Das Buch: (Noch?) Die größte Erfindung der Menschheit Überlegungen (nicht nur) zu diesem bemerkenswerten Buch

Umberto Eco Die große Zukunft des BuchesMal ganz abgesehen von den hier erwähnten Büchern – auf die ich noch komme, ergibt sich hier aus den Gesprächen ein Gedanke, den ich als erstes erwähnen möchte. Wer – wie ich – das langsame Aufkommen von den ersten Computern für den Heimgebrauch miterlebt hat, also die Zeit noch VOR dem seinerzeit berühmten Commodore, der hat etwas miterlebt, das man NIEMALS vergessen darf: Die Dateien, die man noch VOR der DOS-Zeit [natürlich ist auch DOS länst passé] gespeichert hatte, gingen rettungslos verloren, wenn man nicht irgendjemand fand, der die passenden Geräte hatte, die ‘alten’ Dateien, die noch gar nicht so alt waren, auf Disketten umzuleiten, die das neue System ebenfalls verarbeiten kann. (Wir hatten damals endlich eine darauf spezialisierte Firma in München gefunden – die es bereits nicht mehr gab, als ich entdeckte, dass bei mir einige wichtige Dateien nicht übertragen worden waren – damit waren einige Texte eben einfach weg.)

Wenn man sich nun vorstellte – ich hoffe es ist Utopie, obwohl es bereits Realität ist – dass aufgrund eines hektischen allgemeinen stark überwiegenden Kaufs von NUR noch digitalen Texten – plötzlich die Verlage dazu übergehen, ganz auf das gedruckte Buch zu verzichten … Wenn man also keine Bücher mehr herstellt, weil es sich nicht lohnt – wer wird dafür sorgen, dass sie noch in fünfzig oder hundert Jahren zur Verfügung stehen, wenn zahllose neue technische Systeme darüber hinweggegangen sind?

Dabei ist das ja tatsächlich bereits Realität! Mit dem rasanten Aufkommen von Google und Wikipedia stellte z.B. der

Große Brockhaus sein Erscheinen ein! Es wird also späteren Generationen NICHT mehr möglich sein, den Wissensstand unserer Gegenwart in einem Lexikon nachzuvollziehen. (Welcher Gewinn ist es doch, wenn man beispielsweise die 14. Auflage des Großen Brockhaus von 1898 zu Rate zieht, um bei bestimmten Stichworten nachzulesen, wie man etwas damals sah. ) Bücher sind das Gedächtnis der Menschheit – dafür gibt es keinen Ersatz!

Dass Bücher nicht nur eine Vergangenheit, sondern auch eine Zukunft haben (müssen), ist die Überzeugung von Umberto Eco und Jean-Claude Carriere, Autoren aus Italien und Frankreich, die zusammenkamen, um sich über die Zukunft des Buches zu unterhalten. Ein mehr als reizvolles Gespräch. Beide sind große Buch-Liebhaber und haben eine ganz und gar außergewöhnliche Bibliothek zusammengetragen. Und so heißt es auch im Vorwort:

“Aber was ist ein Buch? Was sind die Bücher, die in unseren Regalen, in denen die Bibliotheken der ganzen Welt stehen und in sich Wissen und Träume bergen, die die Menschheit angehäuft hat, seitdem sie imstande ist, sie zu schreiben? … Werden wir ihrer eigentlichen Funktion gerecht, die doch einfach darin besteht, das ständig vom Vergessen Bedrohte irgendwo sicher zu verwahren?”

Neulich, beim Googeln – ich suchte etwas zum Thema biologische bzw. chemische Kriegswaffen – ist es mir aufgefallen: Bei einigen Stichworten fand ich, dass sie von Google aufgrund irgendeines Gerichtsbeschlusses entfernt oder gesperrt waren. Natürlich interessierte mich aber einfach alles, was – wer auch immer – zu diesem Thema gemeint oder geschrieben hat, selbst wenn und warum es dann verboten wurde.. Hätte das in einem BUCH gestanden, wäre es restlos unmöglich gewesen, diesen Text zu annulieren. Selbst noch so umfassende Bücherverbrennungen können Bücher niemals restlos erfassen: Eines oder eine Handvoll überdauert solche Maßnahmen mit Sicherheit immer.

Noch eine weitere Überlegung stellt J.-C. Carriere auf: “Warum zieht anscheinend jede Epoche eine bestimmte Kunstgattung vor ..” Es ist richtig, dass Bücher und Themen – zumindest zeitweise in Vergessenheit geraten können. Beispiele dafür sind die Lyrik im England des 16. Jahrhunderts, Theater in Frankreich des 17. Jhdts, der Roman in Frankreich, Russland usw.”

Umberto Eco meint, die Frage sei unbeantwortbar: Warum gab es beispielsweise zu Shakespeares Zeit in England keine große Malerei, jedoch gab es zu Dantes Zeiten einen Giotto und zur Zeit Ariosts einen Raffael.

Aber die, von denen etwas Gedrucktes hinterlassen wurde, sind für alle Zeiten erhalten und auch Jahrhunderte später wieder auffindbar – wenn auch oft mit Mühe – und können späteren Generationen Fragenkomplexe zu beantworten helfen; auch wenn sie unendliche Zeiten von niemandem mehr beachtet wurden. (Ich muss dabei an das derzeitige Interesse z..B. an den Kreuzzüge erinnern, wo man in den verborgensten Quellen neu nachforscht, um die Wurzeln des Dschihad besser begreifen zu können.)

Nach ihren ersten Lese-Kontakten befragt, erzählen die beiden Autoren, von deren grandioser Bibliothek zuvor gesprochen wurde – wie ihr erster Kontakt mit Büchern war.

J.-C. Carriere wuchs erstaunlicherweise in einem Haushalt ohne Bücher auf. Sein Vater besaß nur ein einziges Buch, das er einfach immer wieder las: ‘Valentine’ von George Sand. Befragt, warum er nur das eine lese, war die Antwort:’Ich liebes es sehr, warum sollte ich andere Bücher lesen?’ Das erste Buch, an das sich J.-C-Carriere überhaupt erinnert, “war die Heilige Schrift, aufgeschlagen auf dem Altar, deren Seiten der Priester voller Ehrfurcht umblätterte. Mein erstes Buch also ein Gegenstand der Verehrung. … Ich bin sehr früh zum Buchliebhaber geworden, wenn ich denn einer bin, ich habe eine Bücherliste wiedergefunden, die ich im Alter von zehn Jahren angelegt habe. Sie umfasste schon achtzig Titel! Jules Verne, James Oliver Curwood, Fenimore Cooper, Jack London, Mayne Reid und andere. [Gar keine schlechte Liste für ein Kind aus buchlosen Haushalt!]

Umberto Ecos früher Buchkontakt gestaltete sich anders, und zwar über seinen Großvater, von Beruf Typograph, der starb, als U.E. sechs Jahre alt war. “…Seitdem er im Ruhestand war, betätigte er sich als Buchbinder. Auf einem Regal bei ihm warteten jede Menge Bücher darauf, gebunden zu werden. Die meisten mit Illustrationen. Sie wissen schon, diese Volksausgaben von Romanen aus dem 19. Jahrhundert mit Stichen von Joannot, Lenoir … “

Als der Großvater starb, wurde alles, was nicht mehr abgeholt worden war, in eine riesige Truhe getan, die im Keller des elterlichen Hauses stand. ” … wenn ich mich im Keller befand um eine Flasche Wein zu holen, fand ich mich mitten unter diesen ungebunden Büchern wieder, die für ein achtjähriges Kind eine Sensation waren. Alles war dazu angetan, meine Intelligenz zu wecken. Nicht nur Darwin, sondern auch erotische Bücher … Meine Einbildungskraft nährte sich [beispielsweise] also von tapferen Franzosen, die das scheußliche Preußen geißelten, das ganze durchtränkt von einem übertriebenen Nationalismus. …”

Beide Autoren habe eine ganz unglaubliche Bibliothek; J.-C. C. hat einen Teil der seinen verkaufen müssen, um seine Schulden zu bezahlten, einige davon bekam er später zurück. Was nach seinem Tod aus seinen Büchern wird? “Meine Frau und meine beiden Töchter werden darüber entscheiden.”

Umberto Eco meint zu seinem Bücher Sammeln: “… das ist ein einsames Laster. Aus rätselhaften Gründen ist die Zuneigung, die wir für ein Buch empfinden können. in keiner Weise an seinen Wert gebunden. Ich habe [auch] Bücher, an denen ich sehr hänge und die keinen großen kommerziellen Wert besitzen.”

Aber dann erfahren wir: “Zusammengerechnet besitze ich an meinen Hauptwohnsitzen insgesamt fünfzigtausend Bücher. Aber das sind moderne Bücher. An seltenen Büchern habe ich tausendzweihundert Titel. Aber da gibt es noch einen Unterschied. Die alten Bücher habe ich selbst ausgesucht (und bezahlt), die modernen Bücher sind solche, die ich im Laufe der Jahre gekauft habe, aber auch, und in zunehmendem Maße Bücher, die ich geschenkt bekommen habe. “

J.-C.C. erwähnt: “Wenn ich meine Sammlung Märchen und Legenden beiseite lasse, besitze ich vielleicht zweitausend alte Bücher von insgesamt dreißig- oder vierzigtausend. … “

Eine erstaunliche Rechnung stellt Umberto Eco auf: Die Kosten des “Bücher-Haltens”. Wenn er lediglich die “Raumkosten” berechnet, die für das Aufbewahren der Bücher zu berechnen sind, kommt er auf stattliche 40,00 Euro, die er für die Aufbewahrung nur eines Buches aufwenden muss.

Das Buch ist randvoll mit geistvollen Gesprächen und Erlebnisberichten, in denen es überwiegend über Bücher, aber auch über alte Filme (deren leider oft so begrenzte Haltbarkeit) geht.

Eine Bemerkung Umberto Ecos tat mir irgendwie weh, als ich sie las: “Meine Kinder lassen kein Interesse [an Büchern allgemein] erkennen. Meinem Sohn gefällt die Vorstellung, dass ich die Erstausgabe des Ulysses besitze, und meine Tochter konsultiert häufig mein Kräuterbuch vom Mattioli aus dem 16. Jahrhundert, aber das ist auch alles.”

Ja, Bücher können auf eine spezielle Weise auch – einsam machen. Das kennt jeder, der viel liest.

Ach, – ob dadurch ‘einsam’ oder nicht – für jeden, der leidenschaftlich liest, ist dies Buch einfach ein Genuss: In einer rasanten Reise durch die Zeit, von der Papyrusrolle über Gutenberg bis zum E-Book sprechen sie über die Faszination von Bibliotheken, welche Bücher sie vor dem Feuer retten würden, und über die Frage, ob es Sinn macht, “Krieg und Frieden” als E-Book zu lesen. Die originellen, unterhaltsamen und höchst informativen Anekdoten der beiden Passionierten sind ein Muss für alle, die das Buch als Gegenstand lieben.

“Ein Genuss für alle Bibliophilen.” findet sogar der Stern am 02.09.10

Ganz sicher aber wird dies Buch auch Ihnen eine Meinung zu finden helfen, wie man über Bücher und das neue Digitale nachdenken kann. Ach, lesen Sie es doch selbst!

Ingeborg Gollwitzer

PS) Ich würde es ganz wunderbar finden, wenn Sie die “Kommentar-Möglichkeit” am Ende dieses Textes dafür benutzen würden, einmal selbst zu erzählen, wie es war, als Sie die Bücher für sich entdeckten… ach bitte, das würde viele andere Leser vermutlich auch interessieren …

Zu den Autoren:

Umberto Eco, geb. 1932 in Alessandria, lebt heute in Mailand. Er studierte Pädagogik und Philosophie und promovierte 1954 an der Universität Turin. Anschließend arbeitete er beim Italienischen Fernsehen und war als freier Dozent für Ästhetik und visuelle Kommunikation in Turin, Mailand und Florenz tätig. Seit 1971 unterrichtet er Semiotik in Bologna. Eco erhielt neben zahlreichen Auszeichnungen den Premio Strega (1981) und wurde 1988 zum Ehrendoktor der Pariser Sorbonne ernannt.

Er verfasste zahlreiche Schriften zur Theorie und Praxis der Zeichen, der Literatur, der Kunst und nicht zuletzt der Ästhetik des Mittelalters. Seine Romane ‘Der Name der Rose’ und ‘Das Foucaultsche Pendel’ sind Welterfolge geworden.

Jean-Claude Carrière, 1931 in Colombières-sur-Orb/Südfrankreich geboren, ist Schriftsteller, Dramatiker und Drehbuchautor. 1963 wurde er mit einem Oscar ausgezeichnet und arbeitete unter anderem mit Jacques Tati, Volker Schlöndorff, Peter Brook und Jean-Luc Godard zusammen. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher, darunter die Romanfassung zum Filmerfolg »Die Ferien des Monsieur Hulot« und Gespräche mit dem Dalai Lama. »Relativität zum Tee« wurde in 18 Sprachen übersetzt und ist ein großer internationaler Erfolg.

Die Übersetzerin:

Barbara Kleiner, promovierte Germanistin und Romanistin aus München, Jahrgang 1952. Sie erhält den Übersetzerpreis der Kulturstiftung NRW für ihre Übertragung von Ippolito Nievos Werk “Bekenntnisse eines Italieners” (Manesse Verlag, 2005) aus dem Italienischen ins Deutsche. Gleichzeitig wird das Gesamtwerk der Übersetzerin ausgezeichnet. Die Kunststiftung NRW verleiht den renommierten Preis, der mit 25.000 zu den höchstdotierten Auszeichnungen für literarische Übersetzer im deutschsprachigen Raum gehört, in Zusammenarbeit mit dem Europäischen Übersetzer-Kollegium Straelen.