Gottes Häuser oder die Kunst, Kirchen zu bauen und zu verstehenWas ist wo in der Kirche und warum?

Haben Sie sich auch schon einmal gefragt, wie es von diesem ganz und gar einfachen Jesus und seinen ganz und gar einfachen Jüngern und Aposteln im fernen Palästina und dem ganz und gar einfachen, redenden und briefeschreibenden Paulus zu den prachtvollen Kirchen und Kathedralen bei uns in Europa kommen konnte?

Auf ein Buch wie dieses stößt man nicht oft! Weil ich schon lange bedauert habe, dass ich nicht besonders viel über Kirchen weiß – habe ich es als erstes aus dem Paket mit Rezensionsexemlaren herausgezogen. Gut, ich kann schon auch ohne dieses Buch erkennen, um welchen Baustil es sich bei einer Kirche handelt wenn ich davor stehe, Bilder davon sehe oder hineingehe. Auch über die Baustile bin ich ziemlich gut informiert (gehört ja zur Bildung). Aber, was eigentlich dahintersteckt, wenn eine Kirche gebaut wurde – warum sie so, wo und nicht anders oder anderswo entstand …

Wenn auch Sie dieses Buch gelesen haben, wird auch Ihr Horizont um ganz wesentliche Einsichten erweitert sein: Auf – um am Thema gemessen wenigen Seiten (287 und sehr schön gedruckt, d.h. zu lesen und illustriert) – breitet Johann Hinrich Claussen an nur neun Beispielen nicht nur die Geschichte des Kirchenbaues vor Ihnen aus, sondern einen wunderbar klaren und einprägsamen Ablauf der erstaunlichen Entwicklung des Christentums; des katholischen, des evangelischen und des orthodoxen.

Es sei gleich gesagt: Claussen ist ein wunderbarer Geschichten-Erzähler; beim Lesen wird man erinnert an jene Texte, die mit: “Es war einmal…” beginnen, und wir sind sofort jedesmal mittendrin in den Ereignissen des jeweiligen Zeitabschnitts.

Johann Hinrich Claussen führt in diesem Buch durch die Geschichte des Kirchenbaues, von den ersten Hauskirchen der ganz frühen Christenheit über die grandiosen Kathedralen des Mittelalters bis heute. Sein einzigartiger Kirchen(ver)führer für Jung und Alt öffnet auf ganz elementare Weise die Augen für die Besonderheiten, die von uns Heutigen immer wieder als Schönheit empfundene und den tieferen Sinn der christlichen Gotteshäuser.

Kirchen prägen unsere Städte und Dörfer. Auf Reisen werden sie besucht und bewundert. Aber vielen Menschen geben sie zunehmend Rätsel auf. Wie wurden diese gigantischen Kirchen eigentlich gebaut? Woher nahmen die damaligen Baumeister beispielsweise der Kathedralen eigentlich die Kenntnisse, diese gewaltigen Bauwerke nicht nur zu errichten, sondern dies so haltbar zu machen, dass man viele davon, wenn auch immer wieder restauriert, noch heute sehen kann?

Vor allem: Welche Ausprägung und welches Glaubensverständnis bewegte wen in welchem Zeitabschnitt, einen Kirchenbau überhaupt in Angriff zu nehmen? Gleich auf Seite 36 lernen wir eine der wichtigsten Gestalten kennen, die im vierten Jahrhundert das Schicksal des Christentums gewendet hat. Noch waren die Christen eine verfolgte Minderheit – erst Konstantin der Große brachte ihnen die Religionsfreiheit.

Wie immer wieder beim Verfasser zu beobachten, beginnt sein Bericht über die Entstehung der Grabeskirche zu Jerusalem – bei der er über eine entscheidende Wende des Christentum berichten wird, zunächst mit einem eher behaglich klingenden Satz: “Im Jahr 326 brach eine alte Dame zu einem Besuch ins Heilige Land auf. Es war Helena, die Mutter des großen Kaisers Konstantin. Ihre Pilgerreise [sie soll zu dieser Zeit deutlich über siebzig Jahre alt gewesen sein] nach Jerusalem sollte für die Baugeschichte des Christentums folgenreich sein. Diese Reise aber hat einige Vorgeschichten.”

Wenn man diese ‘Vorgeschichte’ dann liest, wird man dankbar für all die Friedensjahre, die wir in Deutschland nach 1945 erleben durfte. Konstantin hatte zwei Jahre, bevor er seine Mutter auf die Reise in die Heimat Jesu schickte, auch seinen letzten Gegenspieler, Licinius, besiegt und war endlich zum Alleinherrscher über das gesamte Römische Weltreich (das in seiner Blütezeit große Teile Europas, Vorderasiens und Nordafrikas umfasste,) aufgestiegen. Konstantin aber war es, der den bisher verfolgten und rechtlosen Christen endgültig die Religionsfreiheit brachte. Die blutigen Schlachten und Gemetzel, die ihn dahin führten, zähle ich hier nicht auf. Nicht nur in der Geschichte des Christentums ist in entsetzlichen Gemetzeln Mann gegen Mann schauerlich viel Blut geflossen.

“Im neuen Testament und den Schriften der frühen Kirchenväter spielte das Kreuz, an dem Jesus sein Leben für die Menschheit ließ, keine besondere Rolle. Doch für Konstantin besaß es eine enorme Bedeutung. Kurz vor der Entscheidungsschlacht an der Milvinischen Brücke war es ihm in einem Traum erschienen: In diesem Zeichen wollte er siegen. Das Kreuz war für ihn also ein visionäres Siegeszeichen und Heerbanner. Sein Kampf um die Macht war gleichsam der erste Kreuzzug, in dem das Zeichen des unschuldigen Leidens des Gottessohnes sich in ein Kaiserlich-soldatisches Machtsymbol verkehrte. Es musste in Konstantins Interesse liegen, eine Macht am Ort der Kreuzigung selbst zu gründen. So war es nur konsequent, dass er diesen Ort ausfindig machen und dort eine Kirche bauen ließ. Aber dieses Bauprojekt wäre nur halb so herrlich, wenn es nicht eine wunderbare Geschichte darüber zu erzählen gäbe.” Aber die müssen Sie nun selbst im Buch weiterlesen.

War Konstantin ein überzeugter Christ – darüber ist man sich nie ganz klar geworden. Aber er wusste, dass eine Religion ein kraftvoller Kitt ist, der Menschen miteinander verbindet. (Getauft wurde Konstantin übrigens erst auf dem Sterbebett – aus ‘Sicherheitsgründen’: Denn wie viele Fromme damals glaubte auch er, dass die Sündenvergebung, welche die Taufe schenkte, nicht wiederholbar wäre. Lädt also ein Getaufter nochmals Sünde auf sich, hätte er keine Chance mehr, vor Gott Gnade zu finden.)

Konstantins Mutter war Christin, während er selber wohl den Sonnengott Sol anbetete. Von seiner Mutter jedoch hatte er von „Christos“ gehört. Nach seinem überraschenden Sieg erklärte er dem Papst seinen Siegeszug im Zeichen des Kreuzes und führte so die Vereinigung von Staat und Kirche herbei. (Er selbst identifizierte wohl zeitlebens den christlichen Gott mit seinem Sonnengott.) Bedroht in ihrer Einheit wurde die Kirche jedoch von den Arianern: Arius argumentierte aus der Position einer absolut monotheistischen Theologie, die forderte, dass nichts und niemand die Verletzung der Einheit und Einzigkeit Gottes zulassen dürfe. Folgerichtig sprach er der Person Jesu Christi die Gottheit ab, und wies ihr nur die Rolle des vornehmsten aller Geschöpfe zu. Diese Überzeugung hätte der im Christentum propagierten und praktizierten “Dreieinigkeit” absolut widersprochen.

Jetzt wurde Religion zum Politikum. Konstantin berief das Konzil von Nicea ein, woran von den von Konstantin persönlich eingeladenen 1800 Bischöfen dann 300 tatsächlich teilnahmen und der gefährliche Glaubensstreit dann beigelegt wurde. Belegt ist, dass es dem Kaiser in erster Linie an Frieden und Einheit in der Kirche – und damit des Reiches – lag.

Dass Kaiser Konstantin mit dem Kirchenbau begann, hatte wohl zwei Gründe: Er hatte, aus niemals geklärten Gründen, sowohl seinen besonders geliebten Sohn Crispius wie auch seine ebenfalls geliebte Ehefrau Fausta umbringen lassen´und damit Schuld auf sich geladen. Das war der eine Grund.

Der andere Grund aber war, dass ein Kaiser eines so großen Reiches unbedingt bauen musste. Mit der Umformung des Christentums zur Staatsreligion musste nun eine strahlende, beeindruckende Bauweise entstehen, die den Machtanspruch des Kaisers und zugleich den Machtanspruch der Kirche dokumentieren sollte.

Die von Konstantin beauftragen Baumeister – sie standen vor einer riesigen Aufgabe – fanden schnell das richtige Grundmodell: Die BALILIKA. Die war schon in der vorchristlichen Zeit im ganzen römischen Reich gebaut worden: Ein großes Profangebäude, das sich in ein Hauptschiff und ein oder zwei Seitenschiffe aufgliedert. Das wird im Buch eingehend beschrieben.

Doch: im Konstantinischen Christentum wurde die Basilika zu einem epochal prägenden Typ von Sakaralarchitektur. Hierzu wurde vor die Apsis (also den vorne gelegenen, halbrunden und etwas erhöhten Altarraum) nun aber ein Querschiff gesetzt, so dass der Grundriss die Form eines Kreuzes bildete.

Auch anlässlich des Konzils in Nicea soll Makarios, der Bischof von Jerusalem, Konstantin auf die Idee gebracht haben, am Ort der Kreuzigung und Auferstehung Christi eine große Kirche zu bauen, die dieser dann auch in Auftrag gab. Aber auch von einer fast symbolisch erscheinenden Episode dieses Kirchenbaues wird in diesem Buch berichtet: ” Zunächst musste dafür ein Heiligtum der Liebesgöttin Aphrodite, das Kaiser Hadrian an dieser Stelle hatte errichten lassen, niedergerissen werden. Im Zuge dieser Zerstörungsarbeit fand man ein Grab, in dem man meinte. ‘das hochheilige Denkmal der Auferstehung’ sehen zu können. So schrieb ‘der Sieger Konstantin, der Größte, der Erhabene’ an Makarios, dass wir jenen heiligen Platz (…) durch die Schönheit von Gebäuden ausschmücken. Die Basilika soll besser als die überall stehenden werden. Denn dass der wunderbarste Platz der Welt von Würde erstrahlt, ist berechtigt.”

Claussen beschreibt nun nicht nur Grundriss und Bau dieses gewaltigen Vorhabens sondern merkt auch viele historische Einzelheiten auch über das weitere Schicksal der Grabeskirche an, die Sie nun selber nachlesen müssen. Trotz der vielen technischen Probleme konnte die Kirche zehn Jahre nach dem ursprünglichen Entschluss geweiht werden.

Ebenfalls sehr interessant ist die Schilderung der damaligen Gottesdienste – wie auch von den späteren oftmals gewandelten Gottesdienstformen die Rede ist.

Es setzte zunächst die Klerikalisierung des kirchlichen Lebens ein: Die Priester hielten größeren Abstand von der Gemeinde; sie wurden Autoritätspersonen, was sich auch an ihrer immer aufwändigeren Kleidung ablesen ließ, die an diejenige der kaiserlichen Beamten erinnert. Die Bischöfe wurden nun den höchsten Regierungsbeamten gleichgestellt.

Und wer sich einmal gewundert hat, warum der künstlerische Aufwand in den Kirchen so wichtig wurde, und warum auch das Bild der ursprünglich so einfachen Gestalt Jesu sich in den Kirchen nun zu einer prachtvollen Gestalt gewandelt hat, findet den Schlüssel dazu hier: Das Christusbild näherte sich dem Kaiserbild an – und umgekehrt. (Ich Konstantin, der größte, der Erhabene’) Man sah in ihm, Jesus, nun einen kosmischen Fürsten, den Alleinherrscher dieser und der jenseitigen Welt.

Ich habe Ihnen über die Hinter- und Vordergründe dieser ersten Befreiung des Christentums (und zugleich auch der seiner neuen Instrumentalisierung) hier ausführlicher berichtet, weil man das alles auch am christlichen Kirchenbau durch die Jahrhunderte ablesen kann – wobei einem dieses Buch eine wunderbare Hilfe ist. “Die Basilika, welche das Konstantinische Christentum geschaffen hatte, sollte eines der wichtigsten Grundmodelle des Kirchenbaues werden. Es prägte die christliche Architektur bis in die frühe Neuzeit hinein.”

Ebenso spannend wie aufschlussreich ist das Entstehen der Hagia Sophia, die nach dem schrecklichen Nika-Aufstand (30000 Menschen wurden dabei hingemetzelt) unter Kaiser Justinian (482-565) entstand. Auch er versuchte seinem Reich eine religiöse Legitimität zu geben. Die von ihm gebaute Hagia Sophia in Konstantinopel: “Sie war schlicht ein Weltwunder. Wer sich in ihre Geschichte versenkt, erahnt etwas von der herrlichen Weisheit Gottes, dem ersten Prinzip der Schöpfung und dem eigentlichen Geheimnis der Welt. (…) Die Baugeschichte der Hagia Sophia nachzuerzählen, ist kein leichtes Unterfangen. Denn der erste Bau ist längst verloren. Die heutige Hagia Sophia ist das Ergebnis verschiedenster Rekonstruktionen und Restaurationen. (…) Die Hagia Sophia war etwas epochal Neues. Mit ihr begann plötzlich eine neue Zeit (…)”

Und wieder beginnt Johann Hinrich Claussen zu erzählen, was alles zusammenkam bei dem Bau dessen, was die bedeutendste Kirche der Orthodoxie werden sollte. Nein, hier erliege ich nicht der Versuchung alles zu schildern, was es da im Buch alles zu lesen gibt über diesen Bau, der nicht nur architektonisch sondern auch organisatorisch eine Meisterleistung war, die in nur sechs Jahren vollbracht wurde. Es erwies sich als sinnvoll, das angeheuerte Heer von Arbeitern in zwei Teams von je fünftausend Mann aufzuteilen, die jeweils von fünfzig Meistern angeleitet wurden und die die beiden Seiten des Baus wie in einem Wettstreit hochzogen. Das Revolutionäre der ‘atemberaubend schönen’ Hagia Sophia ist das Einfache, die radikale Konzentration auf eine einzige Idee. Die ist hier die große, zentrale Kuppel. Sie erhebt sich über einem eckigen, fast quadratischen Grundfeld – von der Größe eines heutigen Fußballfeldes; hier lagern sich ihre weiteren Gebäudeteile an. Ein Kranz von Fenstern bildet ihren Fuß, durch den das Sonnenlicht hereinströmt.

Allerdings fehlten an der Hagia Sophia Bilder; statt dessen überzog “reines Gold die ganze Decke (…) was außerdem Justinian in dieser Kirche alles an goldenen, silbernen und aus wertvollen Edelsteinen gefertigten Kostbarkeiten weihte, lässt sich nicht genau aufzählen (…) für das Allerheiligste in der Kirche, das allein Priester betreten dürfen, den sogenannten Opferaltar, sind 40 000 Pfund Silber verwendet.”

Heute, nach einem wechselvollen Schicksal im Laufe der Jahrhunderte ist die Hagia Sophia seit 1934 nur noch ein Museum, in dem keine Gottesdienste mehr gefeiert werden.

Aber interessant und weiterführend ist der Hinweis in diesem Zusammenhang: ” (…) Unter den Osmanen wurde die Hagia Sophia zum neuen Maßstab, nach dem Moscheen gebaut wurden. Die bedeutenden Sakralbauten der neuen Herrscher in Istanbul, die Beyazit-Moschee oder die Suleymanine-Moschee, zeugen davon. (…) Dabei ist die muslimische Moschee ein ganz anderer Architekturtyp als die orthodoxe Kirche.”

In diesem Zusammenhang verweist der Verfasser auf viel Grundlegendes zu der Ikonenmalerei und vielerlei Diskussionen die sich darum ergaben.

Aber eins wird einem nach diesen wenigen Stichworten zum Buch plötzlich klar, was der Autor so zusammenfasst: “So paradox es klingen mag, der Krieg [um weltliche Macht, wie auch die Gestaltung der Sakralbauten] und der Dialog der Religionen hängen enger zusammen, als man meinen sollte.”

Mit dem anschließend beschriebenen DOM ZU SPEYER und der ROMANIK lenkt Claussen unseren Blick auf uns näher liegende Sakralbauten: “Eine Kirche wie ein friedlicher Berg, wie eine feste Burg. Man spürt heute bei ihrem Anblick nichts mehr von den schrecklichen Konflikten, die ihre Baugeschichte prägten und damals die Grundfesten der europäischen Christenheit erschütterten.” Um es gleich zu sagen: Es lohnt sich, mal hinzufahren denn sie ist die größte erhaltene romanische Kirche der Welt. Noch lieber werden Sie hinfahren, wenn Sie in diesem Buch Claussens Bericht über deren Baugeschichte gelesen haben, also schon ziemlich gut vorinformiert sind.

Sie ist sozusagen ein “Nebenprodukt” des Investiturstreits: Damit bezeichnet man den Höhepunkt eines politischen Konfliktes im mittelalterlichen Europa zwischen geistlicher und weltlicher Macht um die Amtseinsetzung von Geistlichen (Investitur). Kirche und Staat hatten sich mittlerweile so gut “befruchtet”, dass es – aus heutiger Sicht unvermeidlich – zur Auseinandersetzung kam, wer wann und wo das Sagen haben sollte. Die Händel dieses Zeitabschnitts will ich hier nicht näher beschreiben; jedoch auf der Fastensynode in Rom 1076 sprach Papst Gregor VII. über König Heinrich IV. , nachdem dieser ihn für abgesetzt erklärt hatte, den Bann aus und befreite all seine Untertanen vom Treueid. Eine Katastrophe!

Allen bekannt ist der Gang nach Canossa von Heinrich IV. Jedesmal führte ihn sein Weg zum Papst über Speyer; er kam nur dann innerlich zur Ruhe, wenn er im dortigen Dom an den Gräbern seiner Vorfahren beten konnte. Es war eine dramatische Wendezeit: Das Verhältnis zwischen Papst und Kaiser wurde grundlegend verändert.Das frühe und hohe Mittelalter hatte eine eigentümliche politische Religiosität: Nach ihr war der König nicht bloß der Inhaber eines weltlichen Amtes, sondern selbst Gegenstand der Verehrung.”

Und so lässt sich auch die hinlänglich bekannte Auseinandersetzung zwischen Heinrich IV. und dem Papst verstehen. Die Hintergründe lesen Sie selbst; es war eine reliogionspolitische Revolution. Zu dem nun nötigen Wiederaufbau gehörte auch die Errichtung von Kirchen.

Claussen beginnt seine Baugeschichte des DOMS ZU SPEYER so: “Einer der größten Sünder der Christentumsgeschichte war zugleich einer ihrer bedeutendsten Bauherren. Er musste büßen wie kein zweiter, schuf aber einen Dom, der alle Vergleiche übersteigen sollte.”

Speyer, damals eine nur kleine Stadt von 500 Einwohnern, wäre bedeutungslos gewesen, hätten nicht die Salier sie zum Mittelpunkt ihres Reiches gemacht; nur so gab es auch Gründe für die Übergröße des von ihnen dort gebauten Doms. Hier wollten sie ihre Macht demonstrieren und zugleich für sich selbst eine letzte Ruhestätte finden. Der DOM ZU SPEYER wurde zweimal gebaut: Speyer I wurde von Heinrich IV großenteils abgerissen und neu und herrlich als SPEYER II wieder aufgebaut. Das Besondere ist die unter dem Altarraum liegende unvergleichlich große, hohe, weite Hallenkrypta,

Eindrucksvoll beschreibt Claussen aber auch das Bedeutende der darüber liegenden Gestaltung: (…) Das Kastenartige [früherer Bauten] verschwindet. Nun erobern die Rundbögen und die Joche, die schon Krypta und Seitenschiffe geprägt hatten, auch das Mittel- und Querschiff. Das Kircheninnere ist nicht mehr ein monotoner Block, sondern aus einer Vielzahl von Segmenten harmonisch zusammengefügt. (…) Wegen der Pfeiler und Bögen müssen die Mauern zudem nicht ganz ausgegossen werden, sondern es eröffnet sich die Möglichkeit, Freiräume und Leerstellen auszusparen und mit großen Fenstern auszufüllen. (..) Sprichwörtlich ist das Runde der Romanik geworden. Es verbindet zweierlei: Schwere und Massivität einerseits sowie Harmonie und Erhabenheit andererseits. “

Noch etwas erfahren wir in diesem Zusammenhang: In dieser Zeit kam es zum Errichten von Kirchtürmen, auf die man bis dahin verzichtet hatte.

Als Beispiel für die Gotik beschreibt Claussen DIE KATHEDRALE VON AMIENS. Er erwähnt die schrecklichen “… Epidemien, Krankheiten, Seuchen und Pestilenzen, die im Mittelalter wüteten. Sie alle führten zu höchst ansteckenden Frömmigkeitsbewegungen: Pilgerscharen und Kreuzfahrerheere, Büßer und Geißler, die Kartharer und Liebhaber der Armut, Ablasskäufer und Reliquienfetischisten, mystische Bruder- und Schwesternschaften, Judenmörder und Ketzerjäger.

Daneben ergab sich aber etwas ganz und gar Erstaunliches: Zeitgenossen, denen dieses Treiben unheimlich war, gaben ihr den Namen ‘morbus aedificandi’ = Kirchenbau-Krankheit Sie nahm im 13. Jahrhundert wahrhaft epidemische Ausmaße an. … Innerhalb von einhundert Jahren wurden im französischen Kronland fast zwanzig riesige Kathedralen gebaut. Im Umkreis von nur 150 Kilometern, also von fünf damaligen Tagesreisen entstanden nicht nur in Paris, Chartes, Rouen (und anderen) … monumentale Sakralbauten.

Und Claussen erklärt auch die jetzt völlig veränderte Motivation zu diesem Bauen: “.. alle Schichten des Volkes scheinen von einer historisch einmaligen Lust am Kirchenbau gepackt worden zu sein. der König und seine Fürsten, die Bischöfe und ihre Domkapitel, die Bürger und das einfache Volk.”

Da kamen in diesem entsetzlichen Zeitabschnitt so viele Motive zusammen: Christliche Frömmigkeit, das Lob Gottes derer, die überlebt hatten, Dankopfer, aber auch Ausdruck einer Bußleistung. All das verlangt nach neuen Formen des Kirchenbaus – die alten reichten nicht mehr aus.

Die Gotik entstand. Im Buch zeigt ein französisches Bild von 1448, wie man in vormodernen Zeiten Kirchen baute. Jedoch kann man an diesem Bild auch nicht andeutungsweise ermessen, was es DAMALS bedeutete, derartige Wunder- und Monumentalbauten zu errichten, deren geniale Konstruktion hier erklärt wird. Bei einer Innenaufnahme der Kathedrale von Amiens schreibt Claussen: “Erhabener kann man nicht bauen. Die Decke ist in lichte Höhen gezogen, die Wände sind aufgelöst zugunsten einer freien, offenen Konstruktion. Eine Architektur von symbolischen Tiefsinn und paradiesischer Eleganz.

“Mehr Licht!” schreibt Claussen und beschreibt das Besondere der neuen gotischen Gestaltungsform: “Die Gotische Auflösung der Wände schuf die einmalige Gelegenheit, das Kircheninnere in einem bisher ungeahnten Maße mit Licht zu füllen. … Doch konnte es nicht allein darum gehen, einfach mehr Helligkeit hineinzulassen. Ziel war es, das Licht als eigenständiges Gestaltungselement einzusetzen. Das musste man es selbst gestalten, also Lichtströme, Lichtfarben und Lichtbilder in die Kirche einbauen. Diese Aufgabe fiel den Fenstern zu. Sie führen die Bilderpredigten fort, welche die Portale mit ihren wunderbaren Reliefs und Skulpturen dem Gottesdienstbesucher vor dem Eintreten in die Kathedrale hielten …”

Damals stehen die Kirchenbauten – anders als heute – mitten im Leben des Volkes. Wie das in der Praxis aussah: “… Es war ganz unmöglich, dass die Kathedrale [mitten im Ortskern des kleinen Amiens] ein Raum der Stille geblieben wäre. … Sie war eher in Jahrmarkt. Hier wurde gehandelt und gefeilscht und weiterverkauft. … wie ein Marktplatz … Noch gab es keine Trennung des Sakralen vom Profanen. … Das Heilige und die Heiligen waren nicht in den Kirchen eingesperrt … sie waren im Alltag allgegenwärtig. Es wurden viele Gottesdienste gefeiert, tags wie nachts. Über die Hälfte des Jahres bestand aus Festtagen …”

Viele Fragen, die man sich vielleicht nie richtig gestellt hat, werden beantwortet und damit doppelt interessant:

Warum sind Taufbecken und Kanzel mal so und mal anders platziert? Wozu dienen Bilder und Altäre? Johann Hinrich Claussen erzählt die Geschichte von neun beispielhaften Kirchen und erklärt so, wie Kirchen funktionieren, sei es für Gebet und Gottesdienst oder als Zufluchtsstätte und politisches Herrschaftszeichen.

Elegant und kurzweilig verknüpft sind dabei Kunstgeschichte, theologische Deutung, Politik und Frömmigkeitsgeschichte – dies lässt nicht nur Gläubige Kirchen mit anderen Augen sehen:

• Die Hauskirche und die Anfänge des Kirchenbaus

• Die Grabeskirche zu Jerusalem und die Basilika

• Die Hagia Sophia und die Kirchen des Ostens

• Der Dom zu Speyer und die Romanik

• Die Kathedrale von Amiens und die Gotik

• Der Petersdom zu Rom und die katholische Kirche

• Die Dresdner Frauenkirche und der protestantische Kirchenbau

• Die Hauptkirche St. Nikolai zu Hamburg und der Historismus

• Die Kathedrale von Brasilia und der moderne Kirchenbau

Man muss nicht besonders christlich oder fromm sein, um bei diesem Buch nicht aufhören können zu lesen. Man erfährt ungemein viel nicht nur über Kunstgeschichte und Architektur, sondern auch sehr viel von den Menschen, Schicksalen, Motiven und Konflikten, die ja immer dahinter stehen, von vielerlei Gründen des Glaubens und von der Entwicklung des Christentums, das ja unsere gesamte Kultur geformt hat – mag man dazu stehen oder nicht.

Obendrein, nochmal sei es wiederholt, ist es eine wirklich wundervolle Lektüre!

Ingeborg Gollwitzer