Dass es so etwas in unserer Lebenszeit, d.h. nachdem bei uns in Deutschland der Friede, wenn auch langsam und mühsam, einkehrte heute noch gibt – es ist uns unvorstellbar. Rumänien am Ende des Krieges. Der Bericht beginnt: “Es war 3 Uhr in der Nacht zum 15. Januar 1945, als die Patrouille mich holte. Die Kälte zog an, es waren minus 15°. Wenn er nach fünf Jahren zurückkehrt, wird Leo Auberg nicht mehr derselbe sein. Die Lagererfahrungen verfolgen ihn bis in die Träume: Das Ticken der Uhr wird zur ATEMSCHAUKEL
Anhand seines Lebens erzählt Herta Müller von dem Schicksal der deutschen Bevölkerung in Siebenbürgen. (Lange war die Deportation der 80.000 Rumäniendeutschen ein Tabu!) In Gesprächen mit dem bedeutenden Lyriker Oskar Pastior und anderen Überlebenden hat sie den Stoff gesammelt, den sie nun zu einem großen neuen Roman geformt hat. Ihr gelingt es, die Verfolgung Rumäniendeutscher unter Stalin in einer zutiefst individuellen Geschichte sichtbar zu machen. Ursprünglich hatte Herta Mü+ller das Buch gemeinsam mit Oskar Patior schreiben wollen; erst ein Jahr nach seinem Tod war ihr der Entschluss möglich, dies Buch nun allein zu schreiben.
Beim Lesen werden auch Sie es bald merken: Die Sprache in diesem Buch hat einen ganz besonderen Klang und Rhythmus! Aber es wird auch zu einem quälenden Erlebnis, in diese Leiden der Rumäniendeutschen mitten hinein versetzt zu werden,erleben, wovon wohl niemand von uns etwas Genaues wusste.
Ich möchte hier Mircea Cartarescu, Jahrgang 1956, (Herta Müller ist Jahrgang 1953 )zu Wort kommen lassen; er zählt heute zu den wichtigsten rumänischen Autoren.
” ( … ) Herta spricht Rumänisch wie ich. Sie ist geprägt von der rumänischen Sprache, Literatur und Kultur. Sie war besessen von den poetischen Ausdrücken in der rumänischen Alltagssprache. Sie benutzt und entwickelt sie in so vielen ihrer Erzählungen. Alles, das sie geschrieben hat, spielt in Rumänien, ein Land, das sie liebt und hasst, ein Land, das, auch wo es sie verletzte (und es hinterließ tiefe Narben in ihrem Gehirn), teil ihres lebendigen Gedächtnisses ist. Es gehört zu ihr mindestens so sehr, wie Deutschland zu ihr gehört. Die so barocke wie kriminelle Diktatur Rumäniens machte aus ihr, was sie heute ist. Sie steckte ihr mitten ins Gehirn das Sandkorn, das die Perle produzierte.
Das Werk Herta Müllers ist tatsächlich das Produkt einer intensiven Obsession, eines einmaligen, paranoiden Terrors davor, gejagt, verdächtigt, verfolgt zu werden und gegen einen in alles eindringenden, unfassbaren Feind kämpfen zu müssen, der sie verwunden und verfälschen will. Es ist eine kafkaeske Welt. Aber das erklärt nicht ihren Stil, der die andere Seite ihres Schreibens ist. Ihr Stil ist der eines Dichters oder eines Malers mit surrealistischen Wurzeln, vielleicht eine Frida Kahlo. Das scheint Herta Müllers erste Berufung gewesen zu sein. Wir können nur darüber spekulieren, wie Herta Müllers Werk ausgesehen hätte, wenn Rumänien Teil der freien Welt gewesen wäre.
Der Nobelpreis ehrt Herta Müller ganz und gar verdient, aber er ehrt auch Deutschland. Weil der deutsche Staat und die deutsche Kultur weise genug waren, sie zu entdecken, als sie nichts als eine einfache Immigrantin war, weil sie Großzügigkeit besaßen, sie zu bewundern, als sie ihre Bücher veröffentlichte und den Glauben, der sie dorthin trieb, wo sie nun ist. Das heißt: Wo sie immer schon war. ( … )”
[Von Ingeborg Gollwitzer]
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