Sehr lesenswert! 300 Jahre Glaube, Geist und Macht: Eine Pfarrer-Familiengeschichte

yozqcqp4

Deutsche Geistesgeschichte von Luther bis in die Gegenwart.

Das evangelische Pfarrhaus war über Jahrhunderte ein seelisch-geistiger Fixpunkt der deutschen Geschichte.

Seit Martin Luther ging von ihm eine ungeheure Wirkung aus: Aus dem Ideal des für alle offen stehenden, christlichen Hauses mit geistiger Ausstrahlung und kultureller Ansprache erwuchs ein bis heute lebendiger Mythos.

Schriftsteller wie Gryphius, Gottsched, Lessing und Wieland, Jean Paul und Matthias Claudius. Hermann Hesse, Albert Schweitzer,  und Gottfried Benn setzten den Weg fort, so wie Friedrich Dürrenmatt, (der sich daran erinnert, dass er einige Schleichwege zur Schule nehmen musste, weil ihn die Bauernjungen so gern verprügelten), Christine Brückner, Klaus Harpprecht, Gabriele Wohmann oder F. C. Delius. Auch Gegensätze: Gudrun Ensslin, Angela Merkel.  Auch ohne die Philosophen Nietzsche, Schleiermacher oder die Brüder Schlegel wäre deutsche Geistesgeschichte undenkbar.

Und damit ist die Liste wohl noch lange nicht vollständig. Das protestantische Pfarrhaus selbst prägte die deutsche Geistesgeschichte wie kaum eine andere Institution. Was machte diese Pfarrerskinder so besonders?

Unwillkürlich musste ich beim Lesen an Wilhelm Raabes Hungerpastor denken, der zunächst etwas rätselhaft so beginnt: ”Vom Hunger will ich in diesem schönen Buche handeln, von dem, was er bedeutet, was er will und was er vermag. Wie er für die Welt im Ganzen von Schiwa und Wischnu, Zerstörer und Erhalter in einer Person ist, kann ich freilich nicht auseinandersetzen, denn das ist die Sache der Geschichte; aber schildern kann ich, wie er im Einzelnen zerstörend und erhaltend wirkt und wirken wird, bis an das Ende der Welt. […]

Cord Aschenbrenner erzählt die Geschichte des Pfarrhauses am Beispiel nicht nur der deutsch-baltischen Pastorenfamilie von Hoerschelmann, die er über neun Generationen hinweg begleitet, und deren Leben  geradezu idealtypisch das Wirken und Walten zwischen Glauben, Macht und bürgerlichem Leben verkörpert.

Neun Generationen:  Und das beginnt wie bei all den aufgereihten Lebensbeschreibungen und Hindernissen und Erfolgen typisch damit: Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein musste der evangelische Pastor von den Pfründen des Amtssitzes leben, oft nur vom kärglichen Pfarracker. Der Idealfall war ein großes Stück Land, das genügend einträglich war, dass man davon leben konnte.

Es war ein hartes Leben als geistlicher Landmann, auch für ihre Frauen und Familien. Und nicht alle Pfarrfrauen waren aus einem solchen Holz geschnitzt, wie Katharina von Bora, Luthers tüchtigem Ehegesponst.  Er musste nicht, wie viele Pfarrer, hungern oder sich bei der Feldarbeit verausgaben. .

Seit Beginn des 18. Jahrhunderts entstanden im Pfarrhaus aber auch Enklaven musischer Interessen und bemerkenswerten Wissens. Zunehmend konnten Pfarrerskinder in einer väterlichen Bibliothek stöbern, wuchsen mit der Sprachmacht von Luthers Bibelübersetzung und der Strahlkraft von Choraltexten auf.

Es waren regelrechte Bildungsinseln, wo Menschen lebten und heranwuchsen, die kein materielles Erbe antreten konnten, im Gegenzug jedoch eine hohe Affinität zu Sprache und Literatur ererbten. Auch die Musik zählte zunehmend zum Inventar des pfarrhäuslichen Milieus.

So wuchsen die Kinder mit jener besonderen Art von ‘Hunger’ heran, wie ihn Wilhelm Raabe schildert.

Cord Aschenbrenner gelingt es, auf Grundlage des einzigartigen Quellenfundus der Hoerschelmanns ein schillerndes, neun Generationen währendes Familienepos zu schreiben und die Geschichte und Bedeutung des Pfarrhauses in großen Linien nachzuzeichnen. Sein Buch ist reichbebildert mit eindrucksvollen Portraits und Ansichten von Pfarrhäusern.

Familien- und Zeitgeschichte verschränken sich so zu einem großen Panorama deutscher Geistlichkeit, die die Verwerfungen der deutschen Geschichte überdauert und bis heute Bestand hat.

Dazu schreibt der Autor: ‘Dieses Buch zu schreiben wäre nicht möglich gewesen, ohne die schriftlichen Hinterlassenschaften der Familie Hoerschelmann aus drei Jahrhunderten: Predigten, Artikel, Briefe, Erinnerungen, Gedichte und anderes mehr. Vieles  ist durch den Zweiten Weltkrieg, beziehungseise auf der Flucht nach Westen verlorengegangen, oder ist 1939 in Estland geblieben.

Gotthard Hoerschelmnn hat nach seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft in Russland das, woran er sich aus Erzählungen, Lektüre und eigenem Erleben in seiner Kindheit erinnerte, zu Papier gebracht. Geholfen haben ihm dabei Untelragen aus der Familiengeschichte, die den weiten Weg von Thüringen nach Estland und schließlich zurück nach Deutschland gefunden hatten, und die Vorarbeit, die Pastor Constantin (Costi) Hoerschelmann bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts geleistet hatte.  […] ‘

Jedes der Kapitel hat seinen eigenen Reiz. Es ist einerseits gerade der Hintergrund des damaligen Baltikums und da er auch die eine oder andere Anekdote zitiert, muss man sie sich auch in der dortigen breiten Sprechweise mit dem rollenden R vorstellen. In den frühen Zeiten gab es auch die überaus sinnvolle Anweisung, dass Paare nicht eher getraut werden durfte, als bis die jeweilige Braut lesen und schreiben konnte, um später die Kinder unterweisen zu können.  (Was auch heute noch, in den vielen buchlosen Familien, garnicht so sinnlos wäre.) 

Besonders betroffen macht aber der letzte Abschnitt, wo die Familie mit dem Nationalsozialismus konfrontiert und davon betroffen wird und die Flucht am Kriegsende, bis zur Heimkehr Gotthard Hoerschelmanns, der zu den letzten Spätheimkehrern aus Russland gehörte.

Immer wieder einmal erscheinen Bücher über das Deutsche Pfarrhaus. Das hier vorliegende hat einen eigenen, ganz persönlichen – ja fast Charme. Es liest sich wie ein Roman, ist aber durch seinen ausführlichen Anhang mit Quellen und Literaturhinweisen ein wunderbar zu lesendes Sachbuch geworden.

 

Cord Aschenbrenner, geboren 1959, Enkel und Großneffe evangelischer Pastoren, ist freier Journalist und Historiker. Er ist Autor der Neuen Zürcher Zeitung und der Süddeutschen Zeitung zu vorwiegend historischen und kulturwissenschaftlichen Themen. Darüber hinaus lehrt er an der Akademie für Publizistik. 2012 erhielt er den Journalistenpreis der Stiftung Weltbevölkerung. Cord Aschenbrenner lebt mit seiner Familie in Hamburg.

 

Das evangelische Pfarrhaus
von Aschenbrenner, Cord;
Gebunden
300 Jahre Glaube, Geist und Macht: Eine Familiengeschichte. 368 S. mit Abb. 215 mm 596g , in deutscher Sprache.
2015   Siedler
ISBN 3-8275-0013-3
ISBN 978-3-8275-0013-7 |   24.99 EUR –