Große Literatur von den kleinen Leuten von Fürstenfelde

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Das ist nicht nur ein Kunstwerk – ein lange Vermisstes tut sich wie Neuland vor uns auf: Statt Dichter-Frust – nichts als Dichter-Lust .

Eine Worschatzlandschaft,  die in allen Farben glitzert und funkelt – und über allem ein freundliches, verschmitztes Lächeln. So wie das Bild, das die Malerin Frau Kranz für die Versteigerung bei dem Fest gemalt hat: “Es ist, als würden die Leute, pflanzengleich, überall dort aus dem Wasser sprießen, wohin unser Blick schweift. Fürstenfelde ist das.”  Was Frau Kranz da mit Farben gemalt hat – alle aus dem Dorf sind drauf! – hat Sasa Stanisic mit nichts als nur Wörtern gemalt: “Sie trauen uns die Ironie nicht zu”, schreibt er auf Seite 30 und beweist uns, wie und dass er es kann. Meisterhaft. Und immer wieder fällt er  durch seine unbändige Freude auf, einen Schatz gefunden zu haben: Einen Wort-Schatz. Wörter sind Kleinode!

“Es ist der Tag vor dem Fest. Unser Annenfest. Was wir feiern, weiß niemand so recht. Nichts jährt sich, nichts endet oder hat genau an diesem Tag begonnen. Die Heilige Anna ist irgendwann im Sommer, und die Heiligen sind uns heilig nicht mehr. Vielleicht feiern wir einfach, dass es das gibt: Fürstenfelde. [In der Uckermark] Und was wir uns davon erzählen. “ 

Über diese Ironie müssen wir jetzt reden. Sie entsteht bei ihm von selbst, einfach nur, weil er erschöpfend gründlich ist.  Gewissenhaft, präzise, penibel buchstäblich ist er mit seinen Worten: Er ist verliebt in die  exakt angemessenen Worte.  Er  ist sorgfältig wie ein Landvermesser, beschreibt etwas nur dann, wenn er richtig hingesehen hat und durchschaut; niemals übersieht er das Nicht-Offensichtliche. Hin und wieder muss er später etwas nachtragen oder ergänzen. Dann braucht man nur kurze, fast lakonische Sätze mit den genau passenden  Wörtern drin; keine Bandwurmsätze, die manche wie Netze auswerfen: Irgendwas von dem, das sie sagen wollten, wird schon drin sein.

Es ist die Nacht vor dem Fest im uckermärkischen Fürstenfelde. Das Dorf schläft. Und gleich im ersten Kapitel, sogar als erster Satz, die schlechte Nachricht: “Wir sind traurig. Wir haben keinen Fährmann mehr. Der Fährmann ist tot. Zwei Seen, kein Fährmann.” Überfluss und Mangel – unser Autor wird niemals müde, jede Angelegenheit von mehreren Seiten zu betrachten. So wird die vielfältige Bedeutung des Fährmanns durch das erklärt, das wegen des toten Fährmanns alles nicht mehr geht – oder eben von jetzt an  anders ist. Etwas aber ist geblieben: “Und die Seen sind wieder wild und dunkel und schauen sich um.”

Im zweiten Kapitel  erfahren wir, dass die Tankstelle dichtgemacht hat und Lada “hat heute zum dritten Mal binnen drei Monaten seinen Golf im Tiefen See geparkt. Hat das was mit der fehlenden Tankstelle zu tun? Nein. das hat was mit Lada zu tun. Und mit dem Uferweg, der sich hier prima für 200 km/h eignet theoretisch. .Außer Lada sind auch noch Johann (der beim Glöckner Glöckner lernt) und der stumme Suzi  am Ufer. Außerdem ist “WIR” überall mit dabei, der überaus genaue, wachsame Erzähler, der an den richtigen Stellen alles erwähnt, was erwähnenswert ist, weil man das eben wissen muss. Besonders das, was man von sich aus gar nicht hätte wissen können oder übersehen könnte.. So beispielsweise: “Fürstenfelde. Einwohnerzahl: ungerade. Unsere Jahreszeiten: Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Der Sommer hat die Nase klar vorn. Unser Sommer fällt kaum schlechter aus als am Mittelmeer. Statt Mittelmeer haben wir die Seen. Der Frühling ist nichts für Allergiker und nichts für Frau Schwermuth vom Haus der Heimat, die wird im Frühling depressiv. Der Herbst ist zweigeteilt in frühen Herbst und späten Herbst. (…) Die Geschichte des Winters in einem Dorf mit zwei Seen ist immer eine Geschichte, die anfängt, wenn die Seen gefrieren, und aufhört, wenn das Eis taut.”

Auf Seite 17 erklärt Lada das mit den Wölfen, weswegen er und Suzi  Wolfstätowierungen haben. “ ‘Die Wölfe kommen zurück.’ Er sprach sehr langsam. ‘Deutschland wieder Wolfsland. Aus Polen und Russland. Tausende Kilometer machen die. Herrliche Tiere. Jäger. Sag mal Rudel!’ ‘Rudel.’ ‘Hammer, oder? So eine Power in dem einen Wort! …” Damit erklärt uns der Autor auch sein Verhältnis zur Sprache. Es ist nicht seine Muttersprache und mit ihm aufgewachsen. Es ist die neue, die er erobert wie Kolumbus einst Amerika,  die ihn geradeso fasziniert, wie beispielsweise das Erzählen von Geschichten von Leuten, die in Fürstenfelde auf ihr Fest warten.

Auf Seite 18 gibt es weitere  wunderbare Worte mit Power. Vom Karpfen, der Futterneid empfinden kann, von den Hornissenmännchen die beim Begatten akkurat sterben. Und vom Specht, der im alten Wald  die Millisekunden unserer Sterblichkeit abmeißelt. Worte, überall wo man in Fürstenfelde genau hinsieht. Und in den meisten stecken weitere Geschichten.

Seit einem Jahr gibt es in Fürstenfelde (außer Gleis 1) auch Ullis Garage, in der außer einer Sitzgruppe und fünf Tischen auch ein Kalender mit Polinnen, die an Motorrädern lehnen, an die Wand genagelt ist,  “halb wegen der Ironie, halb wegen der Ästhetik.”  Es riecht  hier lieblich nach Motoröl. Überdies kann jeder bei Ulli  eine Geschichte von früher erzählen, wobei meistens die anderen zuhören.- Jeder kann bei Ulli  mehr sprechen und mehr meinen als sonstwo.

Auf Seite 22 begegnet uns, gleich mit dem ersten Satz, etwas Unerwartetes: “Unter einer Buche, am Rande des alten Waldes, liegt still auf dem Laub die Fähe.  Von dort, wo der Wald auf Felder trifft, Weizen, Gerste, Raps, sieht sie auf die kleine Ansammlung von Menschenbauten, die auf einem so schmalen Streifen Land zwischen zwei Seen stehen, als hätten die Menschen in ihrem unbändigen Willen, für sich das Angenehmste zu schaffen, aus einem Gewässer zwei geschnitten, um (…) Die Fähe ahnt die Zeit, da die Seen noch nicht existierten und keine Menschen hier ihr Revier hatten. Sie ahnt Eis, das die Erde horizontlang zu tragen hatten.  (…) In ihrem Schoß wiegen sich die zwei Gewässer, in ihrer Brust stecken die Wurzeln des alten Waldes, in dem die Fähe ihren Bau hat (…) …

Aber schon der erste Satz auf Seit 25 macht unsere Vermutung zunichte, jetzt kämen eventuell Tiergeschichten. “Und Herr Schramm, ehemaliger Oberstleutnant der NVA, dann Förster, jetzt Rentner und, weil es nicht reicht, schwarz bei ‘Von Blankenburg Landmaschinen’ schaut die Sportschau auf Sport 1 : Martina (19, Tschechin) macht Sport.  Martina spielt Billard. Herr Schramm ist ein kritischer Mann. (…) Er ärgert sich über Martina (19) – weil sie vor lauter Strippen die einfachsten Billardregeln nicht beherrscht. Weitere Information zu Herrn Schramm: “Ein großer Mann mit Haltung und Haltungsschaden, der nachdenkt.” Beispielsweise über den Begriff: ‘im Schnitt’.  Auch hat er vieles, “was er heute bereut, aus eigenem Antrieb getan. Das, worin Herr Schramm gut war, war Druck. Aushalten und ausüben. …) In Wilfried Schramms Haushalt finden sich im Schnitt mehr Gründe  gegen das Leben als gegen das Rauchen.”

Im ersten Satz auf Seite 28, mit dem auch ein neues Kapitel anfängt, erfahren wir mehr über WIR”. “Wir sind froh, Anna wird verbrannt. Morgen Abend beim Fest wird das Urteil vollstreckt: (…) Noch ist Zeit vor dem Fest. (…) Das Dorf kocht … Das Dorf sprüht Glasreiniger… das Dorf schmückt die Laternen … das Dorf bestuhlt … die Sitzordnung, brisantes Thema … Das Dorf putzt Schaufenster … das Dorf poliert die Felgen … Das Dorf duscht … Der Friseur würde den Umsatz seines Lebens machen, wenn es denn einen gäbe … aber wie das ablaufen soll – macht er Hausbesuche wie donnerstags der Arzt, oder baut er irgendwo zentral seinen Stuhl auf – … Wir wissen es nicht.

… Das Dorf schaltet die Fernseher aus … das Dorf flufft die Kissen auf, heute Nacht hat das Dorf kaum Geschlechtsverkehr. Das Dorf  geht heute früh zu Bett. …”

Geplant ist außerdem  ein Konzert afrikanischer Musik (aus Stuttgart!). Ebenso eine Auktion ‘Kunst und Kurioses’, wo u.a. ein Antiquarischer Globus (incl. Preußen)  zum Startpreis 1 Euro zu haben sein wird, wie auch eine VoPo-Uniform (mit Mütze, getragen) zum Startpreis 15 Euro.

Frau Kranz, die Malerin, ist unterwegs. “… gut gerüstet für die Nacht: Taschenlampe, Regencape, die Staffelei hat sie geschultert, zieht den Trolli mit ihrem alten Lederköfferchen hinter sich her. Unter dem Woldegker Tor nimmt sie einen Schluck aus der Thermoskanne, darin ist nicht nur Tee. Frau Kranz ist bestens gerüstet.”  [In der Thermoskanne ist übrigens Rum mit Fencheltee.]

Jetzt heißt es  aufhören, Ihnen von der besonderen Ironie des Stasa Stanisic zu berichten, ich beschränke mich da nur auf die ersten paar Seiten, weil er es auch bis Seite 316, der letzten Seite, durchhält.  In seinen Worten zusammengefasst:  “Die Nacht vor dem Fest ist eine eigenartige Zeit. Früher einmal wurde sie Die Zeit der Helden genannt. Wir hatten zwar mehr Opfer zu beklagen, als Helden zu feiern, aber gut, es schadet nicht, auch mal das Positive hervorzuheben.”

Mit einem – vielleicht veralteten – Begriff kann man – dafür aber sehr zutreffend – den Autor als Schalk oder Schelm bezeichnen. Das ist eine selten gewordene Kunst scheinbar kleiner, jedoch scharfzüngiger Genauigkeit,  brillant bemüht, kunstlos zu erscheinen. Fällt uns erstmal nicht auf, an  Schlagworte in ziemlicher Buchstabengröße gewöhnt;  je größer die Buchstaben, umso unanbezweifelbarer die Mitteilung. Dahinter der Standpunkt: Mehr kann man sich ohnehin nicht merken, braucht man also nicht zu wissen. Und bei Gedichten hackt man einfach nur die Zeilen irgendwo mittendurch. Lyrik hackt man.

Der Roman VOR DEM FEST ist aus vielerlei eindrücklichen, ziemlich unerwarteten  Puzzleteilen zusammengesetzt: Jedes für sich schon ein kleines Kunstwerk. Ein Glöckner und sein Lehrling wollen die Glocken läuten, das Problem ist bloß: die Glocken sind weg. Eine Füchsin sucht nach Eiern für ihre Jungen, und Herr Schramm, ein ehemaliger Oberst der NVA, findet mehr Gründe gegen das Leben als gegen das Rauchen. Neue Wörter werden wieder entdeckt und lebendig gemacht: Alte Geschichten, Sagen und Märchen ziehen mit den Menschen um die Häuser. Sie fügen sich zum Roman einer langen Nacht, zu einem Mosaik des Dorflebens: Alteingesessene und Zugezogene, Verstorbene und Lebende, Handwerker, Rentner und edle Räuber in Fußballtrikots. Das alles ist “WIR”.

Ein Blick auf die ersten Sätze der Kapitelanfänge (und denken wir uns vor jedem den Zusatz: In der Nacht vor dem Fest) zeigt, woher die Spannung und das Tempo dieses Buches kommen. Schon mit dem ersten Satz wird jeweils eine neue Rakete gezündet, dank der es, mit neuer Energie, weiter geht in dieser einen Nacht. Dass der Schauplatz nichts ist, als eines der vielen Dörfer im Abwärtstrend – man merkt das nicht.

Auf Seite 34: “Herr Gölow spendiert sechs Schweine für das Fest. Von den sechsen überlebt eins. Die Kita besichtigt morgen die Anlage, anschließend begnadigen die Kinder ein Schwein.
Wobei, was heißt begnadigen?”

Seite 48: “Johann knallt die Tür zu. Hat es zuhause nicht ausgehalten. Mu  [Frau Schwermuth] guckt wieder ihre Serien, und als er meinte, um Mitternacht müsse er raus, Glocken läuten, ist sie ein bisschen ausgetickt.”

Seite 57: “Imboden hat eine Geschichte von früher erzählen wollen, und die Garage hat ihn unterbrochen und erstmal ein bisschen verarscht.  (…) ein alter Mann, der sonst nicht viel sagt, mit einem kühlen Sterni in der Hand, dem Narrenstab, etwas sagt, das so beginnt: ‘Eine Schlägerei macht kein Fest besser, es sei denn, sie rettet es. Auch stimmt es nicht, dass früher besser gefeiert wurde. Die Zeiten waren bloß noch mieser. Je mieser die Zeiten, desto wichtiger das Feiern.’ “ Mit ‘früher’, meint Imboden, meinen alle, immer die gesamte Vorwendezeit.”

Seite 64: “Die Nacht trägt heute drei Livreen: Was War, Was Ist, Was wird geschehen. “

Souverän  beherrscht Stanisic seine neue Sprachemerke, ist auch die unsere! (Theodor Lewandowski hat mit seiner Schätzung:,  .„Der Gesamtwortbestand des Deutschen wird auf 5 bis 10 Millionen Wörter geschätzt.”  wohl noch zu tief gegriffen.) Stanisic aber hat mit seinem ‘Trick’, auch noch auf alte Chroniken und ‘Geschichten von früher’ zurückzugreifen, seiner Sprache noch eine weitere Dimension hinzugefügt:   “Im Jar 1587 um Ostern trug sich zu, daß deß Müllers Sau allhier beym Pranger am Tiefen See ein Wunderferkel gebar, denn es war dasselbe aller Gestalt nach wie ein Ferkel, hatte aber einen rechten Menschenkopff. (…) Aus den alten Geschichten gesellt sich nun auch der seinerzeitige Stadtherr Poppo von Blankenburg hinzu; sehr bereichernd für die ohnehin schon vielgestaltige Dorfgemeinschaft mit ihren wechselvollen Schicksalen .

Mehr als mancher andere hat Stanisic bei seiner Eroberung unseres WortSchatzes erkannt, dass unsere (Umgangs-)Sprache keine statische Größe ist, sondern in ständiger Veränderung begriffen, wo vieles in Vergessenheit geraten sein kann, das man nur im geeigneten Moment wieder hervorzuholen braucht: So eine Power in dem einen Wort! …”  oder: “… halb wegen der Ironie, halb wegen der Ästhetik.” 

Der Autor, gerade erst sechsunddreißig Jahre alt, kam als Flüchtling mit seiner Familie mit vierzehn Jahren (1992) nach Deutschland. Er hat die für ihn neue Sprache schnell erlernt. Das ‘Geschichtenerzählen’ war bereits in ihm drin. Schon ab 2000 finden wir seine ersten Veröffentlichungen in deutscher Sprache. An VOR DEM FEST hat er vier Jahre lang gearbeitet. Und das hat sich gelohnt!

Jetzt freut man sich regelrecht darauf: Was wird er als nächstes entdecken, um uns, souverän, spracherfinderisch und phantasiereich-gewitzt,  davon zu berichten? Denn: “ … es schadet [einem Text] nicht, auch mal das Positive hervorzuheben.”

 

Wer gern mehr über Sasa Stanisic wissen möchte: Bereits vor acht Jahren erschien sein erstes Buch: WIE DER SOLDAT DAS GRAMMOFON REPARIERT. Es erregte sofort großes Aufsehen und ist bereits in mehr als dreißig Sprachen übersetzt!

 

Vor dem Fest
von Stanisic, Sasa;
Gebunden
Roman. Ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2014 in der Kategorie Belletristik. 320 S. 215 mm 532g , in deutscher Sprache.
2014   Luchterhand Literaturverlag
ISBN 3-630-87243-3  ISBN 978-3-630-87243-8 |  19.99 EUR –