Einer der bekanntesten Politikwissenschaftler Europas
Wenn man älter oder sehr alt wird. kann man eine Lebensrückschau einfach nicht mehr chronologisch anlegen: Vielleicht, weil man nicht sicher ist, ob man überhaupt auf diese Weise noch bis in die Gegenwart vordringen kann.
Je älter man wird, umso deutlicher wird wohl auch, dass das ganze Leben aus übergroßen, in sich strukturierten Puzzle-Teilen besteht, die, ineinander gefügt, dann doch wieder ein Gesamtes bilden.
So ist wohl auch dieses Buch zu verstehen, das in Lebenskomplexen schildert, wie wohl das Gesamte zusammenhängt. Frauen spielen darin eine überragende Rolle: Wer aber nun hofft, die Rückschau eines Casanovas zu entdecken, den muss ich enttäuschen: Genau genommen sind es zwei Frauen, die alles zusammenhalten: Die eine ist die Mutter des Autors, die andere die Ehefrau. Zwei starke Frauen.
Ein in vielerlei Hinsicht erstaunliches Buch: Schreibt da doch jemand, der als Kind im Dezember 1933 mit seiner Familie aus Hitler-Deutschland emigrierte: “… weil mir Chancen vergönnt waren, die zum Glück halfen und ein beinahe ständiges Glücklichsein erlaubten. Auch wenn manche Umstände eher auf eine Tragödie hinwiesen als auf ein Lustspiel.- “
Das muss man erstmal so sehen – Emigrantenschicksale haben oft ganz andere Farben. Überhaupt ist es seine Art des Sehens, sind es seine Gesichtspunkte, die einen mal überraschen, gelegentlich auch ärgern – mit denen man aber auch eigene Denkweisen gelegentlich vergleichen kann. Sich selbst zu überprüfen.
Sogar, dass sein Vater in den ersten Monaten der Emigration verstirbt, wertet er positiv für seinen eigenen Lebensweg: “Durch den Tod des Vaters … ist mein Leben zwar bis zum heutigen Tage vom Gedanken des Todes begleitet worden, aber die Integration in Frankreich, die Assimilation in der französischen Gesellschaft wären viel schwieriger gewesen neben einem 55-jährigen Professor der Medizin, den dieses Frankreich dazu verurteilte, ohne jedes anerkannte Diplom im Immigrationsland seinen Lebensunterhalt verdienen zu müssen.”
Wenn man diesem Buch glauben kann, ist Alfred Gosser ein glücklicher, alter Mensch. Sicherlich gehört dazu auch Gesundheit – aber ich meine fast, diese und sein geradezu überwältigendes Selbstbewusstsein verdankt er dem ständigen Lernen, Lesen und Denken ein ganzes Leben lang. Etwas über seinen Bildungs- und Lebensweg kopiere ich hier zu Ihrer Information einfach mal aus Wikipedia ein:
Er studierte Politikwissenschaft und Germanistik und war ab 1955 Inhaber eines Lehrstuhls am Institut d’études politiques de Paris (Sciences Po) in Paris. 1992 wurde er als Studien- und Forschungsdirektor an der „Fondation Nationale des Sciences Politiques“ emeritiert.
Das ist schon eine bemerkenswerte Lebens-Laufbahn für einen kleinen Jungen, aus Deutschland vor Hitler geflohen, vaterlos von einer – allerdings bemerkenswerten –
Mutter aufgezogen. Alfred Grosser aber wurde (bzw. hat sich) nicht nur gut ausgebildet und mit einer soliden Karriere ausgerüstet, sondern er wurde auch be- und geachtet, was die Preise zeigen, mit denen er ausgezeichnet wurde:
1975 Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, Laudator Paul Frank, für seine Rolle als „Mittler zwischen Franzosen und Deutschen, Ungläubigen und Gläubigen, Europäern und Menschen anderer Kontinente“ 1978 Theodor-Heuss-Medaille 1995 Cicero Rednerpreis / [1996 Schillerpreis der Stadt Mannheim / 1998 Grand Prix de l’Académie des Sciences morales et politiques / 2002 Humanismus-Preis des Deutschen Altphilologenverbands 2004 Abraham Geiger-Preis des Abraham-Geiger-Kollegs an der Universität Potsdam / Großes Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband / Grand Officier de la Légion d’Honneur / 2009 Einrichtung der Alfred-Grosser-Gastprofessur an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main
Vor allem seine Art des Denkens ist an sich schon bemerkenswert. Metaphysik und Religion liegen ihm gänzlich fern. Dafür ist ihm aber etwas anderes wohl das Wichtigste überhaupt: “Ethik bedingt natürlich die Notwendigkeit, die Realität wenigstens einigermaßen zu kennen, die man bewertet. Das ist bei den Philosophen [und eben leider nicht nur dort!] nicht gerade immer der Fall. Manche philosophieren aufgrund von abgrundtiefer Unkenntnis der Dinge, über die sie sich äußern, in voller Verachtung für die Laien, die eben keine Philosophen sind.” [Den Namen, den er hier auch noch nennt, lasse ich mal weg.]
Abgrundtiefe Unkenntnis ist nach meinem Gefühl das, was Alfred Grosser am verhasstesten ist. Logischerweise setzt er auf Logik als Grundlage von überhaupt allem. Hätte er etwas zu sagen, würde er in allen Bereichen ein Lehrfach Logik einführen – Menschen die nicht logisch denken und handeln können, hält er für behindert. Wie man da auf sein eigenes Denken aufpassen muss, beschreibt er – oft amüsant ausgeschmückt – so: Das Gegenteil von “alle” ist nicht “keiner”, sondern “die einen ja – die anderen nein”, das Gegenteil vom “immer” ist nicht “nie”, sondern “manchmal so, manchmal anders” . Dazu benötigt man natürlich die ständige Selbstbefragung – jedem Gedanken hinterherdenken.
Ich glaube auch, dass es Grossers Grundnaturell ist, ein streitbarer Querdenker, Hinterfrager zu sein und ist in den Themenabschnitten – in die dieses Buch aufgeteilt ist – wunderschön nachzulesen! Es ist keine Autobiographie und ist es doch. In seinen Gesichtspunkten erfahren wir nach und nach, was wichtig war in seinem Leben. In logischem Denken erworbenes und geordnetes Wissen macht bei allen Entscheidungen und Diskursen unheimlich sicher. Wozu auch gehört, dass man sich bei Themen, mit denen man noch nicht vertraut ist, sich eben die benötigten Kenntnisse – logisch verfahrend – aneignen muss.
Selbst hier, auf dem sicheren Abstand von bedruckten Buchseiten, bringt er es fertig, dass man mal glücklich, zufrieden, selbstbestätigt ist, wenn er einen ein paar Seiten später auch mal kräftig ärgern kann – wenn man meint, man selbst sähe etwas anders. Oh ja, in seinem Buch kriegt der eine oder andere schon ‘sein Fett weg’. Auch man selbst – wie oft verwendet man so blöde Ausdrücke wie: ‘unsagbar’ z.B. – Wird man es später einmal wieder verwenden wolölen, hört man ihn gleich: Wenn man etwas ‘unsagbar’ findet.
Was er in diesem Buch nun aufblättert, zeigt sich bald, wo es in einzelnen Abschnitten dann um Logik geht, oder ob er ein moralisierender Einzelgänger ist. Er beschreibt, wie Politik zu erklären und zu beschreiben ist, Deutschlands Weg nach Europa, die Machthaber und die Bürger. Es ist die Lebensbilanz des großen Publizisten unverblümt, meinungsstark und optimistisch. Alfred Grosser hat sich um die deutsch-französische Verständigung nach dem Zweiten Weltkrieg verdient gemacht wie kaum ein anderer. Zugleich hat er seine um politische Aufklärung und Versöhnung werbende Stimme immer wieder eingesetzt, um den Deutschen (und den Franzosen!) unbequeme Wahrheiten zu sagen.
Der aus Frankfurt stammende, in Paris lebende Politologe, der als Jude geboren wurde und sich zum Atheismus bekennt, ist nicht nur ein glänzender Redner, sondern auch ein unerschrockener, unangepasster Geist, der sich niemals einer politischen Doktrin unterwarf. Genau darauf basiert die moralische Legitimation für seine besondere Rolle als Mahner.
In diesem Buch zieht er eine sehr persönliche Bilanz und erklärt, auf welchen Grundlagen sein lebenslanges politisches Engagement beruht. Er berichtet über die geistigen Einflüsse, die ihn prägten, über politische Freunde und Feinde, über seine religiösen Erfahrungen und Überzeugungen. Sein zentrales Credo ist der Satz, sein Lebensziel sei es stets gewesen, durch Wissen und Wärme seine Mitmenschen aufklärerisch zu beeinflussen.
Eine lehrreiche und faszinierende Lektüre für alle an Zeitgeschichte interessierten Leser.
Dr. Alfred Grosser, geb. 1925 in Frankfurt, ist seit 1937 französischer Staatsbürger. Er ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft am Institut d’Etudes Politiques in Paris und Journalist, außerdem Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, Träger des großen Verdienstkreuzes mit Stern und Schulterband der Bundesrepublik Deutschland, der Wilhelm-Leuschner-Medaille 2004 sowie vieler anderer Auszeichnungen und Preise. Er ist Autor zahlreicher Publikationen und versteht sich dabei als ‘Mittler zwischen Franzosen und Deutschen, Ungläubigen und Gläubigen, Europäern und Menschen anderer Kulturen’.
Ingeborg Gollwitzer
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