Wie der Mensch zum Lesen kam – und was es in unseren Köpfen bewirkt

Das lesende GehirnKeine Angst vor diesem Buch – obwohl die verlagsseitige Inhaltsangabe geradezu abschreckend wirkt: Es ist alles andere als ein trockenes, wissenschaftliches Buch! Es ist voller Leidenschaft von der international anerkannten Hirnforscherin Prof. Dr. Maryanne Wolf geschrieben und zwar so, dass es die Leser sofort gefangen nimmt!

Das mit dem Lesen ist eigentlich etwas ganz und gar Wunder- und Sonderbares. Maryanne Wolf macht uns nachdrücklich darauf aufmerksam: “Wir sind nicht zum Lesen geboren. Es gibt keine Gene, die je die Entwicklung des Lesen befohlen hätten. Der Mensch erfand das Lesen erst vor wenigen tausend Jahren. Und mit dieser Erfindung veränderten wir unmittelbar die Organisation unseres Gehirns – was uns vorher ungekannte Denkweisen eröffnete und damit die geistige Evolution unserer Art in Neue Bahnen lenkte.”

Was ist da passiert mit unserem Gehirn, dass es etwas erfand und ausübte, wofür es überhaupt zunächst nicht vorgesehen war? Sie beschreibt, die ungeheure schöpferische Kraft, die sich hinter dem Lesen von Wörtern verbirgt.

Und wie hat Sokrates sich dagegen gewehrt, der in der genialen Erfindung des Alphabets und der sich anbahnenden schriftlichen Überlieferung und Auseinandersetzung den Untergang der geistigen Fähigkeiten des Menschen sah – er meinte, nur die mündliche, bis dahin übliche Überlieferung sei das Einzig Wahre.

Und gleich im ersten Kapitel – wie später im Buch immer wieder und ausführlich – setzt sich Maryanne Wolf mit den so geplagten Legasthenikern auseinander – und wir werden begreifen, dass deren Gehirn keineswegs beschädigt sondern einfach nur anders verdrahtet ist – Legasthenie ist keine Frage des geistigen “Unterbelichtet-Seins”.

Wie hat die Menschheit das Lesen gelernt? Wie kam es überhaupt zu dem heutigen Alphabet aus nur 28 Buchstaben, mit denen man tatsächlich alles, aber auch wirklich alles ausdrücken, sich notieren oder mitteilen kann!

Und wie lernen Kinder lesen? Das Gehirn des Kleinkindes bereitet sich viel eher aufs Lesen vor, als man vermuten würde. Es greift dabei auf fast alle Rohmaterialien der frühen Kindheit zurück. Auf jede Wahrnehmung, jede Vorstellung und jedes Wort. Sie schreibt aber auch, was sich dem Spracherwerb eines Kindes alles in den Weg stellen kann, selbst eine Ohrentzündung kann sich auf die frühe Sprachentwicklung auswirken.

Ob ein Mensch Sprechen, Schreiben und Lesen kann, hängt, das sei immer wieder nachdrücklich gesagt, von seiner frühen und sorgfältig geleiteten Entwicklung ab.

Was geschieht in unseren Gehirnen, wenn wir uns diese Kulturtechnik aneignen? Wie werden aus den kleinen schwarzen Schnörkeln in unseren Köpfen Bilder, Vorstellungen, Gefühle und fremde Welten?

Was bedeutet Lesen für unsere individuelle Entwicklung – nicht nur in unserer Kindheit, sondern unser ganzes Leben hindurch -, und in welcher Wechselwirkung stehen Lesen und Schreiben mit Kultur und Zivilisation?

Was können wir aus Lese-Rechtschreib-Schwächen über die Prozesse im Gehirn lernen? Sind wir, was wir lesen? Es gibt berühmte Legastheniker: Thomas Edison, Leonardo da Vinvi, Elbert Einstein … Rodin, Andy Warhol, Picasso und viele andere. Und Maryanne Wolf erklärt angstvoll lesenden Eltern, welche Ursachen dazu führen und wie man damit umgehen kann.

Werfen wir noch einen Blick auf den Aufbau des Buches:

Vorwort.- Teil I: Wie das Gehirn lesen lernte.- Unterricht mit Proust und dem Tintenfisch. Wie sich das Gehirn ans Lesen anpasste die ersten Schriftsysteme. Die Geburt eines Alphabets und Sokrates Einwände.-

Teil II: Wie das Gehirn eines einzelnen Menschen lesen lernt.- Der erfolgreiche oder weniger erfolgreiche Weg zum Lesen. Die Naturgeschichte? des Leseerwerbs die Verknüpfung der Teile im jungen lesenden Gehirn. Die unendliche Geschichte der Leseentwicklung.

Teil III: Wenn das Gehirn nicht lesen lernen kann.- Das Rätsel der Dyslexie [Lesestörung]und die Hirnstruktur. Gene, Talente und Dyslexie. Vom lesenden Gehirn zu dem Nächsten?. Anmerkungen.- Index

Aus allen Kapiteln aber spricht die leidenschaftliche Leserin, die die große Literatur mehr als überdurchschnittlich gut kennt kennt und liebt, für die das Lesen wohl der größte Gewinn in ihrem Leben ist –

Wirklich jeder, der sich für Literatur und die Grundlagen, Dank derer wir Menschen das Lesen “entdeckt” haben, interessiert – wird und sollte dieses wunderbare Buch unbedingt selbst lesen! Es entgeht Ihnen sonst etwas wirklich Interessantes und Wichtiges!

Ingeborg Gollwitzer