Roman von der Überforderung durch das Leben: Ironisch, witzig und böse

“Ach, wenn wir Tiere wären! Eine Ente im Park, ein freundlicher Hund auf dem Sofa! Ach, wenn wi die täglichen Zumutungen doch einfach gelassen übersehen könnten!!

Wilhelm Genazino erzählt ironisch, witzig und böse von einem Mann, der den Alltag nur ertragen kann, indem er das ordentliche Regelwerk durchbricht. Meisterhaft beschriebene trostlose Einsamkeit.

Wenn wir Tiere wären, hätten wir ein befreiteres Leben, weil wir nicht reflektieren müssten. Kein Tier denkt nach, das macht nur der Mensch, und in gewisser Weise liegt darin auch das Unglück des Menschen. Selbst wenn wir schon sehr oft über etwas nachgedacht haben, können wir nicht sagen: Also über diese Kacke habe ich mir schon tausend Mal den Kopf zerbrochen, ich höre jetzt damit auf. Nein, wir machen weiter. Wenn wir Tiere wären, wären wir von diesem Reflexionszwang befreit. Tiere haben nur zwei oder drei Grundbedürfnisse, alles andere ist ungeregelt.” sagt Genazino in einem Interview im Cicero Magazin vom 26. Juli 2011, und fährt fort: “Schon deswegen gibt es ja bis auf wenige Ausnahmen keine Paarbildung unter Tieren. Eine Ente paart sich mit irgendeiner anderen Ente, und auch Tauben bespringen sich mit einer meinen Neid hervorrufenden Gleichgültigkeit. Das kann man nur machen, wenn man von der Geißel des menschlichen Lebens befreit ist. Man muss das begrüßen.”

Seinem Protagonisten hängt nahezu alles zum Hals heraus: Das Leben in der modernen Welt verlangt zu viel: tägliche Anwesenheit am Arbeitsplatz, inklusive Engagement und freundlichem Gesicht, die Benutzung von Verkehrsmitteln und den Besuch von Supermärkten. Und dann auch noch das Privatleben. Unausweichlich kommt der Moment, in dem ein Mann nicht mehr weiterweiß – und ehe man sich’s versieht, sind es statt einer sogar drei Frauen. Ach, wenn wir doch Tiere wären und die täglichen Zumutungen einfach übersehen könnten! Diesmal ist sein Held ein freischaffender Architekt, der mit der typisch für Genazino’schen Geilheit ausgerüstet, durchs Leben zieht und alles als sinnlos und fragwürdig empfindet. Und das, das Hinter-Fragen auch der unsäglichsten Alltagsdinge: eine röchelnde Kaffeemaschine, ein Fertigsalat, eine Ente, die auf einem Bein stehend mitten auf der Straße eben schläft … überhaupt eben Tiere in der Stadt, all das macht seiner meisterhaft formulierten Sätze wegen auch dies Buch lesenswert.

Im gleichen Interview sagt er dann auch: “Meine Figur hat das Gefühl, von jeder Menge Lebensmüll umgeben zu sein, und kann dieses Gefühl wie die meisten von uns natürlich nirgendwo so recht festmachen, versucht aber, dem durch „Lebensersparnis“, durch die Vermeidung mehr oder weniger überflüssiger Verausgabungen beizukommen. Zum Beispiel will er nicht in Urlaub fahren, und als seine Freundin Maria ihn einmal zu zwei Wochen auf Gran Canaria einlädt, drängt er sie dazu, die Tickets zurückzugeben. Urlaub wäre für ihn schon eine krasse Form der Verschleuderung seiner Ressourcen, das ist nicht sein Lebensstil. Der Hauptertrag geht ins Geistliche oder Intellektuelle, in die Anschauung – in etwas, das den Kopf irgendwie beschäftigt, zum Beispiel die Beobachtung von Tieren, die sich leitmotivisch durch diesen Roman zieht. Es gibt eine Szene, in der er in einem Café in der Nähe des Büros sitzt und glücklich eine Wespe beobachtet, die im geringen Luftraum einer halb leer getrunkenen Tasse immer noch fliegen kann und dabei die für sie attraktiven Kakaostellen am Tasseninnenrand aufspürt. So müsste man leben können, denkt er: auf engstem Raum, gleichzeitig die Enge nicht empfindend, weil sie sogar noch etwas abwirft. Die Wespe empfindet überhaupt keinen Mangel, im Gegenteil”

Dennoch, langsam fragt man sich auch als geduldiger Leser: Könnte er nicht mal auf eine andere Lebensperspektive umsteigen und dort wieder mit seinen geschliffenen Sätzen erfreuen? Er ist nun Ende sechzig – und hat his hierher tatsächlich, obwohl er alles zum Kotzen findet, überlebt. Vielleicht sollte er sich mal den Kopf zerbrechen und schildern, wie das zustande kam, sein Überleben. Das wäre mal ein völlig neuer Genazino – worüber und worauf man wirklich neugierig sein könnte und wirklich mit Spannung lesen!

Ingeborg Gollwitzer


Zum Autor: Wilhelm Genazino, geb. 1943 in Mannheim, lebt heute als freier Schriftsteller in Heidelberg. 1998 erhielt er den ‘Großen Literaturpreis’ der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und 2004 den ‘Georg-Büchner-Preis’. 2007 wurde Wilhelm Genazino mit dem ‘Kleist-Preis’ und der ‘Corine’ ausgezeichnet. 2010 erhielt er den ‘Rinke-Sprachpreis’.