Wie Gene die Entwicklung steuern von Gehring, Walter J.;

Völlig neue Erkenntnisse: Die genetische (komplette!) ‘Bauanleitung’ des Tierkörpers (innen und außen) ist schon in der 1. Zelle enthalten. Ganz gleich, ob Fruchtfliege (Drosophila) oder Elefant – oder eben Mensch!)

ir3ywguaDieses Buch wird Sie überraschen, denn es entpuppt sich als außerordentlich spannend und lesenswert. Sozusagen Information aus erster Hand.  Es beschreibt die lange Reise eines Forschers ins Land der Entwicklungsbiologie.

Sie beginnt mit eigenartigen winzigen Taufliegen, die Beine statt Fühler auf dem Kopf tragen, und führt über die Isolation des betreffenden Gens, das infolge einer Mutation die Umwandlung von Fühlern in Beine hervorbringt, bis zur Entdeckung der Homeobox, einem kleinen Abschnitt der Erbsubstanz DNA.

Dieses kleine Stück DNA ist charakteristisch für homeotische Gene, die den Bauplan, die Architektur der Taufliege und allen höheren Organismen, einschließlich des Menschen, bestimmen.

Vor den in der Homeobox enthaltenen 180 Nukleotidpaaren, die die Natur hier bereits in der ersten Zelle eines Lebewesens bereit hält, könnte jeder, der beispielsweise einen Riesenbetrieb in allen Einzelheiten planen soll, nur den Hut ziehen.

Versammelt sind hier – lange in der Evolution festgelegte – Steuerungsgene, die darüber bestimmen, wann bestimmte Gene an- oder ausgeschaltet werden, aus denen dann ein vollständiger lebender Organismus entstehen  wird.

Oder wissenschaftlicher ausgedrückt:   Sie sind mitverantwortlich für die phänotypische Merkmalsausprägung bei lebenden Organismen, sie sind die sogenannten Hox-Gene (Steuergene). Sie steuern die Verteilung bestimmter Zellgruppen in einem bestimmten Areal des Körpers während der Embryonalentwicklung und sind als Hauptschalter für die Realisierung der Baupläne aller Tiere zuständig. Acht dieser sogenannten Hox-Gene wurden, dicht angeordnet, auf einem Chromosom gefunden. Die Besonderheit der Hox-Gene oder Homöotischen Gene ist die Tatsache, dass von ihnen mehrere andere, funktionell zusammenhängende Gene im Verlauf der Embryonalentwicklung bzw. Morphogenese gesteuert werden. Man kann Hox-Gene als übergeordnete genetische Informationsstruktur ansehen, da sie die Entwicklung nicht direkt, sondern durch Regulation anderer Gene steuern.

Sie sind eine Art genial eingerichteter Zukunftsplan, der völlig automatisch abläuft, sie sind stur: Nur An- oder Abschalten ist ihre jeweilige Aufgabe, mit der sie in mehr oder weniger langer Zeit ein vollständiges, lebendes Individuum ‘produzieren’. Sei es eine Taufliege oder ein ganzer Mensch.

Wie das funktioniert, sei kurz (wissenschaftlich) so erklärt: ‘Kurz nach der Befruchtung des Menschen teilen die Hox-Gene den menschlichen Körper, von Kopf bis Fuß, in verschiedene Segmente ein. Dabei sind schon Konturen eines entstehenden Organismus zu erkennen, aber man kann nicht sehen, ob es sich dabei um einen Menschen handelt oder nicht. Erst wenn sich Rückgrat und Gliedmaßen entwickeln, lässt sich feststellen, dass ein Mensch entsteht.

Die Gene sind normalerweise ziemlich groß und umfassen mehrere Hunderttausend Basenpaare der DNA. Charakteristischer Bestandteil eines Hox-Gens ist die Homöobox (engl. Homeobox), eine relativ kurze konservierte DNA-Sequenz, die eine DNA-bindende Homeodomäne  codiert, die bei verschiedenen Arten und Hox-Genen weitgehend gleich ist. Diese Homeodomäne ist bekannt für ihre Präsenz an Genen, die an der Koordinierung der Entwicklung in einer Vielzahl von Organismen beteiligt sind. Die von ihnen produzierten biochemischen Moleküle leiten Informationen kaskadenartig weiter und koordinieren so ihre Verwirklichung des im Erbgut verankerten Bauplans’’

Die Homeobox liefert einen Schlüssel zum Verständnis sowohl der Evolution, wie der Entwicklungsvorgänge, die vom befruchteten Ei bis zum erwachsenen Organismus führen. Die Homeobox enthält in verschlüsselter Form die Information zur Synthese der Homeodomäne, die nach dem genetischen Code aus der Sprache der Erbsubstanz in die Sprache der Proteine übersetzt wird.

Die Reise durch das Forscherleben Gehrings führt uns von den Antennenbeinen am Kopf der Taufliege Drosophila bis hinunter zu den molekularen Grundlagen, der atomaren Struktur der Homeodomäne.

Er zeigt, wieviel  Ausdauer und Phantasie, Triumph oder Niederlage ein Forscherleben Tag für Tag, Woche um Woche ausmacht

Im zweiten Teil der Reise befassen wir uns mit Problemen der Evolution, fragen nach dem historischen Ursprung der homeotischen Gene und der Baupläne der Tiere.

Besonders die Entdeckung des Master-Kontrollgens, das für die Entwicklung der Augen verantwortlich ist, fasziniert den Autor besonders – und buchstäblich bis zum Ende seines Lebens.  Dies wirft ein neues Licht auf die Evolution der verschiedenen Augentypen, einem alten Rätsel der Evolutionsbiologie, das bereits Darwin verunsichert hat .

Natürlich war der Weg dieser wissenschaftlichen Entdeckungsreise nicht so geradlinig, wie er in diesem Buch nachgezeichnet ist, sondern mit vielen Abzweigungen versehen, die entweder in die falsche Richtung oder in Sackgassen führten.

Obwohl dieses Buch alles andere ist als ein Lehrbuch für Laien, lohnt sich seine Lektüre. Was man beim ersten Lesen eventuell nicht versteht, überliest man einfach, bzw. bemüht sich eventuell ein zweites Mal darum, wo dann schon manches klarer wird.

Wie Gene die Entwicklung steuern
von Gehring, Walter J.;
Kartoniert
Die Geschichte der Homeobox. x, 276 S. 114 SW-Abb., 8 Farbabb., 244 mm 694g , in deutscher Sprache.
2000   Birkhäuser   ISBN 3-7643-6039-9  ISBN 978-3-7643-6039-9   49.95 EUR

 

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Und hier nun absolut für jeden Laien interessant

Das Basteln der Evolution, 2 Audio-CDs (122 Min.)
von Gehring, Walter J.;

Walter J. Gehring erzählt eine genetische Theorie der Entwicklung der Lebewesen.

Dies ist eine wahrhaft historische Aufnahme: Sie entstand 2014, was auch das Todesjahr des Autors war.

in breitem Schweizer Dialekt erzählt er sein Leben, als säße er vor Ihnen. Bewegt erzählt er sein Leben, beginnend mit den Kindertagen, als er zum ersten Mal mit dem Wunder der Metamorphose in Berührung kam. Er hatte verpuppte Schmetterlinge geschenkt bekommen und konnte einige Zeit später beobachten, wie sich aus den hässlichen Gebilden etwas so Wunderbares wie Schmetterlinge entfalteten. Ein Erlebnis, das man jedem Menschen im Laufe seines Lebens einmal wünschen würde.

Danach erzählt er einen Streifzug durch die Geschichte der Genetik, die einem so lebendig wird, als erlebte man alles selbst mit.

Aber bald kommt er auf jenes seltsame Gebilde, das er Nasobemia oder Antennopedia nannte: Eine Drosophila, die am Kopf statt der Fühler Beine hatte. Drosophila, die so viele Vorzüge hat,  wurde sein Liebslings-Modell bei nahezu all seinen Untersuchungen und Erprobungen.

Gegen Ende hat er einen breiten Raum für die Entwicklung der Augen, wo man endlich ein ganz einfaches Ausgangsmodell mit nur 2 Zellen  gefunden hat, von wo man sich die Weiterentwicklung nun vorstellen konnte. Etwas traurig wird man, wenn er am Ende auf eine hoffentlich noch lange Lebenszeit kommt, um noch weiter forschen zu können. Das wurde ihm wohl nicht mehr geschenkt. Immerhin ist aber nun erwiesen, dass auch die Augen nicht mehrfach unabhängig von einander auf der Erde entstanden sind.

Das Basteln der Evolution, 2 Audio-CDs
von Gehring, Walter J.;
Walter J. Gehring erzählt eine genetische Theorie der Entwicklung. 122 Min.. Konzeption und Regie: Sander, Klaus .   110g , in deutscher Sprache.
2014   Suppose Verlag ISBN 3-86385-007-6 ISBN 978-3-86385-007-4  22.80 EUR

 

Über den Autor:

Walter J. Gehring (*1939, † 2014) forschte und lehrte als Professor für Entwicklungsbiologie und Genetik von 1972 bis 2009 am Biozentrum Basel . Er war Mitglied der Nationalen Akademien der USA, Grossbritannien, Frankreich, Deutschland und Schweden sowie zahlreicher Berufsgesellschaften. Im Jahr 2000 erhielt er den Kyoto Preis für Grundlagenforschung und zwei Jähre später den Balzan Preis für Entwicklungsbiologie. 2010 wurde Gehring das Grosse Bundesverdienstkreuz mit Stern der Bundesrepublik Deutschland verliehen.