‘… ist er noch immer ein beachtlicher Mensch …’ –
Wenn ein stilles Buch einschlägt wie eine Bombe – dann ist das schon was. Es wird, was bemerkenswert ist, auch von jenen gelesen, die kaum etwas lesen. (Es sei nicht verschwiegen, dass manch ein Viel-Leser verächtlich die Nase darüber rümpft – und es nicht liest. Wenigstens nicht ganz.) Das Thema ist so negativ besetzt, dass man davon nichts mehr hören mag. Ein schmales Buch von nur 189 Seiten – es birgt ausreichend Stoff für einen dickleibigen Roman. Dankenswerterweise bleiben dieses Ressourcen ungenutzt.
Im Zentrum ein Sohn: … “Zum Zeitpunkt, da ich diese Geschichte schreibe, bin ich fast halb so alt wie er. …”
Im Zentrum ein Vater: “Wenn ich mich frage, was der Vater für ein Mensch ist, passt er manchmal ganz leicht in ein Schema. Dann wieder zerbricht er in die vielen Gestalten, die er im Laufe seines Lebens anderen und mir gegenüber eingenommen hat.”
Wer selbst das Dahingehen eines Elternteils erlebt hat und dem das eigene in näherer Zukunft bevorsteht – der fühlt sich 189 Seiten lang warm aufgehoben – wie in einem Märchen, wo die böse Hexe garantiert in den Ofen geschoben wird. Man konnte/kann es nicht oft genug hören. Erst recht, wenn man das Elementare, das Worte und Sätze sein können, liebt – wie Stimmen aus Kinderzeiten.
Nach der eisig-kalten Schilderung der Demenz von Walter Jens, auf die ich hier nicht näher eingehen möchte, weil der Sohn sie als gerechte Strafe für den Vater betrachtet und die Ehefrau in ihm nichts mehr entdecken kann.- Im Rahmen dieser eisigen Kälte kommt unweigerlich dann die Erwähnung des immer größer werdenden und bedrohlicheren – Greisenberges; dement oder nicht – werden sie alles auffressen, vernichten. Gefährlich, wie die Plagen im alten Ägypten.
Hier aber fällt einem Sohn, entschlossen Schriftsteller zu werden, und deswegen wohl selbst innerhalb der Familie etwas ‘sonderlich’, etwas Eigentümliches an seinem dementen Vater auf, der ihn damit – so überraschend wie ungewollt – anzieht wie ein Magnet.
Was der Vater sagt, macht unerwarteterweise Sinn – manchmal in Bezug auf Vergangenes, manchmal sind es die Sätze wie der folgende an sich. „Das Leben ist ohne Probleme auch nicht leichter.“
Vom am 4.Juli 1926 als drittes von zehn Kindern geborenen August Geiger erfahren wir – nur scheinbar beiläufig nach und nach erwähnt – unerwartet viel. “Drei Kühe, ein Obstgarten, ein Acker und eine Streuwiese, ein Stück Wald, ein Schnappsbrennrecht für dreihundert Liter und ein Bienenhaus” – davon hätte eine so große Familie auch damals schon nicht leben können. Adolf Geiger, der Großvater, ‘der Dätt’ , hauptberuflich Stromableser in der Gemeinde. Hatte er einen Platten gefahren – stellte er das Fahrrad vor das Haus – und meistens war es – August, der es repariert, wie er es auch später tat, wenn sein Sohn irgendwann sein nicht ganz intaktes Fahrrad vor dem Elternhaus abstellte. Der ‘Dätt’ war autoritär gewesen, und sein Enkel notiert – die Biographie seines Vaters zusammenlegend wie ein Puzzle:
“Und wie der Vater seinen Eltern gehorchen musste, wurde später von ihm erwartet, dass er seinen Kindern gehorchte. Seine Kinder waren in eine andere Welt hineingeboren worden und glaubten zu wissen, wo es langgeht und wie man es richtig macht.”
Es gesellt sich auch die Großmutter ‘Mam’ zu der vielköpfigen Familie, die den Leser bald zu begleiten beginnt. ‘Mam’. eine von fünf Töchtern eines Schmieds, die, mangels eines Bruders, alle von Kindheit an hart mitarbeiten mussten – und eben dies war ihr mit all ihren vielen Kindern auch geblieben: “Sie habe sich oft wie eine Magd gefühlt, im Dorf habe es geheißen, Theresia Geiger sei eine der drei am schwersten arbeitenden Frauen im Dorf, sie hätte gleich in der Schmiede bleiben können und Eisen hämmern, bis es glüht.”
“Mein Vater [August] wäre gern unabhängig geblieben, das war Teil der fest in ihm verankerten bäuerlichen Prägung, das hatte sich so für ihn bewährt, zum Missfallen seiner Frau [die – erheblich jünger als er – ihn später verlassen hat] und seiner Kinder, die in eine Welt des Konsums und des Wegwerfens hineinwuchsen. Die Fähigkeit, zu reparieren und weiterzuverwerten, die Befriedigung von Bedürfnissen aufzuschieben oder gewisse Bedürfnisse gar nicht erst zu haben, gehören zu einer Kultur, die hierzulande untergeht.”
Mit diesen wenigen Worten umschreibt Arno Geiger exakt jenen Bruch, der gegenwärtig einen tiefen Graben zwischen uns und dem, was nach uns kommt, aufgerissen hat. Jenseits des Grabens existieren sie nicht mehr: Die – wodurch auch immer – eisern zusammengeschmiedeten Eltern, die zahlreichen und genügsamen immer ‘beschäftigten’ Kinder, die, wie sich hier herausstellt, nun durch die Krankheit des Vaters wieder zusammengefügt werden – umklammert oder umarmt? Diesen so liebevollen Bericht eines Sohnes, der sich seltsamerweise gerade jetzt von seinem Vater umarmt fühlt – liest man beklommen: Wen, der das liest, wird es vielleicht ebenfalls treffen – wird es für ihn jemanden geben, den er – in seiner nicht beschreibbaren Wirklichkeit lebend – umarmen kann? Der wenigstens zum Umarmt-Werden bereit ist?
Die Krankheit des Vaters hat langsam, zunächst fast unbemerkt begonnen. Aber sie frisst sich unaufhaltsam immer weiter – was wird sich als unzerstörbarer Kern erweisen? Große Familien, wie die der Geigers, haben einen unschätzbaren Vorteil: Sie haben große Häuser, die, wie das Elternhaus Arno Geigers, von dessen Vater selbst gebaut und immer wieder neuen Erfordernissen angepasst worden sind. Da müssen die Alten, die ‘Wunderlichen’ nicht weg; wenigstens nicht sofort.
Eben erklärt mir jemand deutlich blasiert, dies Buch sei einfach ‘banal’- weil es etwas völlig Normales beinhalte, wie es eben all die erleben, deren Eltern dement sind. Aber – normal? Hat da jemand unterschwellig die Befürchtung, dass – wenn Bücher wie dieses Erfolg haben sollten – man womöglich dazu übergeht, neben Sprüchen aus Kindermund auch noch Weisheit & Witz der Greise zu Geld zu machen? Blasiertheit übertüncht letztlich Hilf- und Ratlosigkeit.
Tatsächlich erleben wir derzeit einen noch nie dagewesen Umbruch, mit dem wir eben deswegen nicht umgehen können. Ausgerechnet in einem Zeitabschnitt nie zuvor gewesener Altersexplosion (seit Beginn des 20. Jahrhunderts soll sich das erreichbare Lebensalter um dreißig Jahre verlängert haben) sind die jüngeren Familien reduziert, falls es überhaupt welche sind, gibt es die großen, mitgewachsenen Elternhäuser nicht mehr, ist die Anzahl der Familienmitglieder, unter denen man die Fürsorge für die Alten aufteilen kann, auf ein Minimum geschrumpft. Und weil es einer überhaupt nicht, zwei schon allein das Besuchen kaum schaffen können, unterbleibt es oft von vornherein gleich ganz. Es wird – oft schon bei den ersten Entgleisungen – abgeschoben. Weggeworfen? Weil es normal ist und bei allen so. Immerhin kommt es derzeit in Mode, ein Prüfsystem für Altenheime zu entwickeln. Irgendwie kommt mir das Wort ‘Abschiebehaft’ in den Sinn. (Tröstlich: Käfighaltung bei Hühnern soll ja abgeschafft werden.)
Tatsache ist aber auch, dass zwei von drei ‘Pflegefällen’ in den Familien betreut werden. Die jedoch, die nicht zum Abschieben bereit sind, werden nicht selten von der Last zermalmt und – geraten oft genug ‘danach’ in finanzielles Abseits. Alter entpuppt sich zunehmend als eine in alle Himmelsrichtungen sich ausbreitende Gefahr. Im Kern der Alte – der nichts weiter als den Tod vor sich hat – tut sich mit der Eindeutigkeit seiner Situation scheinbar leicht; “… etwas Besseres als den Tod findet er eben nicht mehr”.
Wenn wieder ein anderer zu diesem Buch meint, da habe einer seinen Vater – bzw. dessen Alter – so richtig ‘ausgezuzzelt’ (so sagt man bei Weißwürsten) um dann seinen Vater zu benutzen und vorzuführen – hat er das Buch entweder unaufmerksam oder nicht zuende gelesen.
Keines dieser Argumente trifft das Buch wohl richtig. Es entsteht, weil der Sohn etwas ‘Wunderliches’ in der Redeweise seines Vaters entdeckt hat – das schreibt er auf. (Ein Schriftsteller weiß ja nie, ob er dies und das nicht einmal brauchen könnte und wie geschwind das Vergessen ist)
“Ich sitze seit einiger Zeit in der Küche und tippe Notizen in meinen Laptop. Im Wohnzimmer läuft der Fernseher, und der Vater, der von dort Stimmen hört, schleicht auf Zehenspitzen durch die Diele, lauscht und murmelt mehrmals bei sich: ‘Das sagt mir nichts’. Dann kommt er in die Küche, tut so, als schaue er mir beim Schreiben zu. Aber ich merke bei einem Seitenblick, dass er Unterstützung braucht. ‘Willst du nicht ein bisschen fernsehen?’, frage ich. ‘Was habe ich davon?’ – ‘Na ja, Unterhaltung.’ – ‘Ich möchte lieber heimgehen.’ – ‘Du bist zuhause.’ – ‘Wo sind wir?’ – Ich nenne Straße und Hausnummer. – ‘Na ja, aber viel bin ich hier nie gewesen.’ – ‘Du hast das Haus Ende der fünfziger Jahre gebaut, und seitdem wohnst du hier.’ – Er verzieht das Gesicht. Die Informationen, die er gerade erhalten hat, scheinen ihn nicht zu befriedigen. Er kratzt sich den Nacken: ‘Ich glaube es dir, aber mit Vorbehalt. Und jetzt will ich nach Hause.’ – … Der quälende Eindruck, nicht zu Hause zu sein, gehört zum Krankheitsbild. Ich erkläre es mir so, dass ein an Demenz erkrankter Mensch aufgrund seiner inneren Zerrüttung das Gefühl von Geborgenheit verloren hat …”
Nach und nach erfahren wir die gesamte Familiengeschichte; besonders natürlich die von August. Der wollte nämlich niemals mehr von zu Hause weg, in den Urlaub etwa. Er habe im Krieg genug von der Welt gesehen, das reiche ihm. Nach und nach begreifen wir warum: Siebzehnjährig wurde er zur Wehrmacht eingezogen und im Februar 1945 an die Ostfront geschickt. (Wenn ich mir meinen derzeit ebenaltrigen Enkel vorstelle und wie es wäre, wenn man so mit ihm verführe … wird mir das ganze Grauen erst richtig deutlich. Als sei es gestern gewesen, sehe ich ihn bei mir am Tisch sitzen und sich für die Schule eine Geschichte ausdenken sollte. Wir kamen auf die Sache mit dem ‘Inneren Auge’ – wenn man die Augen schließt, kann man sich nämlich viele Dinge oder Abläufe von etwas ganz genau vorstellen – dann wird es ganz leicht, sie zu beschreiben. Und jetzt: Riesig, in seine endgültigen Dimensionen körperlich bereits hineingewachsen – oben aber, einen Kopf über mir, ein – Kindergesicht.)
Jedoch war nicht der Krieg, sondern die Zeit danach für August das Eigentliche. Gefangenschaft, Lazarett … erst viel später erfährt der Sohn, wie es wirklich war, in jenem Lazarett, zwischen Kranken, Sterbenden und Leichen. Das würde August sich künftig niemals mehr vermittels eines ‘Inneren Auges’ vorstellen müssen. All das hatte sein Vorstellungsvermögen weit überstiegen und sich in ihm eingegraben; wie auch der spätere Weg heimwärts – dorthin zurück, wo es all das Grauen nicht gab. Denn dann ließen die Sowjets August laufen – “weil ich nichts mehr wert war” – der lakonische Kommentar. Danach der lange Marsch heimwärts, erst zur slowakisch-österreichischen Grenze bei Hainburg. ‘Lebt wohl, Österreicher’ waren die Wort des sie bis dahin begleitenden Rotarmisten. – das murmelt der alte Mann auch jetzt noch, wenn er in Gedanken ist. Weitere drei Wochen ein Hürdenlauf bis Vorarlberg: kein Geld, nichts zu essen, keine Papiere, verlaust. Hinter Innsbruck traf er die ersten Wolfurter, die er um Brot bat und in Lauterach einen Cousin, der ihn wegen seiner Magerkeit nicht erkannte.
Angefangen hatte es bei August im Grund schon nach der Pensionierung und dem Zerbrechen der Ehe. Er wurde vergesslich und zog sich (noch mehr) zurück; man führte es auf die veränderten Lebensumstände zurück und schalt ihn vermehrt seiner Vergesslichkeit wegen und ermahnte ihn. Erst später dämmert dem Sohn die Erkenntnis: “Wir schimpften mit der Person und meinten die Krankheit.“
Jetzt besucht ihn sein Sohn gern in dem großen Haus, wo sein Vater mit wechselnden, oft slowakischen Betreuerinnen lebt. Es zeigt sich für den Sohn, dass Mitschreiben klüger macht – wenn man es nachlesen kann und oft staunen muss:
“-‘Morgen wirst du achtzig’, sage ich zu ihm. – ‘Ich?’ fragt er. – ‘Ja, du wirst achtzig, Papa.’ – ‘Ich bestimmt nicht’, sagt er in lachender Empörung. Er schaut mich an: ‘Aber du vielleicht-‘ – Ich werde achtunddreißig, Papa, aber du wirst morgen achtzig’. – ‘Ich bestimmt nicht’ – wiederholt er belustigt. – ‘Aber du vielleicht’. – – So ging das eine Weile hin und her, bis ich ihn fragte, wie es sich anfühle, achtzig zu sein. Da sagte er:’ Du, ich kann nicht behaupten, das es etwas Besonderes wäre.’ … Bei der Geburtstagsfeier zu seinem Achtzigsten wünschte er jedem in der langen Reihe der Gratulanten ‘Alles Gute, Glück und Gesundheit’, dabei ergriff er mit seinen beiden Händen die ihm gereichten Hände. Er machte einen wachen Eindruck, genoss die Szene sichtlich und wirkte nicht wie ein auf das bloße Pflichtteil des Glücks gesetzter Mensch.” Als aber dann Familienbilder gezeigt wurden, und sein Großvater, der Schmied, in einem großen Lederschurz und mit einem schweren Hammer über die Schulter .. da brach es aus ihm heraus: ‘Ich bin zu nichts mehr zu gebrauchen – Herrschaft noch einmal – egal – es ist nicht weltbewegend..’
“‘Papa, was war die glücklichste Zeit in Deinem Leben? – ‘Als die Kinder klein waren.’ – ‘Du und Deine Geschwister?’ – ‘Nein, meine Kinder.’
‘Was ist Dir das Wichtigste im Leben, Papa?’ – ‘Das weiß ich nicht. Ich habe schon vieles erlebt. Aber wichtig?’ – ‘Fällt Dir etwas ein?’ – ‘Wichtig ist, dass man um dich herum freundlich redet. Dann geht vieles.’ – ”Und was magst du weniger?’ – ‘Wenn ich folgen muss. Ich mag es nicht, wenn man mich herumhetzt.’ – ‘Wer hetzt dich herum?’ – ‘ Jetzt gerade niemand.’ -“
“…Dann setzte er sich wieder hin und machte ein Gesicht, als träume er. In seiner Gedankenlosigkeit kam es mir vor, als sei er der Alte. Er spielte mit seinen Fingern, als gäbe es im Moment nichts Dringenderes, zwischendurch bat er mich, es ihm zu sagen, falls er mir helfen könne. ‘Leider, ich weiß’, fügte er hinzu, ‘ich erbringe keine guten Ergebnisse mehr, meine Leistungen sind ziemlich schwach geworden. Es ist schwierig. Ich werde dir wohl nicht viel helfen können.’ – Ich sage: ‘Du hilfst mir von allen am meisten.’ – ‘Sag sowas nicht!’ – gab er zur Antwort. – ‘Doch, es stimmt, du hilfst mir am meisten.’ – ‘Es ist nett von dir, wenn Du das sagst.’ – ‘Es stimmt auch.’ – Er grübelte einen Augenblick, bevor er sagte: ‘Dann nehme ich es vorerst zur Kenntnis’.”
Es wird nicht verschwiegen, dass es nicht immer friedlich verlief. Die anfängliche große, oft nächtliche Unruhe, der Verlust des örtlichen Gedächtnisses, Aggressivität, das Einschließen-müssen, Pflegerinnen, die auch mal weniger passten und deren immer wieder notwendiger Wechsel. Alles mag mühsam, beschwerlich und zeitraubend gewesen sein. Aber – war es wirklich Zeitverschwendung?
Vater und Sohn lebten in einem eigenen Kosmos – den sie nie zuvor erlebt hatten und auch später nicht mehr erleben würden. Unglaubliche Nähe entsteht – für jeden von beiden wohl ein völlig unerwartetes Geschenk. Nähe erzeugt Wärme – und Nähe entsteht hier durch nicht zu verleugnende Ähnlichkeiten von Vater und Sohn. Auch dieser ‘kann nichts wegwerfen’, hat den Hang, aus Nichts etwas zu basteln und, wie der Vater sein nach eigner Vorstellung gebautes Haus nach jedem Umbau unermüdlich neu verputzt und glättet, tut es der Sohn mit Wörtern, Texten und Geschichten.
Und weil der Sohn es aufgehoben/aufgeschrieben hat, werden sie nun öffentlich, diese merkwürdigen Gedanken und Sätze des Vaters. Kennzeichnen sie einen verblödeten, sinnlos brabbelnden irren alten Menschen? Schwachsinnig, idiotisch, umnachtet – nachtwandelnd, sinnesverwirrt, tobsüchtig, stumpfsinnig … das sind doch die Vokabeln, die wir normalerweise als Gründe für das Abschreiben / Abschieben hören.
“[Seine] Ausdrucksweise beeindruckte mich. Ich fühlte mich in Berührung mit dem magischen Potential der Wörter. … Aus ‘zukünftig’ machte der ‘kuhzünftig’, das ‘Ende des Lateins’, das ich bekundete, konterte er, er selber befinde sich ‘nicht am Ende des Lateins, sondern am Ende des Daseins’. … Auch einige alten Redensarten, die ich lange nicht gehört hatte, kamen wieder zum Vorschein: ‘Das Leintuch wird nun einmal nicht größer, das hilft kein Ziehen.’ – ‘Ein guter Stolperer fällt nicht.’ – ‘Du stellst dich an, als hättest du Schuhnägel in der Suppe.’ – Wenn ihm ein Wort nicht einfiel, sagte er: ‘Ich weiß nicht, wie ich es taufen soll.’ – Ich wunderte mich, wie präzise er sich ausdrückte und wie genau er den richtigen Ton traf und wie geschickt er die Wörter wählte. Er sagte: ‘Du und ich, wir werden uns das Leben gegenseitig so angenehm wie möglich machen, und wenn uns das nicht gelingt, wird eben einer von uns das Nachsehen haben.’ … – ‘Mir geht es meiner Beurteilung nach gut’, sagte er. ‘Ich bin jetzt ein älterer Mann, jetzt muss ich machen, was mir gefällt, und schauen, was dabei herauskommt.’ – ‘Und was wirst du machen, Papa?’ – ‘Nichts eben. Das ist das Schönste, weiß du. Das muss man können.’
Dass es in der Person des Vaters alles noch gibt: Charme, Selbstbewusstsein, Witz – aber auch viel Untergründiges. Das entdeckt der Sohn und hält es staunend fest. Was er dabei empfindet, sagt der Buchtitel: ‘Der alte König in seinem Exil’. – Der auch trauert, wenn ihm das eigene Schwinden wieder einmal bewusst wird: ‘Weißt du, Wichtiges ist bei mir nicht mehr vorhanden. Das Gefühl habe ich. Ich kann es nicht beweisen, aber das Gefühl habe ich, bei mir ist nichts Wichtiges mehr vorhanden, ja, so ist es.’
Niemals fragt man sich beim Lesen dieses zauberhaften, scheinbar so leicht dahin erzählten kleinen Buches, ob es sich nicht verbietet, über die Alters-Krankheit eines anderen in aller Öffentlichkeit zu sprechen. Hier wird aus einem ‘Thema’ eine unvergessliche ‘Gestalt’ und in August zu einem unvergänglichen Stück wirklicher Literatur.
Es ist weit mehr als eine bloß mit Merkwürdigkeiten gespickte Schilderung von beispielsweise Demenz, bzw. dem, was ‘man’ darunter versteht, was eigentlich aus dem Lateinischen kommt: “Dementia „ohne Geist“ bzw. Mens = Verstand, de = abnehmend ist ein Defizit in kognitiven, emotionalen und sozialen Fähigkeiten, das zu einer Beeinträchtigung sozialer und beruflicher Funktionen führt und meist mit einer diagnostizierbaren Erkrankung des Gehirns einhergeht; zudem wird sie als unappetitlich empfunden, übelriechend …
Augusts Exil lässt das alles vergessen: Auch Exil kommt aus dem Lateinischen – von Exilium, zu ex(s)ul = womit gemeint ist in der Fremde weilend, verbannt und bezeichnet die Abwesenheit eines Menschen oder einer Volksgruppe aus der angestammten Heimat, wofür es die unterschiedlichsten Gründe geben kann.. Wenn auch meist mit Einschränkungen verbunden, ist Exil ist ungleich ‘feiner’ als Demenz: Dichter und Könige wählten ihr EXIL als Zufluchtsort.
Arno Geiger gelingt etwas Einzigartiges: Mit der Geschicklichkeit eines Jongleurs lässt er nicht mehr zählbare Worte in der Luft sein Thema umkreisen: August, ‘seinen’ König in seinem Exil – und die Nachrichten von dort klingen wie solche aus einem Paradies. Mit ‘EXIL’ hat er ein Wort neu und mit AUGUST eine neue Symbolgestalt in der Literatur geschaffen. Leichtfüssig, fröhlich und hellsichtig – verschafft er Betroffensein andere Perspektiven – einen eigenen Kosmos, in dem man irgendwie dennoch überleben kann.
Was ich beim Lesen zunehmend befürchtete, trifft nicht ein: Das Buch endet nicht mit Augusts Tod. Irgendwie ist er damit unsterblich…
Nicht oft habe ich ein Buch, bei dem mir, während des Lesens, unzählige Personen einfallen, die es auch noch lesen müssten – und denen werden dann wieder weitere Personen, für die dieses Buch genau richtig ist, in den Sinn kommen. Das mit dem EXIL wird still immer weitere Kreise ziehen – es ist ein gutes Wort.
Ingeborg Gollwitzer
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