Erlebtes Alter(n) – ein auch schmerzlicher Lebensabschnitt – bewusst erlebt
Mit diesem Band haben wir nun 1600 Seiten Tagebücher – zusammen mit ‘Unruhestifter’[Autobiographie, auch weitgehend nach Tagebüchern] sind es gar mehr als 2000! Ganz gleich, was jetzt der eine oder andere Rezensent an ihnen findet: Ich vermute mal, dass diese 2000 Seiten es sein werden, die für künftige Generationen als ‘Das Werk’ von F.J.Raddatz gelten werden.
Und damit ist sein Platz in der deutschen Literaturgeschichte gesichert.
Wenn man gerade jetzt die Tagebücher II von FJR liest, kommt es schon etwas auf den Jahrgang des Lesers an, und je jünger die Leser sind. umso weniger werden sie vermutlich damit anfangen können.
Fragt an sich (oder vielleicht mich) , gerade jetzt,ob es sich lohnt, diese mehr als 700 Seiten des Tagebuch II zu lesen – muss man es uneingeschränkt empfehlen: Wer es jetzt liest, ist wenigstens (noch) sein Zeitgenosse, jedenfalls was den Zeitraum der Tagebücher anbelangt.
Der nun zweite Band seiner Tagebücher ist in einer Hinsicht nicht weniger ‘aufschlussreich’ als der erste, aber – auch stilistisch – nicht weniger beeindruckend. Es ist nicht nur der grandiose Abgesang eines ‘alten’ Menschen – mit Mitte achtzig ist man noch kein Zittergreis! – es ist aber zugleich eine ganze Generation, die jetzt zu Ende geht. Denn das war eine gewaltige Generation – und noch ist es unklar, was nun nachkommt.
Auch bei Raddatz sterben im Verlauf dieser Tagebücher einige ihm sehr nahestehende Menschen (Gottseidank nicht Grass!) aber doch: Rudolf Augstein, den er zu verachten gelernt hat, die verhasste Gräfin Dönhoff, deren ‘Widerstand’ er in Frage gestellt hat, Susan Sonntag, der Maler und Freund Paul Wunderlich, dessen Alt-Werden er zuvor bereits mitverfolgt hat, Walter Kempowski, auch dessen deutliches Altern hat ihn erschreckt, Joachim Fest, an dem er gerade unerwartet positive Seiten entdeckt hat und ganz am Ende der Tagebücher auch noch Peter Wappnewski. (Und derzeit, wo gerade Wolfgang Leonhard mit 93 und Peter Scholl-Latour, allerdings mit Neunzig, beides Urgesteine, überraschend verstorben sind, wird das seine Alters- und Todesangst wieder beflügelt haben.) Dabei sagen moderne Biologen, dass das Leben eines Menschen auf 120 Jahre angelegt ist – was zumindest mich beruhigt – vielleicht liest er es hier.
Es wird von ihm berichtet: “Auf, auf „, ruft Fritz J. Raddatz sich selber zu, als er sich 2008 in einem Münchner Hotel für die größte Party des Jahres umzieht, „ich habe noch gar nicht die Krawatte gebunden und bin schon enttäuscht.“ Das zeigt aber auch seine hervorstechenden Charakterzüge – denen eines gemeinsam ist: Alle sind sie – ganz gleich, wo sie deutlich werden – überproportional.
Bei FJR gilt das für alles: für seine Garderobe, für seine Wohnung, sein Bewirten von Gästen, seine persönliche Zuwendungen (oft nicht ‘fachgerecht’ gewürdigt) zu allen möglichen Gelegenheiten, seinen Jaguar (der ihn offensichtlich nie enttäuscht), für jeden, auch einfachen Gedanken oder Artikel, wohl aber bei den vielen anderen, die er zu Gast geladen hat mit großem Aufwand, den die meisten überhaupt nicht beachtet bzw. überhaupt bemerkt und schon gar nicht gewürdigt haben. Jedoch ist da wenigstens sein fürsorglicher, geduldiger Lebensgefährte Gerd – wohl sein Felsen in der Brandung.; es beglückt ihn auch der Gedanke, dass er für das Alter dieses Getreuen hervorragend gut vorgesorgt hat.
[Hier möchte ich ein paar Bemerkungen FJR’s einfügen, aus einem FAZ-Intervierw (29.10.12) zum Thema Stil:
Dem Stil verwandt ist der Geschmack. In welchem Verhältnis stehen die beiden zueinander?
Geschmack ist vielleicht ein etwas erweiterter Begriff. Geschmack in der Kunst heißt etwa, dass man weiß, Herr Damien Hirst ist kein Künstler, aber Picasso, so hört man jedenfalls immer wieder gerüchteweise, war einer. Oder in der Literatur, dass natürlich Fräulein Hegemann keine Schriftstellerin ist.
Warum sollte das, was Damien Hirst macht, keine Kunst sein?
Weil es mit dem, was Kunst eigentlich bedeutet, nämlich dem Menschen die Augen neu einsetzen, um ihn eine Phantasiewelt erfahren zu lassen, die über das Gewohnte hinausweist, nichts zu tun hat. Das ist Masche, nicht Kunst. So ist es auch mit einem Gedicht. Wenn etwa Herr Robert Gernhardt meint, es sei ganz toll, wenn er dichtet „den Mistkerl hab ich rangekriegt, er hat sie in den Mund gefickt“, dann kann ich nicht sagen, dass mir damit neue Welten erschlossen werden. Auch bei Mk geht es mir so. Wenn ich bei mir im Garten sitze und weit weg, in einem Park, wird diese Stampfmusik gespielt, dann denke ich: Sind da Bauarbeiten im Gange? Da kann mir niemand erzählen, dass Haydn oder Bach dasselbe war.
Sollte man sich, auch gegen den eigenen Geschmack, zu gutem Stil im Zweifel sogar zwingen lassen?
Alles, was Geschmack und Stil heißt, heißt auch Bildung und Erziehung, und Erziehung hat immer mit Zwang zu tun; das fängt schon beim Kind an. Jedenfalls muss man Geschmack und Stil lernen, und lernen kann man beides nur von jemandem, der etwas davon versteht. Ich fange nicht an, als Zwölfjähriger Thomas Mann zu lesen, sondern es muss mir jemand sagen: Lies mal und fang nicht gleich mit den „Buddenbrooks“ an, sondern mit „Tonio Kröger“, dann kommst du allmählich rein. So bilden sich Geschmack und Stil. Ich kenne Menschen, die zum Beispiel in meinem Hause tätig sind, Hilfskräfte, die sagen, ja, das ist alles wunderbar, es hat uns aber keiner beigebracht, ich verstehe so ein, sagen wir mal: Dix-Bild gar nicht. Dix ist ja nicht hübsch, das sind keine Seerosen. Also man muss verstehen lernen, warum Dix eine von Drogen zerfressene Prostituierte gemalt hat und was daran trotzdem schön ist, nicht als Sujet, sondern als Malerei. Das kann natürlich der Hausmeister nicht wissen, weil er es nicht gelernt hat.
…Also: Es ist ein Erziehungsprozess, dem man sich aber öffnen muss, und mein Monitum ist, dass sich die meisten Menschen heute dagegen versperren, oder, schlimmer, ihnen eine Sperre ins Gehirn gebaut wird durch Medien, durch dieses grauenvolle Angebot im Fernsehen, das die Gehirne verschlampt und verschlammt
Normalerweise ziehe ich mich zum Abendessen an oder um. Mein Tageslauf ist sehr streng reguliert: Nach dem Schwimmen Frühstück, nach dem Frühstück Arbeit, Briefe beantworten zum Beispiel, danach Schreibtisch. Ich esse nie zu Mittag, diese Mahlzeit kenne ich gar nicht, ich esse aber richtig zu Abend, entweder im Speisezimmer oder im Garten, je nach Wetter. Und normalerweise ziehe ich mich dann um, auch wenn ich alleine esse, und decke mir den Tisch mit Blumen oder einer Kerze, oder ich höre Musik dabei.
Das Interview ist sehr viel länger (steht nicht im Tagebuch), kennzeichnet aber die Person FJR bis auf den Mantelknopf. Sie können es vollständig nachlesen: FAZ Gespräch mit FJR
Kommen wir nochmals auf sein Überproportionales zurück. Ein Leben lang hat er überproportional erlebt und gestaltet. Erst der Missbrauch des Zehnjährigen durch den Stiefvater, später ebenso durch den ‘Väterlichen Freund’, obendrein noch Pastor seines Zeichens. Auch jetzt noch, alt geworden, ist ihm alles gegenwärtig. Warum ist gerade ihm das alles passiert? Es gibt keine Antwort – die Frage bleibt.
Raddatz legt seine Grundlagen, studiert Germanistik, Geschichte, Theaterwissenshaft, Kunstgeschichte und Amerikanistik, dann folgen Promotion und Habilitation. Und das alles – teilweise ‘nebenher’ – bis 1971! Mit zwanzig: schreiben für die die Berliner Zeitung, von 1953 bis 1958 Leiter und stellvertretender Cheflektor beim sagenhaften DDR-Verlag Volk und Welt – über dessen ‘Abwicklung’ schreibt er 2001 in der ZEIT.
Der nächste ‘große Sprung’1960 Cheflektor und stellvertretender Verlagsleiter beim Rowohlt-Verlag unter Heinrich Maria Ledig-Rowohlt. Der war auch ein Urgestein, und um ihn herum all die anderen: produktiv, gewaltig, oft maßlos und laut prägten sie eine ganze Epoche – Raddatz hat sie alle in seinen Erinnerungen so plastisch beschrieben, dass man sie förmlich spüren kann.
Und dann kam wieder ein Sprung: Von 1976 bis 1985 war er Leiter des Feuilletons der Zeit, die unter seiner Leitung zum weltoffensten & brillantesten Feuilleton der Bundesrepublik wurde. Dazu will ich Ihnen wenigstens einen Abschnitt aus einem Glückwunsch-Artikel zum achtzigsten FJR’s: von “(…) Wie er ja auch sonst mit geradezu ungeheurer Geschwindigkeit und mit all seinen Nüstern aufnahm, was der Geist der Zeit in den nationalen wie internationalen Zeitschriften enthüllte oder verriet. Er arbeitete simultan, er war gleichzeitig überall, er redete heute mit Enzensberger oder Cioran, morgen mit Kempowski oder Vargas Llosa, während er nebenbei einen Aufmacher diktierte und Honoraranweisungen unterschrieb. Es war diese Selbstüberbietung, dieser enthusiastische und eben auch enthusiasmierende Steigerungswunsch, der mich mitriss und nicht nur mich allein, sondern die gesamte Redaktion der ZEIT .”
FJR’s Ende bei der Zeit war ebenso explosionsartig, wie manches in seinem Leben. Theo Sommer erinnert das (übrigens anders als FJR selbst: “ (…) Aber dann schrieb Raddatz im Oktober 1985 einen Titelseitenkommentar zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse, in dem er eine angebliche Goethe-Beschreibung des früheren Messegeländes zitierte: „Man begann damals, das Gebiet hinter dem Bahnhof zu verändern.“ Ein hämisches Lachen ging durch die Republik, denn die erste deutsche Eisenbahn fuhr erst drei Jahre nach Goethes Tod. Nun schlug Bucerius zu. Eine Lappalie, die der Bucerius-Sentenz entsprach: „Nur wer nie schreibt, schreibt nie etwas Falsches.“ Aber sie reichte als Anlass zum Bruch” der sich schon lange zuvor angebahnt hatte. Eigentlich war es eine Lappalie, ein Flüchtigkeitsfehler. Aber einer, der wehtat.
Ich hab das zur Erläuterung nochmal aufgezählt. und sicher noch viel zu viel vergessen, so zum Beispiel FJR und Tucholsky, die Tucholsky-Gesellschaft und deren Ende. … Das ist der Kosmos, in dessen Inneren FJR’s Erinnerungen sich bewegen. .
All das ist – wenn man diesem zweiten Tagebuch glaubt – für Raddatz ganz gegenwärtig und ebenso gleichzeitig irgendwie plötzlich vorbei.
Plötzlich ist er wie gelandet auf einem anderen Stern, bei den neuen ‘Größen’ muss er oft fragen, um wen es sich dabei handelt. Und die Letzten aus seiner Zeit – sie sterben auch so nach und nach. Bald wird sich niemand an sie erinnern – ein Zeitalter bricht regelrecht ab – riesige Eisbrocken lösen sich von ihrem Gletscher, schwimmen, sich auflösend, irgendwohin in Unbekanntes.
Dennoch bleibt er weiterhin überproportional: Der Ton einer schonungslosen Selbstbeobachtung, die gleichzeitige Beobachtung anderer, (angeschlagen bereits in den 2010 erschienenen „Tagebüchern 1982 2001“,) setzt sich in diesem zweiten Band fort: noch klarer, schärfer, doch immer wieder, wie zum Ausgleich, auch mit einem Einschlag ins Komisch-Ironische: “Da schluchzt einer im tiefgekühlten Jaguar und holt sich 1000 Euro von der Bank” .
Übertreibendes und rigoros Selbstironisches. In der Form freier als zuvor, fügt Raddatz jetzt Monologe, kurze Telefon-Dramen, Essays und Porträt-Miniaturen in den Text ein.
Und neue Namen tauchen auf: nicht mehr nur Hochhuth, Enzensberger und Grass, sondern auch Joachim Fest, Katharina Thalbach, aus der Erinnerung Klaus Mann und etliche andere.
Weiterhin geht es um ein Bild der guten Gesellschaft, um die Frage: „Wie leben die Deutschen?“; weiterhin um die entstehende Einheit von Ost und West, doch mittlerweile, und mit zunehmender Wut, auch um die amerikanische Politik: den Krieg im Irak, die Lügen der Administration, Guantanamo, für Raddatz die schmerzliche Revision einer Lebensüberzeugung vom zuvor geliebten Amerika.
Das Erscheinen des ersten Bandes dieser Tagebücher war ein literarisches Ereignis, man hat das Buch „den großen Gesellschaftsroman der Bundesrepublik“ und „ein kaum erträgliches Kunstwerk“ genannt. Hier ist Band 2: auf derselben Höhe, mit demselben Feuer.
Ich merke es eben besonders, als ich den Band nochmals zur Hand nehme, um vielleicht irgend etwas zum Zitieren zu finden: Sofort liest man sich fest, kann nicht aufhören und bewundert beides: Den geschliffenen Stil, und wie prägnant FJR Situationen und Stimmungen heraufbeschwört. Und Bilder.
Aber noch etwas wird einen ergreifen, denkt man über dieses Tagebuch nach …
Heute ist der 7. Oktober 2014 .Siegfried Lenz ist eben mit 88 Jahren gestorben. Man hatte ihm sein Alter angesehen und ich meine, er müsse weise sein wie Methusalem. Jedenfalls stellte man sich ihn lebenssatt vor. Raddatz ist alles andere als lebens-satt – er ist noch immer hungrig; vielleicht etwas wie ein älterer Wolf.
Nun weiß ich, was einem beim Tagebuch II – das man auch – bei vielen Eintragungen – als eine wunderbare Sammlung abgeschlossener Essays betrachten kann: Er lebte – wie kaum ein anderer – auf gleich drei Erdteilen gleichzeitig. Denken Sie an sein FAZ-Interview zum Stichwort Stil: das war noch 19. Jahrhundert, womit er schon im Zwanzigsten und erst in 21. Jahrhundert gleichzeitig in so vielen Zeitläuften sich ebenso heimisch fühlte – wie aber auch heimatlos zu sein verdammt war.
Eben lese ich in seinem Tagebuch II seinen zornig bitteren Kommentar über den Band ‘Hundert Jahre Rowohlt’. Über ihn nur so viel wie über eine nebensächliche Randfigur und auch noch von einem in seinen Augen unwesentlichem jüngeren Schreiberling. Was weiß so jemand schon von der FJR-Zeit bei Rowohlt??
Mit einem Zitat von Peter von Matt – ( im völlig anderem Zusammenhang, der absolut nichts mit Raddatz zu tun hat, sondern ausgerechnet über … Goethes Heidenröslein , 3. Strophe…), möchte ich hier dennoch mit diesem Zitat enden, weil hier nichts besser passt:
“… Es ist ein schauerlich barbarischer Gesang…” ….
Fritz J. Raddatz, geb. 1931 in Berlin, 1960-69 stellvertretender Leiter des Rowohlt Verlags, 1977-85 Feuilletonchef der Zeit, von 1969- 2011 Vorsitzender der Kurt-Tucholsky- Stiftung. 2010 wurde er mit dem Hildegard-von-Bingen-Preis für Publizistik geehrt..
Tagebücher 2002 – 2012
von Raddatz, Fritz J.;
Gebunden
2. Aufl. 720 S. 215 mm 862g , in deutscher Sprache.
2014 Rowohlt, Reinbek
ISBN 3-498-05797-9 24.95 EUR –
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