Bemerkungen zu einem einzigartigen nicht nur literarischen Zeit- & Lebensbild –
“Dies ist er endlich, der große Gesellschaftsroman der Bundesrepublik!”
sagte Frank Schirrmacher von der FAZ. “Ein Buch wie dieses hat es noch nicht gegeben.”
Zu diesen TAGEBÜCHERN: Welch andere Perspektive im gleichen Zeitabschnitt, der ja auch meine Zeit [als Buchhändler] war. Jedoch so unterschiedlich wie beispielsweise die von Frosch oder Schildkröte und Graugans im gleichen Biotop. Wir genüglich „da unten“, hinnehmend das, was da „von oben“, von der Raddatz-Etage auf uns herniederfiel und zu verarbeiten war.
“Die” da oben: Die Verleger, die Zeitungsleute, und dazwischen FJR hin und herfliegend, streitend und – saufend. (Etwa ab Seite 500 habe ich bedauert, das Wort CHAMPAGNER nicht mitgestrichelt zu haben.) Unsere Getränke im gleichen Zeitraum waren Wasser, Bier und gelegentlich Wein.
Dies TAGEBUCH hat so viele Facetten: Würde man sie herausschneiden und sortieren, würde man auf höchst unterschiedliche Gesteinsarten kommen: Da sind die ganz weichen und nahezu zärtlichen: Die Landschaftsschilderungen, wie auch die Berichte von der Schwester. Sortierte man sie weiter, ergibt sich ein buntes Panorama: Momentaufnahmen von Günter Grass, Tucholsky [wohl das Hauptthema seines Lebens], Paul Wunderlich, Hubert Fichte, Enzensberger, vom hass-geliebten Augstein, der „Gräfin“ von der ZEIT, Günter Gaus, Rolf Hochhuth, Uwe Johnson, Ledig, Hans Mayer, Peter Rühmkorf, – ach, und wie sie alle heißen – ganz merkwürdige, sur-REALISTISCHE Portraits, würde man sie nach der Schilderung in diesen Tagebüchern malen.
Und dann FJR selbst. Ein seltsamer “Vogel”, der nie begriff, dass er eine Graugans war, und haderte täglich mit seinem Schicksal, und doch KONNTE er fliegen, er flog, ohne es zu begreifen, „seine Route“, die ihm wohl vorgeschrieben war; warum, er weiß es nicht. Aber er leidet. Er ist einsam und verletzlich, und es wirkt geradezu komisch, wenn er, kerngesund, noch nicht einmal sechzig, ständig über seinen demnächst unzweifelhaft bevorstehenden Tod nachdenkt. Er, der weiß, wieviele Fäden er in seinen Händen hält, empfindet sich als der ewig Übersehene. Sein Sechzigster z.B. ein Trauerspiel, an dem– “man” – d.h. die vielen, der die vielen und die ihn kannten,ihn hätten überschütten müssen –
Ach, in den Lesepausen dieser TAGEBÜCHER … alles selbst miterlebt, auf der Schildkröten-Ebene – in fast 1000 Seiten steigt alles in meiner Erinnerung ebenfalls auf. Aber FJR hat das alles GESEHEN, wovon andere nur träumen und oft nur aus zweiter Hand davon erfahren. Und dieser FJR weiß überhaupt nicht, WAS er da alles – und ganz aus eigener Kraft – schaffen, geschafft und miterleben durfte und konnte. Und er kann nicht begreifen, dass die anderen gar nicht begreifen KÖNNEN, was er da in seiner BURG oder seinen BURGEN, seinen Wohnungen zusammengetragen hat wie ein Bollwerk, sein um sich herum nachgebautes ‘wirkliches’ Selbst… Die andere Hälfte seiner Existenz, wie eine “Rüstung”: Das ist der immer Einsame, der sich stets übersehen und quasi als “Dienstbote” und “Emporkömmling” betrachtet empfindet, gestaltet – seine Riesenautos nicht zu vergessen – sowohl seine Kleidung als auch seine Wohnung geradezu fürstlich. Jugendstil – natürlich echter, an den Wänden erlesene Bilder – natürlich Originale. Die wenigsten Besucher haben überhaupt einen Blick dafür – sie können das alles, ebenso wie ihn selbst überhaupt nicht wahrnehmen.. Alles ist im doppelten Sinne Erlesen: Das, was JFR ausmacht und das, was er heimträgt.
Was ich an Heinrich Heine bewundere: Er kann GLEICHZEITIG lächeln, lachen, frohlocken und – weinen. Letztes wird bei Heine selten offen ausgesprochen. Bei FJR hingegen tut es fast weh, dass ihm das fehlt: das Lächeln wie das Lachen und wohl auch das Frohlocken. Das ungeheure Glücksgefühl – nur selten wird es ihm geschenkt – das habe ich vermisst. Etwas davon habe ich dann allerdings in der nach den TAGEBÜCHERN gelesenen KOLUMBIEN-REISE entdeckt: “Die Wirklichkeit der tropischen Mythen. Auf den Spuren von Gabriel García Márquez in Kolumbien “ (ganz ohne Champagner) und bis jetzt, zwischen den Zeilen in seinem RILKE-BUCH: “Rilke. Ein überzählinges Dasein.“ Im einen ist es das BEGREIFEN VON ETWAS, im anderen die PURE BEWUNDERUNG. Wie FJR überhaupt immer auf den “Spuren von …” unterwegs war, hellsichtig, einfühlsam und dann meisterhaft geschrieben.
Im Stillen frage ich mich auch, wie FJR das alles schaffen konnte: allein das Ausstaffieren und Versorgen seiner Wohnung ( eine halbe Stunde für das Arrangieren einer Orchideen-Blüte in einer – natürlich – Jugendstil-Vase), Tagesablauf und –reibereien, das schwärende „Dienstboten-Statusgefühl“, und Gäste, Reisen und Lesen, das Schreiben + die Vorbereitung dazu – natürlich immer minutiös, gründlich recherchiert, gefeilt. Besuchen und Besucht-Werden – auch die Anbetung und Benutzung schöner Jünglinge, Rauchen und Trinken – ohne darunter zusammenzubrechen. Aber es kommt im TAGEBUCH auch etwas Besonders auf: das BESTÄNDIGE: nur leise – wie ungläubig – notiert: GERD.
Aber: Wer werden die Leser des TAGESBUCHES sein? Die, die die Zeiten kannten = mehr und mehr bereits ‘in anderen Gefilden’. Was eindeutig im Personen-Register fehlt für die Nachgeborenen, ist bei jeder Person der Hinweis, Wann gelebt, Wer gewesen, WAS getan. Uns, ebenfalls auf die Abschussrampe – alle vertraut. Aber – was nach uns kommt, wird IMMER DÜMMER. Was sie schon in der Schule – nicht mehr – lernen, später kommen sie selten darauf, weil sie gar nicht wissen, dass dies und das nicht nur wichtig, sondern auch interessant sein könnte. Mit Entsetzen mehr und mehr beobachtbar. Wenn da nicht in ihrem Leben ein Donnerschlag kommt – ‘kommt nix mehr bei raus.’ Anders, als wir früher, fragen sie auch gar nicht. Nach nichts. Und mit dem Fragen fängt doch eigentlich alles erst an. Andere, “Greise” (auf Seite 541 bemängelt FJR, dass eine 73jährige „Greisin“ den US-Präsidenten empfängt!) Oder ist dieses Gefälle zu den Jüngeren, Nachkommenden normal im Gefälle der Generationen?
Man erschrickt, was in den Jahren der Tagebücher zwischen 1982 bis 2001 alles geschah, und jetzt, im Jahre 2011 bereits wie ausgelöscht ist. Verleger – mögen sie gewesen sein, wie sie nun mal waren – gibt es “heute” nahezu nicht mehr. Alles ist – nahezu fast über Nacht – mehr und mehr in Großkonzerne eingebaut, wird dort “gepflegt” und nach Kräften “gemolken”. Es ist schön, dass es dieses Tagebuch gibt, in dem das noch alles festgehalten ist, bevor es unterging. HEUTE – kaum noch Spuren von dem, was eben noch unsere Gegenwart war. Amorph geworden, grau – unsere Dichter sind alt geworden – sehr alt – und wo sind die Nachfolgenden? Ich höre nur Stille (aber wohl sinnbildlich sind meine Ohren etwas schlechter geworden) und daher klingt der Gegensatz dazu immer lauter: das Gekreisch der Regierenden wie Papageiengeschrei, und dumpf der Lärm derer, die sich immer häufiger dagegen wehren – irgendwann, so fürchte ich, werden sie die Papageien auf welche Weise auch immer, beseitigen wollen, wird DAS HALTEN VON PAPAGEIEN VERBOTEN.
Auch wenn Tagebücher eigentlich etwas Inwändiges sind, werden hier die Kulissen und Akteure meisterhaft, wenn auch holzschnittartig gezeichnet:
Von Rudolf Augstein bis Marion Dönhoff, von Günter Grass bis Hans Magnus Enzensberger zeigt es die deutschen Intellektuellen, ja überhaupt die ganze bundesrepublikanische Gesellschaft, wie sie so hellsichtig nie beschrieben worden ist: wahrgenommen mit dem Sensorium eines Hochempfindsamen, subjektiv und treffend, anteilnehmend, scharfzüngig.
Aus dem ‘Inwändigen’ ist – ohne dass es geplant war, das geworden, was Literaturkritiker von gegenwärtigen Autoren schon lange erwarten: das von den Schriftstellern aber nie geschrieben worden ist und vielleicht auch nicht geschrieben werden konnte: Der farbentrunkene Gesellschaftsroman der Bundesrepublik, das Balzac’sche Porträt unserer Zeit.
Und vermutlich war niemand so geeignet, es zu schreiben, wie Fritz J. Raddatz. In Deutschland ist er der widersprüchlichste Intellektuelle seiner Generation: anziehend durch seinen Witz, distanzierend durch seinen Eigensinn, geistreich, gebildet, streitbar und umstritten und immer, bei aller Geselligkeit, bestimmt von einer klaren Empfindung der Unzugehörigkeit. Sie ist auch die Entstehensbedingung dieser Aufzeichnungen, die von FJRs letzten Jahren als Feuilletonchef der ZEIT bis zum Beginn des neuen Jahrhunderts reichen und im Fall der Mauer, in der deutschen Wiedervereinigung, ihren kontroversenreichen Mittelpunkt haben.
Fritz J. Raddatz, Jahrgang 1931, in Hamburg lebender Publizist, war Programmleiter bei Rowohlt und Feuilletonchef der ZEIT. Er hat Romane, eine Autobiographie und ein umfangreiches essayistisches und biographisches Werk vorgelegt; auf seine Biographien und seine Essays zur Literatur möchte ich hier ganz besonders hinweisen: Sie sind mehr als lesenswert. (Trotz seiner frühzeitig einsetzenden Todesgedanken lebt er noch immer. – Nebenbei ist er auf andere Weise bereits unsterblich geworden.)
Ingeborg Gollwitzer
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