnte nun endlich dieses Frohsein sein.

Ulrike Draesner kreuzt die Lebenswege der schlesischen Grolmanns mit dem Schicksal einer aus Ostpolen nach Wroclaw vertriebenen Familie. Für die Recherche reiste sie unter anderem nach Wroclav – in jene Stadt, die früher Breslau hieß und aus der ihre Vaterfamilie stammt. Die Schilderung des zerstörten Breslau gehört zu den besonders starken Kapiteln dieses Buches. Auch hier wieder ihr fast fanatische Sucht nach Genauigkeit: “Der polnische Aspekt der Recherche gestaltete sich besonders schwierig, da Ulrike Draesner kein Polnisch spricht. Dank eines Stipendiums der Robert-Bosch-Stiftung konnte sie eine Übersetzerin in Wroclaw engagieren, die bereits im Vorfehttp://www.der-siebte-sprung.de/wp-content/uploads/2014/03/Aus-Ulrike-Draesner-Reisenotizbuch-7terSprung.jpgld der Recherchereise 2012 Kontakte knüpfte und während der Tage in Polen simultan übersetzte. Besonders wichtig waren die Gespräche mit insgesamt fünf Zeitzeugen: Menschen, die als Kinder oder Jugendliche von Ostpolen (heute Ukraine) nach Wrocław vertrieben worden waren. Ihren Darstellungen verdanken sich zahlreiche Szenen des 9. Kapitels des Romans, in dem Halka, eine junge Lembergerin, von ihrer ersten Zeit in dem zerstörten Breslau erzählt, das zu Wrocław wird. Zur polnischen Recherche gehörten ebenso zahlreiche Gänge durch die Stadt Wrocław, um Distanzen körperlich einschätzen zu können, Häuser um den Matthiasplatz herum zu erkunden, Gerüche und Atmosphäre wahrzunehmen.”

Und so sieht eine Seite aus Ulrike Draesners Notizbuch aus – wie soll daraus wohl ein Roman werden? Obendrein ein so gelungener wie hier? 

 

Vier Generationen, also um die hundert Jahre deutscher Geschichte kommen zu Wort. ‘Virtuos’ (schreibt der Verlag) entwirft sie ein Kaleidoskop der Erinnerungen, die sich zu immer neuen mit oft kuriosen, überzeugenden Personen und Bildern fügen. Sie zeigen, wie die durch Flucht und Vertreibung ausgelösten Traumata, was wohl auch ein besonders Thema, weiterwirken und wie sich seelische Landschaften von einer Generation in die nächste weitervererben.

Die Geschichten der Grolmanns und der Nienaltowskis werden zum Spiegel von hundert Jahren auch wohl  mitteleuropäischer Geschichte. Sie erzählen von den Mühen und Seligkeiten zwischen Eltern und Kindern, von Luftwurzeln, Freiheit und Migration.

Ich mag das Wort ‘virtuos’ in diesem Zusammenhang nicht.  Es hat etwas von einem ‘Zauberkünsler’ mit Karten und bunten Bällen an sich, tatsächlich ist jedes Kapitel, jede ‘Säule’ der Erzählung bewunderungswürdig. aber hart und exakt erarbeitet – einer neue Art, einen Roman zu erzählen, ohne dass es der Leser merkt – flüssig, spannend und schlüssig und doch aus hunderten EinzelTeilen und Teilchen  ‘zusammengebaut’.

Allerdings trifft das den Leser zunächst etwas unvorbereitet. Es wäre besser gewesen, man hätte ihn vorn zu Anfang gleich darauf hingewiesen, dass nun folgend neun Ich-Erzähler aus vier Generationen in dem Buch zu Wort kommen werden. Als Leser muss man sich immer wieder – auch etwas unvorbereitet – auf neue Perspektiven einlassen.

Warum braucht es diesen Chor an Stimmen, um diese Geschichte zu erzählen?   Die Autorin erklärt dies so: “ Weil es „die historische Wahrheit“ zu den Geschehnissen 1945 in Europa und zu ihren bis heute spürbaren Folgen nicht gibt. Es gibt verletzte, geschädigte, traumatisierte Menschen. Verluste allenthalben: der „Heimat“, der nächsten Angehörigen, des eigenen Ichs. Die Schrecken und Schönheiten des Weiterlebens, willkürliche und unwillkürliche Erinnerungen. So erzählen neun Menschen den Roman, Mitglieder zweier Familien, und doch spricht jeder einzeln: von seinen Geheimnissen her, seinem Sich-Zurechtbiegen der Wirklichkeit, seinem Sprung vom Rand der Welt. Ein Chor von Stimmen auch, um das Kollektive des Geschehens zu fassen. Etwas, das weit über den noch immer national und generationell bestimmten Denkrahmen „Flucht und Vertreibung“ (deutsch, alle Betroffenen verstorben oder hochbetagt) hinausreicht.

Man kann Ulrike Draesner bescheinigen, dass ihr das (fast) rundherum gelungen ist. Das ‘fast’ betrifft die Geschichten mit den Affen. Sie hätte sie besser weggelassen und für einen ganz anderen, eventuell utopischen’ Roman aufgehoben… (Ganz lustig ist ja da Einfangen zweier entwischter Affen – aber mit noch so viel Züchter-Tricks und Training wird man Affen NIE zu dem machen können, was hier angedacht ist: Zum Dienst am Menschen. Da ist wirklich ‘affen-technisch unmöglich!)

Aber denken wir uns die halt einfach weg – dann haben wir ein wahrhaft vollkommenes Buch! Um es nicht unerwähnt zu lassen: Für die Breslau-Geschichten kann man den Hut ziemlich  tief vor ihr ziehen. Welch unermüdliche Arbeit, wieviel Einfühlungsvermögen und Phantasie dahinter stehen, habe ich Ihnen hier zu vermitteln versucht. Vielleicht verstehen Sie jetzt besser, dass Schreiben und Dichten auch harte Arbeit bedeutet, bis aus der ersten Vision das entsteht, das diesen Gedanken zu Ihnen und in Ihren Kopf hinüberträgt.

Um es nicht zu vergessen:Das ganze Buch ist so spannend, dass man einfach mit dem Lesen nicht aufhören kann!

 

Ulrike Draesner hat ihren neuen Roman mit einer Website intermedial erweitert. Ergänzende Texte, Fotos, Familiendokumente und Interviews sind dort zu finden. (www.der-siebte-sprung.de)

Über die Autorin

Ulrike Draesner, geboren 1962 in München, studierte Germanistik, Anglistik und Philosophie in München und Oxford, Promotion 1992 mit einer Arbeit über Wolframs Parzival. 1993 stieg sie aus der Wissenschaft aus, um schreiben zu können. Neben ihren wissenschaftlichen Publikationen veröffentlichte sie Gedichte, Erzählungen, Hörspiele sowie einen ersten Roman. Sie lebt als freie Schriftstellerin, Übersetzerin und Literaturkritikerin in Berlin. 1997 erhielt sie den „foglio-Preis für junge Literatur“ sowie den „Bayrischen Staatsförderpreis“ für Literatur, 2010 den hochdotierter „Solothurner Literaturpreis“. 2013 wurde sie mit dem „Roswitha-Preis“ ausgezeichnet und 2014 mit dem „Cuxhavener Joachim-Ringelnatz-Preis für Lyrik“

Sieben Sprünge vom Rand der Welt
von Draesner, Ulrike;
Gebunden
Roman. 560 S. 215 mm 855g , in deutscher Sprache.
2014   Luchterhand Literaturverlag ISBN 3-630-87372-3
ISBN 978-3-630-87372-5 |   21.99 EUR