Tagebücher sind immer wieder etwas Wunderbares – besonders, wenn einem die Zeit noch nahe liegt
Vor allem aber: Hier wartet etwas ganz Besonderes auf Sie!
Kaum ist der neueste Band erschienen, gehen sofort – wie bei jedem neuen Buch von Martin Walser – die Meinungen aufeinander los: Die einen meinen meinen zu müssen, es seien eigentlich überhaupt keine richtigen Tagebücher. Es stehe nicht alles ‘drin’. Nun, wer hofft, dass Walser hier – wie Thomas Mann – tagtäglich darin alles, also tatsächlich ALLES -notiert, der kommt nicht auf seine Kosten. Vor allem: Wer generell wissen will, was in den Jahren 1974 – 1978 so alles passiert ist, der kann das vollständiger beim Googeln jederzeit ermitteln. Tagebücher sind eben kein Geschichts-, wohl aber ein Lebens-Geschichten-Kompendium.
Denn wirklich bekommt man einiges ‘spendiert’: Nämlich all das, was Walser sonst noch so notiert hat, was einem andernfalls bedauerlicherweise entginge. Also, da sind beispielsweise Gedichte darin, meist nicht lang, aber oft nicht nur treffend, sondern richtig schöne. Da ist eine handschriftliche Textseite Walsers abgebildet, deretwegen ich seine Frau Käte vorbehaltslos zum Genie erkläre: Denn sie ist es wohl, die das nachher abtippen wird …
Aber da ist noch einiges andere, weswegen sich alle auf diesen Band stürzen, wie die Hunde auf den Wurstzipfel: Denn, was noch im ersten Jahr so ganz harmlos daher kommt, entwickelt sich im nächsten zu einem richtigen Drama:
Obwohl Walser, er ist in diesen Tagebüchern erst Ende Vierzig, mehr oder weniger oft missmutig bzw. melancholisch ist (ich finde, er hätte öfter mal Grund genug, auch so etwas wie Glücksgefühl zu empfinden – aber es kommt, und zwar wunderschön, auch vor) entwickeln sich diese Tagebücher tatsächlich zu einer Art (Überlebens-) Krimi: 1976 nämlich verreisst Marcel Reich-Ranicki Walsers Roman Jenseits der Liebe in Grund und Boden!
Aber, was nun, über unzählbare Seiten hinweg erfolgt, ist große Literatur! Es ist, als höre man einem tödlich Getroffenen, einem um mehr als seine Existenz Zitternden, einem vor Wut und Hass Brüllenden zu … Unwillkürlich erinnert man sich an Kafkas Strafkolonie und wie hier der Gequälte selbst seine immer neuen Torturen beschreibt – das IST Literatur. Jeder Satz treffend! Jedes Gefühl überträgt sich auch sofort auf den, der es liest. Gebannt liest. Sogar dann, als kurz darauf Ein Fliehendes Pferd ein unerwarteter, riesiger Erfolg ist: “Die Novelle wird Anlass zur Entwertung aller früheren Bücher. – Vielleicht war ich bis zur Novelle bei vielen ein abgemeldeter, aufgegebener Autor.” Das Gefühl, vernichtet worden zu sein, bleibt.
Selbst die vielen Lese- und Vortragsreisen – Walser ist gefragt und fleißig! – werden für ihn – den mit dem “Ranicki-Stern” zentnerschwer Gezeichneten, zu einer Art Spießrutenlauf. Natürlich ist jedem halbwegs Gebildeten klar, dass man Ranicki-Rezensionen nicht auf die Goldwaage legen darf; man tut immer gut daran, sie – ob sie gut oder schlecht ausfallen – tunlichst nochmal am Buch selbst zu überprüfen. ABER – gar mancher Rezensent macht es sich auch leicht: man muss ein Buch ja nicht noch unbedingt selbst lesen, wenn man schon einen Text – obendrein noch vom “Literatur-Papst” – vorliegen hat. Und das ist die Krux: Man hat – nicht nur wie hier bei Jenseits der Liebe – oft das Gefühl, der eine oder andere hat das jeweilige Buch eventuell nur quer- oder nur ein paar Probeseiten daraus gelesen. So multipliziert sich sowohl das Gute wie das Schlechte. Und das weiß Walser ganz genau, der nun, Vater von drei Töchtern in der Ausbildung, um seine Existenz zu zittern beginnt. Immerhin ein Trost bleibt: Jenseits der Liebe wurde inzwischen 125000-Mal verkauft!
Ich muss hier mit Walsers Forderung, jeder solle nur die Bücher rezensieren, die er für lesenswert hält, übereinstimmen. Wozu bei einem literarischen Buch ein Verriss? Der wäre nur dann angebracht, wenn es gälte, Schaden vom Leser abzuwenden; alles andere dient, auch in meinen Augen zu nichts anderem, als die “Genialität” des Schreibers zu betonen. Es ist schon schlimm genug, wenn ein Buch überhaupt nicht wahrgenommen wird. (Wenn ich, in einem ganz anderen Bereich, sehe, WER hier worüber schreibt, weiß ich oft schon, bevor ich das gelesen habe, dass hier gleich jemand emsig nach Haaren in der Suppe sucht.) Das nur am Rande.
Ebenfalls sehr interessant sind auch Walsers große Auslandsaufenthalte sowohl in Amerika als auch in Japan. Ich hatte beim Lesen des Tagebuches das Gefühl, dass das Leben selbst Walser etwas von seinem zerstörten Selbstverständnis zurückgibt.
Höchst amüsant sind auch Walsers Vergleiche, was anderen Autoren wofür bezahlt wird, und was er selbst bekommt. Vielleicht aber, dachte ich unwillkürlich, gibt es so eine Art “Autoren-Latein”, denn was andere – dem on-dit nach – an Umsatzprozenten bekommen, erscheint mir in vielen Fällen unrealistisch, wenn man etwas von Verlagskalkulation mitgekriegt hat. Ach, wieviel ist es doch, was einen Dichter, ganz abgesehen von seiner eigentlichen Arbeit, von allen Seiten bedrängt! Vielleicht wird das manchem seiner Leser, der sich vielleicht nur wegen der vielzitierten Ranicki-Passagen darauf gestürzt hat, erstmals wirklich bewusst. Auch das macht das Buch so überaus lesenswert!
Dieser Tagebuch-Band ein ist überdies ein reichgefülltes Literatur-Spectaculum. Wer da alles und wie vorkommt, will ich hier nicht aufzählen; das MUSS man selbst lesen. Etwas korrigieren muss man wohl auch den Unseld-Heiligenschein – Walsers Differenzen mit seinem Verlag sind offensichtlich vorprogrammiert. Obwohl Unselds Ehefrau, als Walser total Ranicki-vernichtet, nicht weiß, wie er sich verhalten soll, versucht, für ihn, vermittels des I-Ging, eine Strategie herauszufinden…
Auch sonst steht mehr als Viel darin. Walser selbst nennt das – und meint wohl damit sein Leben UND Schreiben – so: “Ich knüpfe ununterbrochen an einem Netz, dessen Ausmaße nicht absehbar sind; in keiner Richtung.” Einen Wunsch darf man nicht übersehen: “Ich möchte aus Marmor sein, so verschwiegen. Und wenn sie mich schliffen, glänzte ich. Hart, kühl und unbeweglich möchte ich sein.”
Also, selbst, wer Walser eigentlich nicht mag und natürlich die, die ihn schon immer verehren: Sie alle werden – wie ich – beim Lesen die Zeit vergessen und das überhaupt nicht bedauern.
Bei diesen wahrhaft großen Buch konnte ich mich überraschend kurz fassen!
Ingeborg Gollwitzer
Zum Verfasser: Martin Walser, 1927 in Wasserburg (Bodensee) geboren, lebt heute in Nußdorf (Bodensee). 1957 erhielt er den Hermann-Hesse-Preis, 1962 den Gerhart-Hauptmann-Preis und 1965 den Schiller-Gedächtnis-Förderpreis. 1981 wurde Martin Walser mit dem Georg-Büchner-Preis, 1996 mit dem Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg und 1998, dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels und dem Corine – Internationaler Buchpreis; Ehrenpreis des Bayerischen Ministerpräsidenten 2008 ausgezeichnet.
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