Erinnerungen an meine Kindheit im Nationalsozialismus: Ein (jüdisches) Kind vis-à-vis mit Adolf Hitler
Links: Der Schnappschuss – wer würde in diesem die Straße überquerenden Mann oder Herrn jemanden vermuten, der bald die ganze Welt mit Feuer, waffenklirrendem Elend überziehen würde, mit nur mit Baggern zusammenzuschaufelnden Bergen von jämmerlich abgemagerten Leichen, überzogen vom Rauch unzähliger Krematorien?
Wer überhaupt wäre in der Lage gewesen vorauszuahnen, was alles im Hirn oder sonstwo in dieser die Straße überquerenden Gestalt alles glomm oder loderte – zunächst nichts als ein Gedemütigter oder zutiefst Beleidigter – der seinen daraus entstandenen Größenwahn zunächst den anderen Erniedrigten und Beleidigten und dann das Unfassbare: auch auf das Volk der Dichter und Denker übertragen sollte. Nie wird man in allen Einzelheiten zu begreifen lernen, aus welchen Wurzeln dieser Baum des Todes letztlich gespeist wurde.
Edgar Feuchtwanger, der Neffe Lion Feuchtwangers, ist 1929 fünf, als seine Familie und er am Münchner Prinzregentenplatz einen neuen Nachbarn bekommen: Adolf Hitler, damals vierzig Jahre alt. also vier Jahre jünger als der Vater des Jungen. Vier Jahre später wurde dieser Mann oder Herr Reichskanzler – aber bereits, als er in das Haus gegenüber den Feuchtwangers zog, gehörte er zu den Hauptgesprächsthemen, und das ganze Viertel war darüber im Bilde, dass er am Prinzregentenplatz eine Wohnung beziehen würde.
Als ahnungsloser Augenzeuge erlebt Edgar von da an den Aufstieg Hitlers mit und beobachtet, zunächst kindlich-naiv, dann mit zunehmender Klarheit, wie die Nationalsozialisten Deutschland in eine brutale Diktatur verwandeln.
Edgar Feuchtwanger wächst in behüteten, bildungsbürgerlichen Verhältnissen auf. Sein Vater ist Verleger des angesehenen Verlages Duncker & Humblot, seine Mutter Pianistin. Sein Onkel, Lion Feuchtwanger, damals fünfundvierzig Jahre alt, hatte 1925 sein Buch Jud Süß veröffentlicht, in dem er vom Leben der Juden in Deutschland des 18. Jahrhunderts erzählte. Mit diesem Werk wurde er im Ausland zum meistgekauften deutschen Autor; allerdings entzogen ihm deswegen die Nationalsozialisten nach deren Machtübernahme die Staatsangehörigkeit.
In Edgar Feuchtwangers jüdischem Elternhaus geben sich die Intellektuellen der Weimarer Republik die Klinke in die Hand: Schriftsteller, Maler, Musiker. Sein Onkel Lion, der berühmte Autor, geht ebenso ein und aus wie Carl Schmitt und Thomas Mann.
Doch mit dem Aufstieg Adolf Hitlers, dem Nachbarn der Feuchtwangers, legt sich ein Schatten über Edgars Kindheit, der zunehmend düsterer wird. Mit immer neuen Schikanen werden die deutschen Juden gedemütigt und ausgegrenzt, der Vater verliert seine Stelle und wird verhaftet, als im November 1938 in ganz Deutschland die Synagogen brennen.
Anrührend, eindrucksvoll, oft komisch und bedrückend zugleich berichtet der renommierte Historiker Edgar Feuchtwanger, 2012, nun neunundachtzig Jahre alt, in seinen Erinnerungen – zehn Jahre lang wohnte der vis-à-vis mit Hitler – vom Untergang der Weimarer Republik, vom Verlust der Kindheit und von einer großbürgerlich-jüdischen Welt, die es in Deutschland heute so nicht mehr gibt.
Nicht zuletzt noch dies: Das Buch gehört in jede Jugendbuchabteilung – auch in den Büchereien – es erinnert in vielem dem so berühmten wie ergreifenden Kinderbuch: Als Hitler das rosa Kaninchen stahl von Judith Kerr.
Die Zeitzeugen starben aus!
Als Hitler unser Nachbar war
von Feuchtwanger, Edgar; Scali, Bertil;
Gebunden
Erinnerungen an meine Kindheit im Nationalsozialismus. Mit Scali, Bertil . Übersetzung: Peter, Antje . Originaltitel: Hitler mon voisin 224 S. m. Abb. 215 mm 425g , in deutscher Sprache.
2014 Siedler
ISBN 3-8275-0038-9
ISBN 978-3-8275-0038-0 19.99 EUR
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