Thomas Bernhard privat als Nachbar und Freund wie ihn nur wenige kennen
Ein Muss für alle Freunde – aber auch Feinde? – von Thomas Bernhard

Thomas Bernhard

Dieser großformatige Bildband mit seinen über Hundert Fotos ist etwas ganz Wunderbares! In seinen drei Teilen versucht er Thomas Bernhard so nahe zu kommen, wie es bislang noch nie jemandem gelungen ist.

Der erste Teil folgt er den Spuren von Bernhards Kindheit und Jugend, wie man sie aus dessen mehrteiliger Autobiographie kennt. “Verführerische Schönheit und tödliche Bedrohung erscheinen Thomas Bernhard in Salzburg untrennbar verbunden: ‘Meine Heimatstadt ist in Wirklichkeit eine Todeskrankheit, in welche ihre Bewohner hineingezogen werden, und gehen sie nicht in dem entscheidenden Zeitpunkt weg, machen sie direkt oder indirekt früher oder später unter allen diesen Entsetzlichen Umständen entweder urplötzlich Selbstmord (… )’ ”

Ein düsterer Bildband über einen düsteren Autor? Mitnichten! Schon im zweiten Teil erleben wir einen ganz anderen Thomas Bernhard in seinen Häusern im oberösterreichischen Alpenvorland, in denen sich der menschenscheue Schriftsteller zunehmend vor der Umwelt abschloss: Im Vierkanthof in Ohlsdorf, erinem alten Bauerngehöft auf dem Grasberg bei Gmunden, dem abseits gelegenen Quirchtenhaus in Ottnang mit dem Blick auf Wolfsegg …

Und dort entdecken wir etwas Wunderbares: einen lächelnden, gelösten, heiteren Thomas Bernhard und die große Klarheit und Ordnung, die er umbauend in seinen Häusern verwirklicht hat. Thomas Bernhard – gelöst im Lieegstuhl. Für Sie unvorstellbar? “Ich bin mit allem zufrieden, restlos. Wahrscheinlich, weil ich so selbstzufrieden bin und so glücklich über alles. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ich bin durch und durch glücklich, von oben bis unten, von der linken Hans bis zur rechten, und das ist wie ein Kreuz. Und das ist das Schöne daran. Eine katholische Existenz. Ich wünsche jedem Menschen Religion und all das, weil das ist wunderbar. Es ist alles wie Rahmsuppe.”

Aber auch einige Bilder von Thomas Bernhard mit seinem ‘Lebensmenschen’ : ” Ich glaube, es gibt für jeden entscheidende Menschen. Ich hab zwei in meinem Leben gehabt. Meinen Großvater mütterlicherseits und dann einen Menschen, den ich ein Jahr vor dem Tod meiner Mutter kennengelernt habe. Das war eine Verbindung, die über 35 Jahre gedauert hat. Das war der Mensch, auf den alles, was mich betrifft, bezogen war, von dem ich alles gelernt habe.” Es handelt sich um Hede Stavianicek. Mit ihr verband ihn bis zu ihrem Tod 1984 eine innige Beziehung und Freundschaft. 1951 hatte er die um 35 Jahre ältere Frau während seines Aufenthalts in der Lungenheilstätte Grafenhof bei St. Veit im Pongau kennen gelernt. Die „Tante“ wurde für ihn zum Mutterersatz, führte ihn in die Wiener Gesellschaft ein und unternahm mit ihm erste Reisen. Ihren Tod verarbeitete er in dem Band Alte Meister als den Tod der Frau des Protagonisten und betonte auch sonst, wie viel er von ihr gelernt habe.

Jetzt habe ich – statt hier weiterzuschreiben – über eine Stunde damit zugebracht, erneut in diesem herrlichen Bildband zu blättern – Häuser haben zeitlebens für Thomas Bernhard eine große Rolle gespielt. Aber wir finden hier auch die herrliche Umgebung und wundervollen Aufnahmen: Von einer Welt, die er liebte und die ihn glücklich machte.

Im dritten Teil wird es nämlich auch wieder sehr interessant. Wir entdecken, dass Thomas Bernhard auch in seinen fiktionalen Texten von wirklich existierenden Orten ausgeht, mögen diese bei ihm zuweilen auch unter verändertem Namen erscheinen. Anhand der Bilder erkennen wir erstmals, dass Thomas Bernhard seine österreichische Umwelt – wie die Menschen, die in ihr lebten – sehr viel genauer gesehen hat, als oft vermutet wird. Plötzlich ‘sehen’ wir, dass Orte in der Prosa Thomas Bernhards eine entscheidende Rolle spielen. In dem auch diesem Teil vorangestellten Kapitel erfahren wir viel über die Art und Weise, in der Thomas Bernhard seine Umgebung in seinen Texen verwendet und vermischt. Das sind die Bilder zu FROST – d. h. die Vorbilder dazu. Darauf folgen Bilder zu VERSTÖRUNG, wo wir die Texte wieder finden, die, hat man sie einmal gelesen, einem nicht mehr aus dem Kopf gehen. Natürlich, obwohl wir das nie vermutet hätten, finden wir in den Bildern zu WATTEN alles, was dort beschrieben wird, wieder. ‘Ort’ von DAS KALKWERK sind die beiden 1968 stillgelegten, in den sechziger Jahren abgerissenen Kalkbrennereien am Traunsee … MIDlAND IN STILFS, der Besitz in Stilfs, in den sich die Geschwister der Erzählung zurückgezogen haben, ist von Verfall bedroht – AM ORTLER die zwei Brüder, im achtunvierzigsten bzw. einundfünfzigsten Jahr ihres Lebens stehend, der eine Wissenschaftler, der andere Artist, und beide mit ihrer Arbeit unzufrieden – wenn nicht an ihr verzweifelt – haben sich am Fuße der Ortlermassivs getroffen, dort wo sie als Kinder mit ihren Eltern den Aufstieg zum Ortler unternommen hatten … GEHEN – die Katastophe – das Verrücktwerden Karrers bereitet sich auf Spaziergängen durch die Straßen Wiens vor – auch sie finden wir hier wieder. KORREKTUR : Höller hat sein Haus direkt an die Engstelle der Aurach gebaut – hier ist sie wieder, und genau so steht sie in Bernhards Text. Ebenso finden wir – nun im Bild – all das wieder, was Bernhard in JA, DIE BILLIGESSER, WITTGENSTEINS NEFFE, DER UNTERGEHER, HOLZFÄLLEN, und AUSLÖSCHUNG zum Hintergrund seiner Berichte genommen hat.

Jeder, der Thomas Bernhard lesen UND verstehen will, sollte mit den Aufnahmen in diesem Bildband vertraut sein. Es wird ein ganz anderer Thomas Bernhard vor dem Leser entstehen: viel näher, viel vertrauter.

Ach, mit dieser Buchvorstellung bin ich beim Schreibe sehr langsam vorangekommen. Immer wieder habe ich mir den Bildband herbeigeholt – immer wieder werden auch Sie, wenn Sie ihn sich anschauen, Thomas Bernhard auf eigentümliche Weise näherkommen.

Was würde Thomas Bernhard über diesen Bildband wohl sagen? Wir wissen es nicht. Aber wir glauben, er hätte ihm gefallen. Er strahlt die Ruhe aus, die Bernhard zeitlebens gesucht und mit Beginn seiner Schriftstellerkarriere wohl nur in seinen oberösterreichischen Refugien gefunden hat. Den spartanisch, aber stilsicher restaurierten wie möblierten Vierkanthof in Ohlsdorf, die zentralen Stätten seiner Jugend sowie die Schauplätze seiner Romane können wir jetzt in einem hervorragenden Bildband besichtigen.

Aber ich bin auch restlos davon überzeugt, dass auch Sie, wenn Ihnen Thomas Bernhard in irgendeiner Weise interessant geworden ist, Ihre helle Freude daran haben werden. So etwas ist ganz selten: Dass man die Schauplätze einer Autors selbst zu sehen bekommt.

Übrigens: Die Fotos von Erika Schmied – sie ist Fotografin – sind charaktervoll wie unsentimental. Wieland Schmied war bis 1973 Direktor der Kestner-Gesellschaft Hannover und bis 1975 Hauptkustos der Nationalgalerie Berlin; 1978-86 Direktor des DAAD und 1986-94 Professor für Kunstgeschichte an der Akademie der bildenden Künste in München. Seit 1995 Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Zahlreiche Publikationen zur Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts. 1992 erhielt er den Österreichischen Staatspreis für Kulturpublizistik.

Erika und Wieland Schmied sind zwei von wenigen Menschen, denen es gegönnt war, Thomas Bernhard privat, als Nachbar und als Freund zu erleben. Ihr Bild von Thomas Bernhard stützt sich auf die Erinnerung an unzählige Begegnungen und gemeinsame Erlebnisse. Was den beiden hier als Synthese von Text und Bild gelungen ist, dafür gibt es nichts Vergleichbares.

Nein, ich habe Ihnen nicht zuviel versprochen! Ganz und gar nicht!

Ingeborg Gollwitzer