Warum die Welt in anderen Sprachen anders aussieht

Vergessen Sie Sätze (aus Wiki.org.) wie die folgenden, dank derer Sie sich niemals vorstellen könnten, sich für Linguistik auch nur entfernt zu interessieren: “Vergleichende Sprachwissenschaft ist ein Überbegriff für sprachwissenschaftliche Disziplinen, die sich dem Vergleich von Einzelsprachen oder von unterschiedlichen Sprachstufen einer bestimmten Einzelsprache widmen.”

Solche Sprachungetüme können Sie vergessen, wenn Guy Deutscher Ihnen davon erzählt, und das nicht nur kenntnisreich, sondern spannend und sehr oft auch wirklich amüsant. O= Nein, Linguistik ist kein wissenschaftlicher Irrgarten irgendwo in einer kargen Wüste!

Da ist z.B. ein Umstand, der früheren Sprachforschern bereits auffiel und sie umtrieb: Das sind die Farben bei Homer, bzw. jene, die bei ihm NICHT vorkommen! War Homer etwa farbenblind? Ausgerechnet der tiefblaue Himmel ist es bei ihm nie: der ist bestirnt, weit oder groß, eisern oder kupfern … blau ist er nie. Und auch weindunkel war das Meer Homers…

Schon bei seinem letzten Buch (DU JANE, ICH GOETHE – hinter diesem Titel versteckt sich eine wunderbare Geschichte der Sprache) hat Guy Deutscher bewiesen, dass er sein Lebensthema, die Linguistik, darstellen kann, wie kaum ein Zweiter!

‘Ich spreche Spanisch zu Gott, Italienisch zu den Frauen, Französisch zu den Männern und Deutsch zu meinem Pferd.’ Die scherzhafte Vermutung Karls V., dass verschiedene Sprachen nicht in allen Situationen gleich gut zu gebrauchen sind, findet wohl auch heute noch breite Zustimmung.

Doch ist sie aus sprachwissenschaftlicher Sicht haltbar? Sind alle Sprachen gleich komplex, oder ist Sprache ein Spiegel ihrer kulturellen Umgebung – sprechen “primitive” Völker “primitive” Sprachen? Und inwieweit sieht die Welt, wenn sie “durch die Brille” einer anderen Sprache gesehen wird, anders aus?

Gleich zu Anfang dieses Buches lernen Sie einen wahren Helden der frühen Forschung kennen: Den Sehr Ehrenwerten William Ewart Galdstone, der später Premierminister werden sollte. Seine lange Zeit in der Oppostion hat er aber äußerst tätig verbracht: Seit er in Eton zur Schule ging, hatten ihn Ilias und Odysse begleitet; die Dichtungen Homers sind für ihn eine zweite Bibel: Er veröffentlicht 1858 ein monumentales Werk: “In drei dickleibingen, schwergewichtigen Bänden mit mehr als 1700 Seiten (…) ein bescheidenes Kapitel, das sich am Ende des dritten Bandes versteckt findet: ‘Die Wahrnehmung und der Gebrauch der Farbe bei Homer’. Bei der Überprüfung der Ilias und Odyssee hat Gladstone herausgefunden, dass mit Homers Farbsehen etwas nicht in Ordnung ist. (…)” Nun erfahren wir auf höchst amüsante Weise, was diese Forschungsergebnisse Gladstones an Zuspruch aber auch heftiger Kritik weltweit auslösten – aber mit einen unscheinbaren Satz führt uns Guy Deutscher am Ende der Schilderungen, dass nun auch die Farbenblindheit ins Visier der Forscher kam: “Tatsächlich” schreibt Deutscher, “sollten Philologen, Anthropologen und selbst Naturwissenschaftler noch Jahrzehnte brauchen, um sich von diesem Fehler zu befreien – von ihrer Unterschätzung der Macht der Kultur.! ”

Guy Deutscher hat die wunderbare Fähigkeit, seinen Leser, während er von ziemlich faszinierenden weiteren Forscherpersönlichkeiten erfährt, auch gedanklich zunächst ein bißchen auf’s Glatteis zu führen – man ist sich selbst oft ganz sicher, was nun gleich aufgedeckt würde .. und befindet sich tatsächlich auf dem Holzweg. Tatsächlich wird uns in diesem Buch mehr und mehr klargemacht: Es sind nicht physiologische Defekte in früheren Jahrhunderten vorhanden gewesen; vielmehr bestimmt die jeweilige Kultur, in der ein Mensch lebt, auch den Wortschatz, den er verwendet; denn auch bei anderen frühen ‘Griechen’ gab es bei den Farben ziemlich Auffälliges.

Natürlich wird auch das mit den ‘Naturvölkern’ nicht etwa vergessen. Da ist zuerst Hagenbeck, der 1878 eine Gruppe von 30 dunkelhäutigen ‘Wilden’ präsentierte, die eine echte Sehenswürdigkeit für den ‘normalen’ Besucher, aber auch für angesehene Gelehrte waren. Die ‘Nubier’ waren tatsächlich Männer, Frauen und Kinder, die aus dem Sudan herbeitransportiert worden waren; damals waren derartige ‘Völkerschauen” nicht nur in Deutschland regelrecht in Mode. Sie wurden von den Wissenschaftlern mit Messbändern, Linealen und Wollproben untersucht. Eine Sensation! Natürlich wurde auch das Farbsehen (deswegen die Wollproben) untersucht – darüber wurde ja gerade diskutiert.

Aber auch vor Ort, also in der Heimat der ‘Wilden’, versuchten Missionare und Reisende das Farbsehen zu enträtseln. Auf eben diesem Wege führt uns Guy Deutscher- unser Wissen vermehrend – Schritt für Schritt durch die (Ab-) Wege der Wissenschaft und der Wissenschaftler: ihre Irrtümer wie ebenso durch ihre oft bahnbrechenden Erkenntnisse. Und wie war das mit Captain Cook, und wie kam das Känguru zu seinem Namen?

Dass nichts in der Sprache zufällig ist, wird uns aber bewiesen in den Kapiteln, aus denen wir zu begreifen beginnen, dass es dennoch für uns von jenem Zufall abhängt, der bestimmt, in welche Kultur wir hineingeboren werden, wie dann letztlich die Sprache eines bestimmten Individuums ausfällt. Würden nämlich Babys vertauscht und wüchsen in ganz entfernten Kulturen auf, mühelos würden sie sich dort einleben.

So ist das ganze Buch eine aufregende Darstellung der vielen verschiedenen Weisen, in der man Sprache einerseits erforscht hat, wie sie sich eben andererseits darstellt. Dabei gerät die grundlegende Wissenschaft absolut nicht ins Hintertreffen; dafür wird klar, dass immer Menschen dahinter standen und stehen, die Wissenserwerb betrieben haben und betreiben, und dass es oft ganz außerordentliche (gelegentlich skurrile) Persönlichkeiten sind, die ihre Lebensaufgabe hier gefunden haben. Nicht zuletzt dies macht das Buch – so viel man auch quasi nebenher lernt – regelrecht liebenswert.

Ehrlich gesagt, ich bin schon regelrecht gierig auf ein hoffentlich bald nächstes Buch von Guy Deutscher. Denn jedesmal, wenn ich seine beiden vorliegenden Bücher in die Hand nehme, lese ich mich darin fest – immer wieder neu gefesselt weiterlesend, aber auch vergnügt wegen der wundervollen ‘Geschichten’, die er so – immer aber ganz und gar nicht zufällig wieder abschweifend, weil ihm noch etwas einfällt – zu erzählen weiß. Er hat die ganz seltene Gabe, von Unterschieden, die ja tatsächlich in der Menschheit bestanden haben und immer weiter bestehen werden, fast heiter, niemals aber ironisch zu berichten. Sprachen, sie sind sein Leben und für ihn gleichberechtigt, und er tut nicht lieber, als davon zu berichten.

Und… natürlich war Homer nicht farbenblind … Und natürlich sind auch eingeborene Völker absolut in der Lage, alles – sogar Himmelsrichtungen, Farben und alles, was für sie wichtig ist, klar und deutlich auszudrücken. Und natürlich sind auch wir zunächst einmal auf den Wortschatz angewiesen, den wir von Geburt an lernen. Aber ebenso natürlich gibt es Sprachen, in denen sich jede Ortsangabe auf die Stellung der Sonne oder der Sterne oder auf Merkmale der Landschaft bezieht, während wir hingegen ein egozentrisches System benutzen, also von uns ausgehen und ‘vorn’, ‘hinten’, ‘rechts’ oder ‘links’ sagen und regelrecht ungläubig staunen, welch in unseren Augen kompliziertes Orientierungssystem andere spielend und perfekt zu benutzen vermögen.

Vielleicht lernt man aber auch so, zu verstehen, was alles – ganz unabhängig von den Genen – in der Menschheit ‘vererbt’, d.h. weitergegeben und erhalten wird. Es ist ja – so gesehen – fast unheimlich, dass die Menschheit sich, vermittels ihrer Informationssysteme, längst selbst überholt hat.

Also – dies Buch hinterlässt seine Leser durchaus nicht nur gut unterhalten, glänzend informiert, sondern auch nachdenklich zurück – wenn man nämlich anfängt, es weiterzudenken. In sehr vielen Gebieten verstehen wir einander nämlich schon lange nicht mehr.

Ingeborg Gollwitzer