Wenn Eltern die Erinnerung verlieren – müssen Kinder erwachsen werden und gelegentlich auch kämpfen –
Ein nicht nur wehmütig-heiteres, sondern auch sehr ernstes und überaus nützliches Buch

2gtt1b5u

Natürlich hatten die beiden Schwestern schon länger gewisse Veränderungen bei ihrem 86Jährigen Vater bemerkt. Aber alles war überaus praktisch aufgeteilt: Der Vater lebte (in seinem) Haus nahezu Haus an Haus mit der Jüngeren seiner Töchter, sodass die Autorin unbesorgt ziemlich weit weg in Hamburg leben und arbeiten konnte.  Zudem zwei (lettische) Pflegerinnen im 24-Stunden-Dienst. Allerdings macht die jüngere Schwester gerade Urlaub in Afrika – wo das Netz oft schlecht ist. Aber ihr ist kein Vorwurf zu machen: Zuhause ist ja für alles nur irgendwie Erdenkliche ‘wasserdicht’ vorgesorgt. Zudem schaut die Ältere alle paar Tage vorbei.

Und dann Anruft der dortigen Polizei, dessen Inhalt sich auch wirkungsvoll bei einem Krimi-Anfang ausgemacht hätte: Die Pflegerin liegt  besinnungslos, weil stockbetrunken, in ihrem – – Erbrochenen im Wohnzimmer auf dem Fußboden. Musste ins Krankenhaus gebracht werden. Den Vater hatte eine Nachbarin ins Bett gebracht. 

Wie heißt es so schön: “Unverhofft kommt oft”

In diesem sehr persönlichen Buch erzählt die bekannte Moderatorin Bettina Tietjen von der Demenzerkrankung ihres Vaters, vom ersten „Tüdeln“ bis zur totalen Orientierungslosigkeit.

Beim Lesen habe ich mir gewünscht, es hätte diesen Bericht  schon einige Jahre früher gegeben, nämlich, als es bei meiner Mutter ‘soweit’ war. Damals sagte mir mein ‘Bauchgefühl’, dass sie eigentlich in ein Heim in meiner Nähe müsse. Eigensinnig, wie sie war, bestand sie auf einem angeblich spezialisierten Heim ziemlich weit weg – und von allen  Eigensinn-Entschlüssen ihres Lebens war dies sicherlich der dümmste – schließlich endete sie – halbtot – dann doch bei uns – gleich in der Pflegestation.

Offen und liebevoll beschreibt Bettina Tietjen  die Achterbahn ihrer Gefühle, einen geliebten Menschen – eben stückweise – zu verlieren, aber auch ganz neu kennenzulernen, und sie schildert auch die vielen komischen Momente, die sich nun ergeben,  in denen sie trotz allem herzhaft zusammen lachen konnten.

Jedoch musste Bettina Tietjen nicht nur lernen, dass Demenz ein Zustand ist, der ganz allmählich von einem vertrauten Menschen Besitz ergreift. Zuerst merkt man es nicht, dann will man es nicht wahrhaben. Schließlich muss man lernen, es zu akzeptieren. Denn trotz aller Herausforderungen ist Bettina Tietjen überzeugt: Demenz ist nicht nur zum Heulen, sondern kann auch Denkanstoß und Kraftquell sein. Aber auch, dass man sehr viel Kraft nötig hat und wie Haut und Nerven immer dünner werden.

Wöchentlich nur zweimal Duschen! Ein Beispiel von vielen – woran man sieht: es ist kein sentimentales, sondern auch in vielerlei Hinsicht sehr lesenswertes Buch. Man kann daraus lernen, wie überaus wachsam man sein muss, auch wenn es ein sehr sorgfältig geführtes Heim ist, wo der Vater untergebracht worden war. Man erfährt, dass es wegen der sekundengenauen Pflegestufe restlos unmöglich ist, den Vater jeden Tag zu duschen: Zweimal wöchentlich – mehr geht nicht. Aber es ist, Pflegestufe hin, Pflegestufe her, auch nicht hinzunehmen, wenn der Vater um die Mittagszeit weder gekämmt, noch gewaschen, noch zähnegeputzt ist. Die Dokumentationspflicht des Pflegepersonals hat natürlich – so zeitraubend sie ist – auch den Vorteil, dass man feststellen, wer wann eingeteilt war und was dabei alles gemacht wurde. In diesem Buch kann man ebenfalls lernen, dass man selbstsicher und höflich auf der Einhaltung gewisser Grundsätze bestehen kann – und muss.

Indes kann man auch lernen, den Diskussionen über die Notwendigkeit, viel mehr und vor allem gut ausgebildetes und besser bezahltes Pflegepersonal anzustreben, aufmerksamer zu folgen und die Regierung nachdrücklicher dazu zu drängen, hier nun Abhilfe zu schaffen.

Man muss bedenken, dass nicht jeder die Fernsehmoderatorin Bettina Tietjen ist, die gewohnt ist, sich nachdrücklicher Gehör zu verschaffen. Deren Nähe zum Riesenmedium Fernsehen man obendrein respektvoll einkalkuliert. Der man nicht – wie es mir passiert ist – androht, der Mutter den Pflegeplatz zu kündigen wegen der aufmüpfigen Beschwerden. (Ob das überhaupt möglich ist, weiß ich bis heute nicht!) Jedenfalls ließ man aber zu meiner Zeit die Patientin sofort für unsere ‘Bitten’ – trotz des reichlichen Trinkgeldes – ganz einfach büßen. Das geht ja leicht und ist dann ein ‘Versehen’: Klingel ausstöpseln, die Stromzufuhr zum Fernsehen aus dem Stecker, Falsche Medikamente und heimlich verabreichtes Sedativum. Beweise und Verhindere sowas einmal!.  …

Dass es auch besser geht, berichtet die Autorin hier. Sie   macht den Leser auch mit dem Gedanken vertraut, dass der Wohnbereich in einem Heim mit überwiegend Dementen durchaus keine Vorstufe zu Hölle sein muss – was allerdings eng von der Einstellung der Leitung des Hauses und von der Erfahrung des Pflegepersonals abhängig ist.

Aber kurz vor Ende des Buches kommt noch eine Begebenheit, die ich mit meiner Mutter fast spiegelgleich erlebt habe: Innerhalb eines Jahres musste der Vater der Autorin  mit Fieber und Lungenentzündung bereits zum vierten Mal ins Krankenhaus. Er war vollkommen dehydrriert,  was man leicht schon am Zustand der Haut feststellen kann. Im Krankenhaus vermutete man, er habe nicht genug getrunken, was bei älteren Menschen leicht vorkommt.
Aber diesmal kam die Heimleiterin selbst anhand der ‘Dokumentation’ auf den wahren Grund, dem dann ein Telefonat mit der Autorin folgte:
“(…) Aber weshalb ich anrufe: Ich habe gestern entdeckt, dass Ihr Vater die ganzen vier Wochen täglich diese hoch dosierten Entwässerungstabletten bekommen hat. Der Arzt hat das Rezept [hier im Heim] offensichtlich blindlings immer wieder verlängert. Da ist es natürlich kein Wunder, dass er [der alte Mann] dehydriert ist. Die Tabletten haben ihm das Wasser förmlich aus dem Körper gezogen. Und das bei dieser Hitze! (…) – -„

Schon die erste Diagnose – bei einem der vorherigen Krankenhausaufenthalte – war vermutlich unkorrekt, bzw. die damals von einer Notärztin verordnete Medikation schlicht falsch. Menschliches Versagen war es aber, dass die Tabletten blindlings immer wieder verordnet wurden: Vom Heimarzt blindlings verlängert und vom Pflegepersonal schlicht übersehen!

Und das ist eins der vielen Ereignisse, weswegen ich dieses Buch ausdrücklich jedem empfehle. Nahezu jeder kommt einmal für sich selbst oder für einen Angehörigen in die Lage, sich um den letzten Lebensabschnitt kümmern zu müssen.Und dass man wissen muss: Es ist nahezu unmöglich, in einem Heim 24 Stunden in einem Paket „Rundherum sorglos versorgt und behütet“ aufgehoben zu sein.  Da braucht man immer jemanden mit wachsamen Augen und Selbstsicherheit!

Diese Vorsorge muss auf zwei Ebenen ansetzen:
Erstens muss man sich in allen Einzelheiten darüber informieren, was da so am Ende des Lebens alles passieren kann – und sich persönlich dafür entscheiden, wie man in einer (bzw seiner) Patienten-Verfügung darüber bestimmen soll und muss!
Zweitens aber auch, wie man im Falle eines Angehörigen für dessen berechtigte Ansprüche eintreten kann und muss.

Drittens gilt es, nicht locker zu lassen, die Politik geradezu dazu zu zwingen, hier für menschenwürdigere Zustände (auch in den Heimen) Sorge zu tragen: genügend gut ausgebildetes und ausreichend bezahltes Pflegepersonal muss eine der obersten Prioritäten sein, D.h. werden! Sonntagsreden dürfen Altern und Sterben nicht geradezu zu verhohnepiepeln. Es  darf auch keinen Ringkampf mit Krankenkassen geben, wenn man ‘etwas beantragen’ muss, weil das Altsein und menschenwürdiges Sterben eben auch ziemlich teuer werden können. Nicht zuletzt aber auch, dass man verständnisvoller und sinnvoller mit der Patienten-Vorsorgebestimmung  generell, aber auch hinsichtlich Sterbehilfe umgeht.

Derzeit erleben wir nichts anderes als blankes Versagen unserer Politik, wohl, weil dort zu wenig 90Jährige die Dringlichkeiten vorantreiben. Oder aber, ist nicht allen ausreichend bewusst, was es mit der Würde des Menschen so auf sich hat?

Die gilt für jede Sekunde des menschlichen Lebens!

Über die Autorin:

Bettina Tietjen, geboren 1960, arbeitete nach ihrem Germanistik- und Romanistik-Studium als Reporterin, Autorin und Moderatorin für RIAS Berlin, die Deutsche Welle, den WDR, NDR und verschiedene Printmedien. Sie moderierte u.a. das RIAS-Frühstücksfernsehen, das DW-Journal und die „Aktuelle Stunde“ im WDR. Seit 1993 ist sie beim NDR Gastgeberin auf dem Roten Sofa der Sendung „DAS!“, einmal im Monat talkt sie mit Eckart von Hirschhausen bei „Tietjen und Hirschhausen“, im Quiz „Wer hat s gesehen?“ amüsiert sie sich mit prominenten Kandidaten über kultige TV-Momente und wenn es mit ihrem Lieblings-Fernsehkoch Rainer Sass was Leckeres zu brutzeln gibt, dann bindet sie sich auch gern mal die Schürze um. Seit 2008 gibt s den Sonntags-Radio-Talk „Tietjen talkt“ bei NDR 2. Bettina Tietjen ist verheiratet, lebt in Hamburg und hat zwei Kinder.

Unter Tränen gelacht
von Tietjen, Bettina;
Gebunden
Mein Vater, die Demenz und ich. 304 S. m. 4 SW- u. 17 Farbabb. sowie 10 Zeichn.
2015   Piper
ISBN 3-492-05642-3
ISBN 978-3-492-05642-7 19.99 EUR – .