Aus dem Leben eines Muslims in Deutschland
Oder: Warum es im 21. Jahrhundert gilt, die Botschaft des Koran ohne Verlust und ohne Gewalt neu zu überdenken.

Mein Abschied vom Himmel

Zuerst einmal dies: Wer vermutet hat, dass hier ein Insider ein Anti-Islambuch geschrieben hat, der irrt. Aber ich bin im Stillen davon überzeugt, dass dieser selbst-schonungslose Bericht von den ersten 37 Jahren eines Lebens, das in einem Dorf in Ägypten begann, mehr erreichen kann, als die endlosen Islam-Kommentare, mit denen wir täglich konfrontiert werden.

Damit gleich besser verständlich wird, um was es geht, zitiere ich einfach etwas aus den letzten Buchseiten: “Dieses Buch ist weder eine Abrechnung mit meiner Kultur noch ein Aufruf zum Glaubensverlust. Mein Anliegen ist lediglich, die Widersprüche meines Lebens zu verstehen. ‘Abschied vom Himmel’ ist ein Abschied vom Gottesbild, das ich ablehne: ein erhabener, wütender Gott, der nicht nach seinem Handeln gefragt werden darf und dennoch Menschen für ihre Fehltritte bestraft. Ein Patriarch, der nur diktiert, aber nie verhandelt, und die Menschen bis in die intimsten Lebenssituationen mit Geboten und Verboten verfolgt. Dieses Bild erweckte viele Götter in der islamischen Welt, die sich auf den Allmächtigen beziehen und ihn nachahmen: Machthaber, Polizisten, Generäle, Islamismusführer,, Lehrer und Väter, die ohne Fehl und Tadel scheinen und keine anderen Götter neben sich dulden. Ich nahm Abschied von einem Glauben, der Andersdenkende und Andersgläubige schikaniert und die eigenen Anhänger in die Isolation treibt, sodass sie keine Antworten mehr auf das Weltgeschehen außer Wut und Verschwörungstheorien finden. Ein Glauben, der die Kreativität hemmt und die Menschen entweder passiv oder explosiv macht.
Diese Sätze werden wohl viele von uns hoffnungsvoll und erfreut unterschreiben können. ABER:
Vor dreizehn Jahren verließ ich Ägypten mit der Hoffnung, in Freiheit leben zu können. Nun bin ich mitten in Europa auf Polizeischutz angewiesen, weil ich von meinem Recht auf freie Meinung Gebrauch machte. Dennoch sehe ich keinen Anlass zu übertriebener Angst, noch dazu, den Märtyrer zu spielen. Ich bin lediglich Teil eines Konflikts, der mit der Veröffentlichung dieses Buches nicht beginnt und damit nicht enden wird: ein Konflikt zwischen Absolutismus und Ambivalenz; Dogmen und Vernunft; Monokultur und Vielfalt. Dieser Konflikt beschränkt sich allerdings nicht auf den Islam.”

Wenn ich mir überlege, welche Schlagworte mir dazu einfallen, nachdem ich das Buch gelesen habe, sind es: ‘erschreckend’ / ‘wovon wir eigentlich mehr wissen sollten’ / ‘entsetzlich’ / ‘eindrucksvoll’ / ‘schön’ / ‘Eine Autobiographie schon mit 36 Jahren ? Ja, wenn sie so wichtig ist wie diese /

Tatsächlich fängt der Bericht auch gleich erschreckend an: Der letzte Tag Hamed Abdel-Samads in Kairo – das Visum für Deutschland in der Hand: ” Kairo lächelte müde. Wie ausgestreckte Finger richteten sich die Minarette klagend gegen den Himmel und brüllten unaufhörlich den Namen Gottes. Gott selbst aber schweigt und überlässt Kairo seinem Schicksal. Stillstand, Konfusion, Lärm und Smog. ( …) Nur in einem blieb Kairo siegreich: Es besiegte seine Einwohner und begrub sie unter sich.”

Was auch Ihnen beim Lesen dieses Buches auffallen wird, ist die Schönheit und Präzision seiner Sprache. Allerdings lässt sich auch erklären, wo die Wurzeln dafür sind. Aber davon später mehr.

Weiter also mit seinem Aufbruch in ein neues Leben: Er hatte in Kairo Englisch und Französisch studiert, sich aber auch auf Deutschland (erstaunlich gut) vorbereitet: Rilke, Goethe, Hitler, Göring. Ruinen und Wiederaufbau, Geteilt und Wiedervereinigt. Martin Luther, Marx und Mercedes. Made in Germany, Fußballnationalmannschaft. Allerdings: er hatte kein Deutsch gelernt.

Nun in dem aus Kairo aufsteigenden Flugzeug. Befreitsein und Angst zugleich. Rasend entschwand das Land unter ihm: Die Weite des Nildeltas, das Gewaltige des Nil selbst, noch gewaltiger die Wüste – dann nur noch das Meer.

Gelandet, überwältigt ihn erst mal das Grün überall, dann überall andere Farben und Gerüche, Kaffee, Alkohol und Schweiß. Über allem Geruch von Desinfektionsmitteln. 15 ° kälter als in Kairo. – Antonia, vor drei Jahren kennengelernt, Lehrerin, Single, Kinder, 18 Jahre älter als der 23jährige, holte ihn ab und zu sich nach Augsburg. Überstürzte Heirat, von vornherein zum Scheitern verurteilt, aber er hatte seinen Pass.. Vor ihm riesengroß die Frage: Wo bin ich bloß gelandet? Völlig unvorbereitet ergriff ihn die spezifische Einsamkeit des Fremden.

Hamed Abdel-Samad: Im Herzen ein Ägypter – der noch nie etwas anderes gesehen hatte – vor ihm die bundesdeutsche Wirklichkeit, die er sich nach seinen mehr als bruchstückhaften Informationen ganz anders vorgestellt hatte. Er geriet in Gefahr, sich mit anderen anzulegen und versuchte, sich besser einzufügen. ” ‘Was muss man tun, um wie die Deutschen zu sein, außer Wurst essen und Bier trinken? fragte ich Antonia. Beides war mir zuwider.” Deutsch sprechen zu lernen, war das erste Gebot. Der erste Schnee nicht nur faszinierend: er empfand zum ersten Mal in Deutschland Glück. Einem Skiurlaub jedoch folgten eine Bandscheibenvorwölbung und wochenlange schmerzhafte Behandlung und die Frage: “Gibt es irgendetwas Deutsches, das nicht lebensgefährlich ist?”

Hamed Abdel-Samad belegte zwei Deutschkurse, einen in Augsburg und einen in München; es machte ihm Spaß, er war begabt: Nach vier Monaten bestand er den Eignungstest für das Studium. Obwohl Deutsch eine wirklich vertrackte Sprache ist: Wenn Sie dieses Buch lesen, werden Sie merken, wie elegant und fehlerfrei exakt er das auszudrücken vermag, was er sagen will. Beispielsweise sein Bericht seiner ersten Studienzeit, kein Stundenplan wie gewohnt, man war völlig frei. Und er war völlig fremd.

Noch etwas war anders als in Kairo: Komplikationslos zugänig billige Pornos; die ihn unglaublich faszinierten: .. Jedoch: “Warum konnte ich nicht einfach ein ungebundener Siebzehnjähriger sein, der nichts über die islamische Sexualmoral weiß?” Auch traf er keine Denker und Philosophen. Da wurde nicht nach dem Sinn gefragt, sondern nach den Lebenskosten, Freiheit bedeutete Sexualität oder Konsum. Kein Zwang der Gebote, sondern der Angebote. … “die meisten sind gleichgültige Gestalten, die erschreckend wenig über die Welt wissen, obwohl die Deutschen Weltmeister im Reisen sind. Gleichgültigkeit schien sich krebsartig in der satten Gesellschaft breitgemacht zu haben.”

Ist aber diese Betrachtungsweise unserer Gegenwart nur typisch für einen jungen Menschen, der gerade aus Ägypten zu uns gekommen ist? Ist es nicht überhaupt das Erschrecken eines jungen, intelligenten Menschen auch unserer Kultur, wenn er aus dem mehr oder weniger sicheren Rahmen: Kindheit, Elternhaus, Schule entlassen wird, und erst erschrocken, später oft wütend oder gar aggressiv wird, wenn er so vieles, was man ihm als ‘Gutmenschsein’ eingetrichert hat, in der Realität völlig anders vorfindet? In meinen Augen sind es viel zu viele, die sich schließlich daran gewöhnen; anderen läuft es wenigstens lebenslang eiskalt über den Rücken, wenn sie dem im weitesten Sinne politischen Treiben in aller Welt zuschauen müssen. Wissen – aber Schweigen als Lebensgrundlage? Reden und Handeln kann Existenzen zerstören.

Über 60 Seiten berichtet Hamed Abdel-Samat darüber, was er in jenem Land vorfand, von dem er angenommen hatte, dass dort – bildlich gesprochen – Milch und Honig fließe. Nach zwei Jahren besuchte er seine Familie. In der kurzen Zeit hatte sich in seinem Dorf einiges verändert: “Viele Frauen gingen nun verhüllt, es gab Satellitenanlagen, Handygeschäfte, Internetcafés und unzählige Müllhaufen an den Straßenrändern. Die letzten malerischen Ziegellehmhäuser waren aus dem Stadtbild verschwunden und durch Betonhäuser ersetzt worden. Bald verdient dieser Ort die Bezeichnung ‘Dorf’ nicht mehr, die sich in Ägypten nicht nach Größe oder Einwohnerzahl richtet, sondern nach der Infrastruktur.”

Als er nach nur zwei Jahren heimkommt, hatte sich aber noch etwas anderes verändert. Er wurde der ‘Deutsche’, weil er emotionslos und sachlich war. Er ist entsetzt, als seine Schwester ihre achtjährige Tochter beschneiden lassen will; das was einst ihr geschah, könne sie doch nicht vergessen haben. Junge Männer aus seinem Dorf sprachen ihn an: sie wollten auch nach Europa auswandern; sie sahen ihn ungläubig an, als er sagte, er arbeite in einer Autowaschanschlage, um sein Studium zu verdienen. Er erlebte, wie leicht in seiner Heimat die Leute betrogen werden konnten und ihre Ersparnisse einbüßten. Die Geschichte von dem Taxifahrer, den ein steinalt wirkende Mann ansprach, illustriert das. Der Taxifahrer, dem eingeredet worden war, dass Gott ihn ins Paradies schicken würde, er müsse nur noch einmal in die Moschee gehen und beten. Er wartete in der Moschee betend auf den Todesengel – erst als es Tag wurde ging er hinaus. Der Todesengel war nicht gekommen – aber sein Auto war weg.

Nun aber möchte ich zu dem Teil des Buches kommen, bei dessen Lektüre ich erschrak: Mir wurde klar, wie man noch vor wenigen Jahren – vielleicht oft auch noch heute – in einem Dorf in Ägypten lebte. Gerade das ist etwas, wovon kaum einer von uns wirklich etwas weiß; dennoch ist es mehr als wichtig für die Auseinandersetzung Hamed Abdel-Samads mit seiner Religion, wie auch für unsere Einstellung zum Islam. Es ist die immer wiederkehrende, jedoch nicht ausreichend oft genug gestellte Frage: Wie wollen wir einander verstehen und auch – achten, wenn wir nichts voneinander wissen?

Beim sehr lebendigen Bericht seiner Kindheit kam es mir vor, als würden mir Menschen wie in der ‘Steinzeit’ – also in sehr, sehr fernen Zeiten – geschildert; sie erschienen mir wie von Lehm überzogen und ständig von feinem Sand überweht. Ein eintöniges Dorf im Nirgendwo nennt er es. Als seine Eltern heirateten, war seine gebildete Mutter seinem Vater zuliebe, der bereits eine Frau hatte, aus Kairo dorthin gefolgt. Als sie mit Hamed schwanger war, hatte, von den drei bisher geborenen Kindern, nur eine Tochter überlebt. “Die Frau wird von der Familie des Ehemannes immer unter Druck gesetzt, bis sie einen Sohn gebärt, der die Linie der Familie fortsetzen kann.” So war ihre Erleichterung groß, dass Hamed ein Junge war – der übrigens den Namen seines verstorbenen Bruders bekam. Ein Glück für ihn: der dritte von zwei bereits verstorbenen Söhnen bekommt oft einen hässlichen Namen. Hamed bedeutet ‘dankbar; ein arabischer Name. “Sie [seine Mutter] musste mit meinem Vater, seiner ersten Frau, seinem Sohn [aus erster Ehe], seiner Mutter und zwei seiner Brüder samt Familien in einem großen Haus leben, ohne fließendes Wasser und Strom. Weit und breit gab es keinen Arzt, keine Einkaufsmöglichkeiten und keine andere Unterhaltung, als das Getratsche der Frauen.”

Hameds Mutter ‘Saadah’ = Freude, überredete ihren Mann, seine erste Frau zu verstoßen, ihr ein neues Haus aus Stein zu bauen, ein Auto zu kaufen und eine Dienerin einzustellen. Aus Liebe zu ihr – obwohl soetwas im Dorf als Schande galt – verkaufte Hameds Vater Land, um ihre Wünsche zu erfüllen. Aber auch das Schicksal der verstoßenen Ehefrau zeigt etwas von der Wirklichkeit des Dorfes: denn das geschieht dort bis heute auch jungen Frauen, die einmal verheiratet waren. Sie heiratete einen alten Mann, eigentlich war sie nur noch Krankenschwester; ihren Sohn durfte sie nicht mitnehmen. “‘Die Jungfräulichkeit einer Frau ist wie ein Streichholz: Es brennt nur einmal’ – sagt man in Ägypten. Eine geschiedene Frau hat keine andere Chance, außer eine Versorgungsehe zu schließen. Es ist ein Glück, dass diese jungen Frauen an Gott glauben und sich sicher sind, dass das, was ihnen geschieht, der Wille Gottes ist.

Auf die Rolle der Frau im Islam kommt Hamed Abdel-Samad immer wieder zu sprechen. Sie beschäftigt ihn bis heute. Je mehr er davon, von Kindheit an, in der Realität erlebt, umso mehr fällt sie ihm zunächst nur auf, später verwirrt und empört sie ihn. “Eine der schrecklichsten Erinnerungen meiner Kindheit war der Anblick meiner Mutter, die vor den Füßen meines Vaters kniete. Sie schützte nur ihr Gesicht und ließ sich von ihm mit Füßen und Händen schlagen. Sie unterdrückte ihre Schreie, um ihn nicht zu provozieren und stand schweigend auf, nachdem er genug hatte.”

Das Ausmaß der Leidensfähigkeit der Ägyterinnen ist enorm. Was mit westlichen Augen gesehen brutal erscheint, ist aus der Sicht des ägyptischen Systems menschlich – was nicht mit human gleichzusetzen ist. Vor allem sind es Konventionen, die von Männern gemacht worden sind. Unterdrückt werden die Frauen aber nicht nur von ihren Männern, sondern erstaunlicherweise von den älteren – Frauen, den Großmüttern, den Schwiegermüttern. Auch Sameds Vater, ein gebildeter Mann, hatte sich seiner Mutter zu fügen. Unterdrückung ist eine festgelegte Hierarchie: Der Staat unterdrückt die Menschen, Männer unterdrücken ihre Frauen, Frauen unterdrücken ihre Schwiegertöchter und die eigenen Kinder. Den Kindern bleiben nur noch kleinere Kinder und Tiere übrig.

Doch inmitten von ‘Lehm und Wüstensand’ beschreibt Hamed etwas unerwartet Leuchtendes: “Trotz der Brutalität des Alltags überraschen mich meine Landsleute immer wieder mit ihrem Lächeln, das aus dem Herzen kommt, als würden sie in einer anderen Welt leben. Ich weiß nicht, ob sie das tun, weil sie an Gott glauben und auf Belohnung nach dem Tode warten. Ich denke eher, dass Optimismus und Humor die einzigen Waffen sind, die sie gegen das Elend und die Grausamkeit des täglichen Lebens besitzen.”

Hameds Vater ist der Imam des Dorfes, also eine hochgestellte Persönlichkeit. “Ich kann jenen Tag nicht vergessen, an dem Tausende von Mitmenschen sich vor meinem Vater niederwarfen, während er souverän auf der Kanzel der Moschee stehen blieb und regungslos auf sie herabschaute. (…) Niemand in unseren Zwanzigtausend-Seelen-Dorf konnte die Massen so begeistern wie er. Keiner wusste so viel über die Menschen, ihre Geheimnisse, Ängste, ja, sogar Träume. Er war nicht nur der Imam, sondern auch der Richter, Arzt und Traumdeuter. Für all das lieben ihn die Leute und respektieren ihn …”

Weil Hamed ein gutes Gedächtnis hatte, fing sein Vater an, seinem Sohn bereits mit drei Jahren Lesen Schreiben und Rechnen beizubringen. Ohne ein einziges Wort davon zu verstehen, lernte er bereits mit vier Jahren die ersten Kapitel des Koran auswendig. Den ganzen Koran sollte er auswendig können, wenn er zwölf Jahre alt war. (Dieses frühe Lernen wird ihm später immer wieder enorm nützlich sein; auch Sprachen, z.B. lernt er erstaunlich schnell.) Rückblickend schreibt er: “Es war eine Freude, neue Passagen aus dem Koran zu lernen. Es bleibt und ist für mich das schönste Buch der Welt. Keine Sprache ist so überwältigend, keine Musik berührt meine Ohren wie der Klang seiner Worte: ‘Gott ist das Licht von Himmel und Erde’ (…)”

Aber dann kam, als Hamed – in einer feierlichen Zeremonie, wie ein kleiner Prinz gekleidet – ‘erwachsen’ werden sollte. Das Haus war voller, lauttönender Gäste, Meister Fahti, der Krankenpfleger im Ort war ebenfalls anwesend. Der kleine Hamed wusste gar nicht, wie ihm geschah: Er wurde beschnitten. Danach ging Meister Fahti ins Nebenzimmer, woher ein lauter Schrei zu hören war: auch Hameds achtjährige Schwester war ebenfalls beschnitten worden. Nicht nur das grausame Geschehen wird geschildert, sondern auch die Gedanken, die dem verständiger werdenden Hamed dazu kamen: “Wer gibt einem Mann das Recht, einer Frau das anzutun? … Doch was ist so teuflisch an einer Klitoris, dass man sie unbedingt weghaben will? … Die Fragen wuchsen immer aus großen Ereignissen, aber die Antwort lag im System. Ein System, das davon ausging, dass die Leidensfähigkeit der Frau größer ist als die der Männer. “

Viele Geschichten aus dem Dorfleben werden erzählt – alles erscheint uns so fern und man fragt sich immer wieder, warum man so wenig von diesem Teil der Welt weiß. Es ist wie auf einem anderen Stern oder fern wie die ‘Steinzeit’. Immer wieder aber, während er davon erzählt, ergeben sich für Hamed Gebirge von Fragen, die letztlich nicht beantwortbar sind. Aber sie schmerzen.

Mit vier Jahren bettelte Hamad solange, bis er nach Kairo zu seinem Großvater nach Kairo durfte und dort in den Kindergarten gehen. (…) wie ist es möglich, einen Tag mit wenigen Worten zusammenzufassen, der zum wichtigsten Tag eines ganzen Lebens wurde. Das Kind in mir muss mit meiner nunmehr erwachsenen Stimme sprechen. Es ist nicht nur die Geschichte von damals, sondern auch die meiner Angst, der Enttäuschung und der Hilflosigkeit von heute. (…)” Mit diesen Worten beginnt das Kapitel, das mit GOTT, DER ALLMÄCHTIGE SCHWIEG überschrieben ist, und in dem von einer grausamen Vergewaltigung des kleinen Kindes durch einen Automechanikerlehrling berichtet wird. Ich vermute, eine solche Vergewaltigung und deren Folgen ist noch nie so minutiös beschrieben worden. Auch verschweigt er nicht, wie er selbst anschließend begann, grausam zu werden. Nicht genug damit: Als er elf Jahre alt war, wurde er nochmals, diesmal von sechs Schulkameraden, alle über 13 Jahre alt, nacheinander vergewaltigt. Damit war endgültig die Grundlage für eine lebenslange Angst gelegt.

Schulzeit und Abitur überspringe ich hier – wie geht es im Buch nun in Deutschland weiter? Dieses Hinein- und Zusammenwachsen mit einen so ganz anderen Land war schmerzvoll wie eine Geburt, angefüllt mit dem Gefühl der Verunsicherung und der moralischen Desorientierung. Trotz der Bemühung, deutscher als die Deutschen zu sein, war seine Hoffnung naiv, zu erwarten anerkannt zu werden. Angst, Entwurzelung waren seine Gefühle, plötzliche Wutausbrüche entsetzten ihn selbst. Seitenlang liest man seinen auch hier selbst-schonunglosen Bericht seiner Ein- und Überlebensversuche. Es kam, wie es kommen musste: er brach zusammen, begann, sich jeden Tag zu geißeln und litt zunehmend an Amnesie. Auch Antonia, mit der er noch zusammen war, konnte ihm nicht helfen

Das wurde nun von einer mehrwöchigen, stationären psychologischen Behandlung erhofft. Jedoch die tiefenpsychologische Behandlung empfand er als Vergewaltigung seiner Seele und machte ihn aggressiv. Für mich sind diese, wieder selbst- schonungslosen Berichte ein weiterer, wesentlicher Bestandteil des Buches. Nicht nur, dass er erkennt, was er erlebt: “In seochen Entsorgungskliniken werden die Menschen weggesperrt, um die scheinbare deutsche Idylle nicht zu trüben. Die heile Welt will ihren eigenen Müll nicht sehen. .. niemand behandelte mich als Menschen. Ich war für sie wie ein wildes Tier, das man ruhigspritzte” (Ach, und dabei wusste Hamed nichts davon, wie es nur wenige Jahrzehnte zuvor, ohne die modernen Neuroleptika, in den psychiatrischen Krankenhäusern zuging.) Jedoch sind auch heute Schilderungen von Erlebnissen in diesen Deponien beschädigter Menschen, wie wir sie hier finden, etwas mehr als Bedrückendes. Es gäbe so viele ‘Fronten’, an denen man ‘kämpfen’ möchte.

Noch ein Gedanke an seine Vergangenheit bewegt ihn rückblickend auf diesen Abschnitt seines Lebens: ” Nur ein einziger Kommilitone wagte den Weg zu mir [in die Klinik]: Er gab mir den Koran und sagte: ‘Deine Heilung liegt nicht in diesem Krankenhaus, sondern in den Wurzeln, von denen Du Dich entfernt hast. Er rezitierte aus dem Koran: ‘und seid ihr nicht die diejenigen, die Gott vergaßen, dann ließ Gott sie sich selbst vergessen’. (…) Nicht der Text des Korans, sondern die bloße Rezitation und die Musik der Sprache beruhigten mich. (…) Mir wurde klar, dass ich mich sowohl von der Religion als auch von der Angst, nicht-religiös zu werden, befreien musste. Ich sollte weder für noch gegen die Religion sein. Vielleicht war da der wahre Dschihad.” Nach dieser Zeit hatte er mehr als zwanzig Kilogramm verloren und sah aus wie ein Geist.

In die `Normalität’ zurückentlassen, arbeitete er zunächst in einer Autowaschanlage, um sein Studium zu finanzieren. Über einen Versuch, vermittels Meditationstechniken etwas besser mit sich selbst zurechtzukommen, führte ihn sein Weg nach Japan. Er studierte Japanisch und besuchte Seminare in Politikwissenschaft und Jura. Er finanzierte dies durch Kellnern und als Englisch- und Deutschlehrer. Sein knapper Bericht über sein Erleben Japans ist anschaulich und aufschlussreich – aber: “Ich ertappte mich dabei, die Deutschen zu vermissen.” Jedoch hatte sein Japan-Aufenthalt wohl einen weiteren, lebensentscheidenden tieferen Grund: Er, der mittlerweile zu der Überzeugung gekommen war, niemals lieben zu können, fand die Liebe seines Lebens.

DEUTSCHLAND, MEIN SCHICKSAL ist der sechste und letzte Teil seines Lebensberichtes überschrieben. Hier nahm er sein Studium wieder auf und war auch nicht mehr so isoliert wie damals, als er frisch aus Ägypten hier eintraf. Weiterhin stehen in ihm sowohl seine Herkunft, seine Träume und die bundesrepublikanische Realität miteinander im Widerstreit. Letzlich ist er dazu bestimmt, in irgendeiner Weise einen sicheren, inneren Standort zu finden. Der 11. September ist auch für ihn nichts anderes als eine riesige Katastrophe, deren Folgen unabsehbar sein werden. In den Biographien der Attentäter entdeckte er Parallelen mit der eigenen. “Ich stellte mir die Frage, warum die Attentäter diesen Weg gewählt hatten und warum ich kein Terrorist geworden war, obwohl ich ähnliche Spannungszustände wie sie erlebt hatte. (…) Mir war unbegreiflich, warum dieses sinnlose Töten von Menschen als gottgewollt angesehen wurde, und warum Menschen [am Beispiel eines arabischen Studienkollegen] solch wahnwitziger Brutalität zujubeln.”

Für Hamed Abdel-Samad zeichnet sich fortan ein neuer Lebensabschnitt ab. Er, der nun beide Seiten kennt, und sowohl an der einen wie an der anderen zu zerbrechen drohte, versucht, die Gründe, den Ursprüngen von so viel gegenseitigen Unkenntnissen und Missverständnissen, den modernen Möglichkeiten von Wissenserwerb und sachlicher Diskussion entgegenzusetzen. Es ist im Grunde schrecklich, zu denken, was alles in seiner Zukunft noch möglich ist: Es reicht ein weiter Bogen von der Ermordung, zum Helden oder im Abdriften in die Vergessenheit. Sein Buch aber hat nicht nur eine Diskussion in Gang gesetzt.

Und der derzeitige Stand dieses wechselvollen Lebens?: Hamed Abdel-Samad, geboren 1972 in einem ägyptischen Dorf, studierte Englisch und Französisch in Kairo, Politikwissenschaft in Augsburg und Japanisch an der Universität Kwansei Gakuin in Japan. 2003 war er für die UNESCO in Genf tätig, von 2004 bis 2007 am Lehrstuhl für Islamwissenschaft der Universität Erfurt. Von 2006 bis 2008 arbeitete er am Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung. Seit Oktober 2008 forscht und lehrt er zur Geschichte der Juden in der islamischen Welt an der Abteilung für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität München; verheiratet ist er mit seiner japanischen Frau, der großen Liebe seines Lebens. Leider aber, aufgrund seiner Kritik an der islamischen Welt, heute unter Polizeischutz.

Nicht unerwähnt darf aber bleiben, dass es in diesem Lebensbericht nicht ausschließlich um religiöse Auseinandersetzungen geht. Es sind auch ganz andere, sprachlich wunderschöne Abschnitte darin, in denen etwas vom farbigen Glanz seiner Muttersprache durchscheint.

Ein Facit bleibt im Leser zurück: Wie wenig wissen wir doch – voneinander – noch jetzt, wo die Welt so klein geworden ist! Man sagt es oft so leicht dahin: Die Welt muss sich ändern. Sie ist – bildlich gesprochen – so klein geworden, dass man sie, auf einer Hand haltend, betrachten kann. Von Ferne ist sie ein wunderschöner Planet – der wird sich – von Ferne gesehen – niemals ändern.

Aus der Nähe jedoch sehen wir übergroß die Frage: Es leben darauf so viele Menschen wie nie zuvor; wir haben – wenigstens teilweise – begriffen, dass auch solche, mit anderer Hautfarbe, Menschen sind wie wir. Das Schlagwort ‘Ökologie’ hat nahezu jeder zumindest gehört. Wann aber lernen wir endlich, dass auch das Zusammenleben der Menschen – ohne Rücksicht auf Religion, Herkunft und Hautfarbe -etwas mit Ökologie zu tun hat? Dass jeder Mensch – ohne Rücksicht auf Herkunft, Religion und Hautfarbe – etwas wie ein Planet für sich ist, den wir, gebührenden Abstand haltend, (betr)achten und als einen von uns, ebenfalls Planeten für sich, gelten lassen. Nur so können die Menschen, auf unserem übervölkerten Erdball, überleben.

Religionen – ganz gleich welche- sind seit Menschengedenken Organisationen gegen die Angst; verhindern wir, dass sie, sich ins Gegenteil verkehrend, Angst erzeugen. Auch die Angst des anderen – gleich welcher Organisation – zu erkennen, auch die des Hungers, die sich zu organisieren droht. Bereits im Alten Testament – dem Islam gar nicht so fern – ist eine Urzeitmythe aufgenommen: Kain, einer der beiden Söhne des ersten Menchenpaares, erschlägt seinen Bruder Abel; die Frage Gottes beantwortet er frech mit der Frage: Soll ich meines Bruders Hüter sein? Zu unserer Verwunderung erfolgt die Strafe Gottes nicht sofort, sondern, aber sicher, erst sehr viel später. Alle Menschen, wo auch immer sie leben, waren und sind auf merkwürdige Weise miteinander verwandt; man erkennt es – außer an dem weltweit überall gleichen Lächeln, Lachen und Weinen – wenn man nach Zusammenlebensformen sucht. Dabei darf man nicht vergessen, außer der Ökologie des Klimas und der Arten, dringend auch eine Ökologie des Menschen einzubeziehen. Wir haben ein ‘von Totalitarismus verwüstetes Jahrhundert’ hinter uns: ist ein Jahrhundert nicht mehr als genug?

Ingeborg Gollwitzer

PS.: Bereits der 1874 geborene Schriftsteller W. Sommerset Maugham hat das gerade heute wieder zugrundeliegende Problem sehr einfach und noch immer gültig ausgedrückt: “Das Interesse des einfachen Mannes an der Philosophie [bzw. Religion und/oder einer kulturübergreifenden Ethik der Politik] ist praktischer Natur. Er will wissen, worin der Sinn des Lebens besteht, wie er leben soll und welche Bedeutung für ihn das Universum hat. Wenn Philosophen sich zurückhalten und nicht einmal versuchsweise Antworten auf diese Fragen geben, drücken sie sich vor ihrer Verantwortung.”
[Einfügung und Fettdruck von mir.]

… und eine Stimme aus der Gegenwart:
“Es ist höchste Zeit, die Voraussetzungen für den kollektiven Entwurf einer sozialen Utopie zu schaffen, die in gemeinsamen historischen Traditionen und zivilisatorischen Werten wurzelt..” Pierre Félix Bourdieu