Nicht nur über ein märchenhaft-heiteres Buch nicht nur über deutsche Sprache und deutsche Geschichte

Grimmes WörterDer neue Grass – diesmal kein Roman, keine Erzählung, kein Theaterstück – sondern ein lust- und kunstvolles Spiel mit Buchstaben und Wörtern …

Bevor sich die “Brüder Grimm” mit Buchstaben und Wörtern beschäftigten, waren sie bereits auf ganz andere Weise – und das bis heute noch – berühmt: Ich vermute (und hoffe) mal, dass bis heute “Grimms Märchen” jedem ein Begriff sind.

Ich selbst habe mir – so glühend ich mir das auch gewünscht habe – die Buchausgabe von Das deutsche Wörterbuch, das mit den Brüdern Grimm im Jahre 1838 begonnen hat und das erst 1961 abgeschlossen wurde, nie leisten können; auch dann nicht, als die 32 Bände dann als Reprint im Deutschen Taschenbuchverlag erschienen. Immerhin konnte ich es in digitaler Form erwerben – aber was ist schon ein solches Wörterbuch, in dem man nicht blättern, in das man keine Anmerkungen und in dem man keine Zettel unterbringen kann – am schönsten sind Buchstaben, Wörter und Sätze immer noch auf Papier …

Das fühlt man auch sofort, wenn man dieses Buch, das dieses Wörterbuch zum Thema hat, in der Hand hält; es ist nicht nur inhaltlich eine Liebeserklärung an die deutsche Sprache,

sondern äußerlich auch eine Liebeserklärung an das schöne Buch – das wohl auch selbst bald der Vergangenheit angehört. Es tut einem schon gut, wenn man es nur aufschlägt: Schon vorher hat der feine Leineneinband sich gut angefühlt – jetzt sind es die Seiten: Papier wählt man u.a. nach seinem Gewicht, das pro Quadratmeter bemessen wird – hier sind es 115 Gramm – es ist spezialgeglättet, holz- und säurefrei und ohne optische Aufheller. Dessen Hersteller, die Papierfabrik Schleipen, hält seit 270 Jahren auf Tradition, bleibt aber immer auf der Höhe der Zeit. Dieses Papier enthält auch einen soliden Teil an Recyclingpapier. (2005 war eben diese Papierfabrik in den Schlagzeilen, weil Joanne K. Rowing ‘tropenwaldfreies’, ökologisch zertifiziertes Papier verlangte: Schleipen konnte es liefern.) Fasst man die Seiten in “Grimms Wörter” an, passiert etwas in den Fingerspitzen; außerdem riecht es gut.

Die Schrift – weder zu groß noch zu klein (und damit genau richtig) entstand aus der Bodoni, jener Schrift, in der seit 1852 bereits das Deutsche Wörterbuch gesetzt wurde. Die Schrift zeichnet sich durch den starken Kontrast zwischen sog. Grund- und Haarstrichen aus: Ein Buchstabe kann an jeder Stelle gleich dick sein, aber er kann eben auch an dünnen Stellen besonders schlank und an dickeren Stellen bewusst kräftig gezeichnet sein. Wer sich einmal selbst mit dem Publizieren eines Schriftstückes oder eines Buches beschäftigt hat, weiß, wie entscheidend die Schriftwahl ist. (Jedenfalls sollte darüber nachgedacht werden!)

Natürlich ist Grimms Wörter fadengeheftet – man muss es beim Lesen nicht auseinanderbrechen und es löst sich – selbst wenn man es täte – nicht in seine Bestandteile auf. (Gelegentlich graust es einen, hat man die kiloschweren, sog. Bestseller einiger (Taschenbuch)Verlage in der Hand. Sie sind wahre Wackersteine, zum Lesen muss man sie aufbrechen – und, obwohl ja angeblich niemand mehr liest – scheinen sie trotz der oft sehr schlechten Typographie wohl in Mengen gelesen zu werden. Aber DIESES Papier, worauf sie gedruckt sind, würde die Leserschaft dieser Bücher nicht mal als Toilettenpapier verwenden. Nun ja, es ist zu vermuten, dass es gerade diese Bücher, gedrucktes “fast-food” zwischen zwei Buchdeckeln, sind, die einmal durch I-Pad oder Ähnliches am ehesten ersetzt werden. Lesekomfort sind diese Leser ja schon lange nicht mehr gewöhnt.

Aber bei Grimms Wörter haben Autor, Verleger und Hersteller wirklich intensiv zusammengearbeitet: Vermutet Grass doch, Grimms Wörter könnte sein letzes sein. Natürlich hat Grass auch diesmal wieder das Umschlag-Cover wie auch die Illustrationen im Buch selbst gemacht.

Und damit kommen wir nun auch dem Inhalt näher. Liest man es unvorbereitet, gefällt einem, was man da so Seite für Seite liest, d.h. es fällt einem der breite, warm-tönende Stil auf. Aber – warum diese Geschichte? Was gehen uns 2010 diese Brüder Grimm und ihr Wörterbuch eigentlich noch an?

Natürlich, es ist irgendwie schön zu erfahren, wer und wie diese Brüder eigentlich waren – gemessen an dem, was sie tatsächlich noch für uns heute Wichtiges – alles geleistet haben. Das Jahr 1837 war für die Brüder Grimm, die ” (…) das Königreich Hannover auf dem Kutschweg über Witzenhausen verlassen würden, um im kurhessischen Nachbarland Asyl zu suchen (…)”.nichts weniger als ein Katastrophenjahr! Und das, was ich Günter Grass etwas übelnehme, wird mit seinen gemächlichen, volltönenden Sätzen einfach zugedeckt, überspült. Beide Brüder, nun schon über fünfzig, gehörten zu den sieben Professoren, die ihren sicheren Standort, ihre Professuren in Göttingen verlassen hatten: Ernst August, der neue König von Hannover, hatte die hart erkämpfte Landesverfassung im Handstreich wieder aufgehoben. Die “Göttinger Sieben” hatten protestiert – wieviel Zivilcourage und wieviel Mut so etwas bedeutet, wenn man eben nicht mehr mal gerade zwanzig ist.. irgendwie vermisst man, dass Grass sich das genauer vorgestellt hat.

Nun ja, wo viel Gefahr – ist viel Rettung auch: Den Brüdern Grimm bescherten(es gibt immer mal wieder ein gütiges Schicksal) (…) im Namen der Weidmannschen Buchhandlung zu Leipzig schlugen die Verleger Reimer und Salomon Hirzel ihm und seinem Bruder handschriftlich vor, ein neues großes Wörterbuch der deutschen Sprache abzufassen, um, wie sich Jacob rückblickend erinnert, ‘die unfreiwillige Muße’ aufzufüllen.” Aber Hirzel wusste genau, WEN er für sein geplantes Wörterbuch der deutschen Sprache eingeladen hatte: Schon vorher war nicht nur Jacob Grimm, der ältere der beiden Brüder durch seine Sammelleidenschaft berühmt geworden. Außer den Märchen gab es da die Deutsche Grammatik: Sie ist gegliedert in Formenlehre, Vokalismus, Lautlehre Wortbildung und Syntax. Grimm begründete damit die historische Sprachforschung. Aber das war noch längst nicht alles; es hier aufzuzählen führt zu weit.

Der Plan für das nun beginnende Wörterbuch der deutschen Sprache : Nun sollte der neuhochdeutsche Sprachschatz vollständig gesammelt und ethymologisch-historisch erläutert werden. Gesammelt wurde – nicht nur von den Brüdern – sondern zahlreichen Helfern, die ebenfalls in Mengen Wörter, Zitate usw. sandten. Alles wurde in Zettelkästen sortiert, kommentiert. Jacob Grimm vollendet den ersten, dritten und einen Teil des vierten Bandes. Wilhelm, der jüngere (er war zarter, oft kränklich – aber er hatte geheiratet und Kinder – und ersetzte so dem Bruder die Familie) bearbeitete nur den zweiten Band. Insgesamt kann man wohl Jakob als den dynamischeren der beiden Brüder bezeichnen, die – obwohl überaus gegensätzlich und dennoch geistesverwandt – tatsächlich in herzlicher Liebe symbiotisch miteinander verbunden waren.. Schade, dass es kaum jemanden von uns gelingen wird, ihre zahlreichen Werke, aber auch die großen Briefwechsel der beiden jemals zu lesen. Es mag einen trösten, dass die Brüder selbst ein ganzes Leben benötigen, um all das zu “hinterlassen” – lebten sie doch noch in einer Zeit ohne Telefon, Computer oder gar Schreibmaschinen.

Die Brüder kamen von A wie Aal bis F wie Furcht. Im April 1849 nimmt Jacob den Buchstaben A in Angriff, arbeitsteilig fängt Wilhelm mit D an. Am 13. 1854 wird der erste Teil des Wörterbuches herausgegeben, er umfasst 1.824 Spalten, und geht von A bis zum Wort Biermolke. 1860 und 1862 erschienen die Bände zwei und drei. Leider kamen die Brüder nur bis zum Buchstaben F – der Reichtum der Sprache, Gründlichkeit und Forschergeist machten ihnen einen Strich durch die Rechnung – und Jacob Grimm stirbt am 20.9.1863 genau bei seiner Arbeit an dem Wort Furcht. Sein Bruder Wilhelm war schon vier Jahre zuvor, am 16.12.1859 verstorben, nachdem er den Buchstaben D beendet hatte. Darf ich daran erinnern: das alles wurde handschriftlich geschaffen!

Sie schufen die umfassendste und größte Quelle für den deutschen Sprachschatz. Selbst heute noch sagt beispielsweise die Dichterin Sarah Kirsch: “Ich surfe nicht im Internet, ich surfe im Grimm.”

Was macht “den Grimm” besonders für Dichter so bedeutungsvoll? Er enthält 500 Jahre gelebte Kultur- und Zeitgeschichte – die etymologische Entwicklung eines Wortes, die Vielfalt und den Wandel seiner Bedeutungen.Man findet dort Wortverwebungen, die man kaum noch kennt. Der Reichtum, den man dort findet, macht viele wehmütig: Sie behaupten, dass unsere Sprache ärmer geworden sei. Auch Grass, der ja mit Wörtern umgeht, als seien sie (zu) behauende Steine, weiß wo er suchen muss, wenn es um adäquate Wörter geht. Auch sein Grimms Wörter kann man, von ihm gelesen, als CD kaufen: Er brauchte dafür neun Leseabende, die dann schon mal zwei bis zweieinhalb Stunden dauern konnten. Er hat diesen Text übrigens nicht im Hör-Studio gelesen, sondern bei sich zu Hause. Wenn man da zuhört, begreift man erst vollständig, warum er sein Buch “Eine Liebeserklärung an die deutsche Sprache” nennt. Es ist eine! Und ich fürchte mal, er wird einer der Letzten sein, der zu einer derart komplexen Sprachgewalt fähig war.

“Ich sehe sie [die Brüder Grimm] als Doppelgespann lebenslänglich vor den stets überladenen Bücherkarren gespannt. Wie sie in Schweinsleder gebundene Schwarten wälzten. Folianten stapeln, Mythen, Sagen, Legenden, verschollenen Manuskripten auf der Spur sind, schon in Marburg als Studenten und später andernorts, wo immer sich Vergessenes abgelagert haben mochte. (…) wortvernarrt Wörter klauben, Silben zählen, die Sprache nach ihrem Herkommen befragen, Lautverschiebungen nachschmecken, verdeckten Doppelsinn entblößen.” Hätte Grass es dabei belassen, den Spuren der Brüder auf diese Weise nicht nur zu folgen, sondern sie wieder auferstehen zu lassen … Hätte er es dabei gelassen, mit Wortspielereien zu den einzelnen Buchstaben zu jonglieren und ihnen auch solche unserer Zeit hinzuzufügen – hätte er es dabei belassen, ihre Gestalten in einer sowohl ihnen angemessen, wie gleichzeitig auch heute durchaus modern anmutenden Sprache zu schildern – Allein wegen dieses sprachlichen Kunststücks wäre dies Buch uneingetrübt begeisterungswürdig gewesen.

Aber es müsste nicht Grass sein, wenn man nicht wieder ein Haar in der Suppe entdeckt. Wenn man ihn auch verstehen kann: Er meint, es sei sein letztes Buch (83 war er ja bereits, als er es schrieb) Was nun in Grimms Wörter eingeblendet wird, ist – sozusagen als Doppelbiographie eingeschoben – seine eigene politische Biographie – als hätte er Sorge, alles von ihm politisch Verfasste, Geredete könne in Vergessenheit geraten. Gleich beim Buchstaben A fallen ihm die Begriffe Asche und Arbeitervertreter ein, was ihn locker zu seinen Wahlkampfreisen 1965 und 1968 hinübergleiten lässt, wie auch zur Anerkennung der Oder-Neisse-Grenze führt und zu seiner plastischen Schilderung seiner Rede in Wanne-Eickel vor Kuchen essenden Bergarbeiterfrauen. Beim E kommt er unweigerlich auf Eid, vor allem jenen, den er 17-jährig auf den Reichsführer der Waffen-SS leisten musste und den er später so gern ungeschehen gemacht hätte.

Aber der Glanz, der von Grimms Wörter zunächst auszugehen scheint, fängt an brüchig zu werden durch diese eingestreuten biographischen Geschosse – mit denen nun ausführlich erinnert an Grass wird: Alte Reden, Essays, Zeitungsartikel (natürlich, Grass legte immer seinen Finger in eine nun deutlich aufscheinende Wunde), seine Zitate aus Problemfeldern seines politischen Lebens: Sitzblockade in Muthlangen, Einwände gegen die schnelle Wiedervereinigung, lange Zitate aus einer Tutzinger Rede.

Man kann Grass verstehen, dass er in der Biographie der Brüder Grimm, der Schilderung ihrer Sprachbesessenheit, die der seinen gleicht, nicht unterlassen kann, in diesem Buch auch etwas von sich selbst einzuflicken – vielleicht, weil er fürchtet, es sei sein letztes, und es könne vieles von ihm vergessen werden, notierte er es in diesem Rahmen sicherheitshalber nochmals erneut.

Hätte er es geschafft, sich auf die Biographie der Brüder zu beschränken, wäre es… Nun ja, es wurde ein echter Grass eben und trotz aller WENN, WÄRE und HÄTTE wunderschön zu lesen.

Ein echter Grass eben – und ich vermute bzw, hoffe mal, dass seine Leserschaft langsam aber ständig steigen wird. Dass irgendwann einmal ein “Hunger nach Sprache” kommen könnte. Warum – mag ein Zitat aus Grimms Wörter zeigen: “Moritz Heyne [ein späterer Bearbeiter] übernahm die Buchstaben H, I, J. Er nannte das H >einen reinen von den ältesten zeiten her<, wies auf das lachende HaHa, erschreckte Hu und erstaunte Aha hin, erhob das I zum >höchsten unter den vokalen< , das kurz in ‘ich’ und bald gedehnt durch ie in viel< lautet. Das J stufte er als Halbvokal ein (…) “

Jetzt lese ich nochmals in den letzten Seiten ein imaginiertes Zwiegespräch mit den Brüdern :

” (…) Ich wiederhole: “Fertig! Es ist fertig!”

“Nichts ist fertig.” Das ist wohl Jacob, der spricht. ohne die starre Pose aufzugeben.

“Nichts wird fertig.” das könnte Wilhelms Beitrag gewesen sein. (…)”

Dabei merke ich, wie nahe mir die beiden unvermerkt gekommen sind; sie haben Fleisch und Blut und leben weiter, wie eine persönliche Bekanntschaft – unsterblich nun in Grimms Wörter aufgehoben.

Auch, wenn man sich hin und wieder über den unverbesserlichen Grass ärgert: Dieses neue (und angeblich) letzte Buch Grass’ – es ist lohnenswerte Lektüre (wobei, wenn man nachforscht, in der Geschichte von “Lohn” sowohl “Gewinn” wie “genießen” aber auch “Beute” vorkommen.)

Ingeborg Gollwitzer